„Wir brauchen einen New Deal“

Der Kulturmanager Folkert Uhde meint, die Kulturszene sollte die Corona-Zwangspause nutzen, um ganz anders weiterzumachen
Folkert Uhde im Gespräch mit zeitzeichen
Foto: Rolf Zöllner
Kulturmanager Folkert Uhde, 55, beim Gespräch mit zeitzeichen am 15. Dezember 2020 in der zeitzeichen-Redaktion in Berlin.

Besonders die Kulturszene wurde 2020 von Corona kalt erwischt. Folkert Uhde war früher selbst Profimusiker und ist seit vielen Jahren als Kulturmanager tätig. Im zeitzeichen-Gespräch blickt er auf sein Corona-Jahr 2020 zurück und sagt: Die Kulturszene muss sich ändern – es braucht eine Art New Deal.

zeitzeichen: Wie hat der Kulturmanager Folkert Uhde die Zeit der Corona-Einschränkung bisher erlebt?

FOLKERT UHDE: Wie die meisten anderen in unserer Branche in verschiedenen Stadien. Ende Februar 2020 lief gerade mein Festival „Monforter Zwischentöne“ in Österreich. Da war die Pandemie schon sehr präsent, sie wütete bereits im Nachbarland Italien. Wir haben viel darüber geredet, aber hatten natürlich keine Ahnung, was für Dimensionen das alles für uns annehmen wird. In der ersten Märzhälfte fand noch alles statt, aber dann kam der erste Lockdown und die traditionelle Veranstaltung zum Bachs Geburtstag am 21. März in Köthen haben wir dann schon aus einem kleinen Salon im sogenannten „Prinzenhaus“ ohne Publikum gestreamt. Zunächst haben wir so versucht, dagegen anzugehen. Es war Passions- und Osterzeit, also Hochsaison für viele Soloselbständige. Was können wir tun, wenn die Einnahmen wegbrechen? Ich habe zusammen mit Kollegen Papiere geschrieben für die Bundesregierung, Handlungsempfehlungen, die leider so nicht umgesetzt wurden. Und dann war da ein großes Loch, eine große Depression, in der ich mich wirklich gefragt habe, ob ich nicht meinen alten Beruf als Radio- und Fernsehtechniker wieder reaktivieren muss, weil das, was seit etwa einem Vierteljahrhundert mein Beruf ist, nämlich Menschen an einem Ort zusammenzubringen und für sie etwas zu gestalten, schlicht nicht mehr ging.

Sehr schnell wurde klar, dass viele Musiker, anders als andere Beschäftigte in Deutschland in Großunternehmen, in Verwaltungen oder ähnliches, so etwas wie Kurzarbeitergeld nicht bekommen. Wie ist jetzt, nach fast einem Jahr, das staatliche Handeln auf diesem Feld zu beurteilen?

FOLKERT UHDE: In einigen Bundesländern wurde rasch Hilfe geleistet. In Berlin gab es für einen kurzen Zeitraum sehr unbürokratisch 5000 Euro Soforthilfe. Das war hervorragend, jedenfalls für einen kurzen Moment, um den Schock abzumildern. Aber das gab es längst nicht in jedem Bundesland, und bis jetzt gibt für Soloselbständige nicht so etwas wie ein Kurzarbeitergeld, also einen Ersatz für ausgefallenes Einkommen durch Honorare. Und schon bald wurde uns auch bewusst, wie dysfunktional eigentlich unser System schon vor der Krise war.

Inwiefern dysfunktional?

FOLKERT UHDE: Dysfunktional in Bezug auf unsere soziale Absicherung. In Belgien und Frankreich zum Beispiel sind freiberufliche Künstler*innen grundsätzlich auch in der Arbeitslosenversicherung. Wenn sie zwischen zwei Projekten keine Arbeit haben, bekommen sie Arbeitslosengeld. Deshalb sind viele Kolleg*innen dort bisher besser durch die Krise gekommen. Natürlich entstehen dort seit jeher auch höhere Kosten, denn die Beiträge müssen ja finanziert werden. Aber trotzdem sollte man sich dieses Modell für Deutschland mal ganz dringend anschauen!

Haben den Soloselbständige in Deutschland bisher gar keine Absicherung?

FOLKERT UHDE:Es gibt die Künstlersozialkasse – aber deren Kategorien sind veraltet. Die wurden vor fast vierzig Jahren festgelegt und sind für die heutigen Berufsprofile in der freien Künstlerszene größtenteils ungeeignet – das ist ein weites Feld. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass Künstler*innen ihre Einkünfte immer wieder nicht ordentlich angegeben haben, um Beiträge zu sparen. Insofern war es kein Wunder, dass die Kulturstaatsministerin im Frühjahr aufgrund dieser Daten – und die Daten der Künstlersozialkasse waren die einzigen halbwegs empirischen Daten, über die sie auf die Schnelle verfügen konnte – zu der Entscheidung kam: Naja, mit einem vereinfachten Zugang zur Grundsicherung, sprich Hartz IV, sind die meisten aus der Solo-Selbständigen-Szene ja ganz gut bedient …

„Aufgrund von Fake-Daten wurde ein Durchschnittseinkommen
angenommen, dass die Wirklichkeit nicht abbildete.“

Die Realität aber ist eine ganz andere?

FOLKERT UHDE: Natürlich, und ab April waren wir sehr damit beschäftigt, dieses Bild auf Seiten der Politik zurechtzurücken. Aufgrund solcher Fake-Daten wurde ja ein Durchschnittseinkommen angenommen, dass die Wirklichkeit nicht abbildete. Es ist ein bisschen wie beim Mietenspiegel: Die Durchschnittsmiete in Berlin, Hamburg oder Frankfurt am Main sagt letztlich nichts darüber aus, was man bezahlen muss, wenn man eine neue Wohnung braucht. Zwar gibt es viele Solo-Selbständige, die am unteren Ende der Skala arbeiten, oft noch in Kombination mit anderen Jobs, aber es gibt eben auch sehr viele andere, die in ihrem Einkommen sehr weit darüber liegen. Die Realität wurde durch dieses staatliche Denken nach einem imaginären Durchschnitt nicht abgebildet, und es kam auf Seiten vieler Künstler zu dieser Kränkung á la „Mensch, Ihr schmeißt uns jetzt gleich in den Hartz-IV-Topf. Das kann nicht sein, es ist ja nicht unsere Schuld, wir dürfen ja nicht arbeiten!“ Da hat es wahnsinnig viele Verwerfungen gegeben, und die wirken eigentlich bis jetzt. Es zeigt aber doch primär, dass es hier Missverständnisse gibt und dass fundamentale Unwissenheit über Arbeits- und Lebensrealitäten herrscht. Das muss sich in Zukunft grundsätzlich ändern, und es lohnte sich wirklich, danach zu schauen, was in Frankreich und Belgien Standard ist.

Sie sind seit 2015 Intendant der Köthener Bachtage, und das Festival konnte 2020 sogar stattfinden. Wie ging das?

FOLKERT UHDE: Wir hatten Glück, dass die Köthener Bachtage genau zu dem Zeitpunkt beginnen sollten, als das bundesweite Veranstaltungsverbot für einige Zeit auslief, also im pandemischen Wellental Ende August/Anfang September 2020. Im Dezember 2019 hatte planmäßig der Vorverkauf begonnen und im Februar hatten wir einen historischen Höchststand an vorverkauften Tickets erreicht. Es war sehr bitter, dass wir das dann im April erstmal alles absagen mussten. Schockstarre! Aber im Juni haben wir angefangen, eine Corona-konforme Neuplanung zu machen.

Und wie sah die aus?

FOLKERT UHDE: Uns wurde bewusst, dass wir auf jeden Fall sehr viel weniger Einnahmen haben würden. Wenn wir was machen, müssen wir das im kleinen Kreis, buchstäblich im kleinen Kreis, machen, also für ein viel kleineres Publikum. Dass viel weniger Leute kommen würden war ja eh klar – weil sie nicht reisen wollen und weil aufgrund der Hygieneregeln sehr viel weniger Publikum in die Konzerte darf.

Viel Nähe trotz Corona-Abstand: Konzert „Musikalisches Gipfeltreffen“ mit Christine Schornsheim (Cembalo) und Joachim Held (Joachim Held) bei den Bachfesttagen Köthen, 3. September 2020.
Foto: privat

Viel Nähe trotz Corona-Abstand: Konzert „Musikalisches Gipfeltreffen“ mit Christine Schornsheim (Cembalo) und Joachim Held (Laute) bei den Bachfesttagen Köthen, 3. September 2020.

 

Aber rechnet es sich denn so noch finanziell?

FOLKERT UHDE: Klar war, wir würden wahrscheinlich nur ein Viertel der geplanten Einnahmen bekommen. Also haben wir zwei große Projekte auf das nächste Festival 2022 verschoben, sodass wir da erstmal keine Kosten hatten und haben dann innerhalb kürzester Zeit einen völlig neuen Plan gemacht: Etwa fünfzig kleine Konzerte mit 30 bis 80 Zuhörenden, statt 15 Konzerte, von denen einige für 300 Gäste ausgelegt waren. Zum Glück haben wir ja in Köthen seit 2016 sowieso das Prinzip, dass wir die Künstler immer eine ganze Woche als „Ensemble in Residence“ nach Köthen holen. Die habe ich angeschrieben und alle sagten zu. Andere Festivals, die jeden Tag jemand anderes oder ganze Orchester aus der weiten Welt einfliegen lassen, hatten im vergangenen Jahr eh keine Chance.

Und wie war das dann genau mit diesen kleinbesetzten Konzerte?

FOLKERT UHDE: Die Musiker oder auch nur ein Einzelner wurden in der Mitte des Raumes platziert und im Kreis rundherum dreißig bis fünfzig Leute auf einzelnen Stühlen im Abstand von zwei Metern. Das heißt, jede/r hatte eine gewisse Privatsphäre und war trotzdem total nah dran.

„Kammermusik wirkt am tollsten,
wenn man nah dran ist am Geschehen“

Ist das nicht eigentlich so viel näher an der Ursprungssituation, in der Bachs Musik erklungen ist, als er vor dreihundert Jahren in Köthen wirkte?

FOLKERT UHDE: Natürlich, das sowieso. Es gab damals schlicht keine Konzertsäle und keine Reihenbestuhlung, das entstand alles erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Ich experimentiere ja auch schon seit vielen Jahren damit, diese überkommene, angestaubte Konzertsaalrealität aufzubrechen. Barocke Kammermusik wirkt ja am tollsten, wenn man nah dran ist am Geschehen. Wenn Bach die Brandenburgischen Konzerte mit zehn bis 18 Musikern gespielt hat, dann haben damals höchstens noch mal so viele Leute zugehört, und die Musik lebt ja von dieser Unmittelbarkeit und physischen Nähe.

Und wie kam das ganze beim Publikum und bei den Ausführenden an?

FOLKERT UHDE: Den Leuten hat es total gefallen, die meisten haben gefragt: „Könnte es nicht immer so sein?“ Wir haben übrigens alle Gäste einzeln gesetzt, auch nicht Paare oder Familienverbände zusammen, um ein paar Plätze mehr herauszuschinden, nein, es war ganz demokratisch: Jede/r auf einem Platz mit 1,50 Meter Abstand zum Nächsten. Niemand hat sich beschwert, sondern viele wussten diese Distanz, diese gewisse „Privatheit“ als Qualität zu schätzen. Es wurde sich vor dem Konzert auch nicht wie wild unterhalten, sondern die Leute setzten sich auf ihren Stuhl, wurden still und versenkten sich in die Atmosphäre! Das wiederum fanden die Musizierenden toll, sie mussten nicht über diesen üblichen Wall von Husten und Handtaschenrascheln. Wir hatten auch gar kein Programmheft zum rascheln, das ging bei so kurzen Konzerten auch ohne. Nächstes Jahr machen wir dann vielleicht das ganze Programm als App und drucken gar keins mehr.

Das ist ja alles schön und gut, aber solche Lösungen sind doch nur mit Kammermusik denkbar, oder? Bruckner-Sinfonien oder ähnliches wird man so nicht aufführen können.

FOLKERT UHDE: Natürlich nicht, solange Corona herrscht muss man natürlich auf vieles einfach mal verzichten. Aber diese erzwungene Intimität ist Chance und Bereicherung! Und noch etwas: Zwar konnten in Köthen nur wenige Besucher*innen live und „vor Ort“ die Musik erleben, aber wir haben viele Konzerte über versteckte Baum-Lautsprecher den Schlosspark übertragen – es gibt ja heute tolle Lautsprechertechnik, mit Akkubetrieb und funkgesteuert. Da sind dann die Leute flaniert und haben die Musik in den Bäumen gesucht, aber die Lautsprecher waren gar nicht zu sehen – genial: die Töne wehten durch den Park, und das war total poetisch, ja geradezu magisch!

„Ehrlich gesagt mache ich mir große Sorgen,
wie es weitergehen soll“

Nun gibt es ja den Impfstoff, 2021 wird es vielleicht noch schwierig. Wird dann 2022 alles wieder so sein, wie vor der Pandemie?

FOLKERT UHDE: Auf gar keinen Fall! Ehrlich gesagt mache ich mir große Sorgen, wie es weitergehen soll. Die meisten Leute in unserer Szene sind nicht festangestellt und unsere Veranstaltungen sind fast alle mehr oder weniger auf Subventionen angewiesen. Und im Moment mehren sich die Signale, dass in den öffentlichen Haushalten massiv eingespart wird. Bayern beispielsweise hat gerade beschlossen, sechseinhalb Prozent im Kulturhaushalt zu sparen. In den Kommunen ist es besonders drastisch. Besonders da, wo bis jetzt relativ viel Geld vorhanden war. Einige Konzertagenturen sind schon Pleite gegangen, und ich kenne sehr viele Musiker*innen, die sich andere Betätigungsfelder suchen.

Was also müsste jetzt passieren, um die Kulturbranche zu retten?

FOLKERT UHDE: Wir müssen uns endlich ehrlich machen, denn es gibt einen großen Widerspruch zwischen den Sonntagsreden und Selbstbehauptungen unserer Szene und dem, was tatsächlich praktisch vor Ort passiert. Im Moment ist alles mehr oder weniger zum Stillstand gekommen, und das ist doch die Gelegenheit, um zu fragen: Wo wollen wir hin? Wie könnte eine Kultur der Zukunft aussehen? Wie schaffen wir es, als Kulturbetrieb nicht nur immer ein Appendix zu sein, ein nice-to-have, eine freiwillige Leistung der Kommunen. Wie können wir Menschen davon überzeugen, dass Kultur wirklich wichtig und substanziell für unser Zusammenleben ist? Einfach die Fahne hochzuhalten und zu sagen: „Wir sind super, uns brauchen alle“ – das kann es nicht mehr sein.

Aber zumindest 2022 werden doch die Aufführungsbedingungen auch für größere Veranstaltungen wieder so wie vor der Pandemie sein. Was muss sich also konkret ändern?

FOLKERT UHDE: Mein Gefühl ist, dass sich ganz vieles verändern muss. Ich behaupte sogar, es ist Zeit für eine Art New Deal auf dem Feld der Kultur- und der Kulturwirtschaft. Die Finanzierungsmöglichkeiten werden sich dramatisch verändern, weil die Mittel geringer sind. Es wird einen sehr harten Verteilungskampf geben. Mit anderen Worten: Der Markt schrumpft gewaltig. Außerdem wissen wir alle seit Jahrzehnten, dass die Menschen, die sich für uns interessieren, immer älter werden. Das ist in den vergangenen Jahren nicht so aufgefallen, da gab es ordentliche Aufwüchse in den öffentlichen Haushalten, aber das wird künftig nicht mehr so sein. Und es werden uns viele bohrende Fragen gestellt werden, die man in einer großen Fragen zusammenfassen kann: Kultur – warum machen wir das eigentlich?

Aber auf eine solche Frage kann man doch nicht die eine Antwort geben?

FOLKERT UHDE: Nein, aber mir geht mir um etwas Grundsätzliches: Ich bin davon überzeugt, dass ein Großteils des Potenzials der Kultur darin liegt, wirklich zu versuchen, das alles vorzuleben, was wir uns insgesamt für die Gesellschaft wünschen. Und wir brauchen ja mehr Diversität, mehr Nachhaltigkeit, eine andere Form von Debattenkultur und vieles mehr. Das müssen wir versuchen, in die Art und Weise, wie wir als Kulturschaffende denken und handeln, zu integrieren.

„Wir sollten auch weniger auf das Repräsentative
bedacht sein – denn das nervt!“

Das klingt sehr grundsätzlich. Inwiefern braucht es zum Beispiel mehr Diversität?

FOLKERT UHDE: Wir scheinen uns auf den ersten Blick irgendwie einig zu sein, was wir mit Kultur meinen. Aber das ist nicht so. Deswegen rede ich inzwischen lieber von Kulturen. Wir müssen viel mehr Menschen und auch unterschiedliche Kulturen mit einbeziehen in unseren Kulturbegriff, damit Kultur weniger elitär daherkommt. Und wir sollten auch weniger auf das Repräsentative bedacht sein – das denke ich seit Jahren, denn das nervt! Durch die Abstandsregeln musste jetzt alles Repräsentative weggefallen. Nicht nur bei uns in Köthen, auch bei den Festspielen in Salzburg war weniger als die Hälfte des Publikums da, es gab keine Pausen, kein „Chichi“, keinen Sektempfang, und plötzlich … geht es wirklich um Kunst! Es wird deutlich, was eigentlich daran wichtig ist und was da verhandelt wird.

Andererseits gehen ganz viele Leute nur in Kulturveranstaltungen, um sich zu zeigen, um ein Teil einer bestimmten Gesellschaft zu sein. Gehört das nicht irgendwie auch dazu?

FOLKERT UHDE: Natürlich fehlt ohne diese gesellschaftlich-repräsentativen Faktoren für viele Leute der Grund, zu kommen, denn eigentlich wollen sie sich ja durch ihr Kommen auch auf einem bestimmten gesellschaftlichen Parkett zeigen. Das hat ja auch eine starke soziale Komponente. Da kommt das klassische Konzert der Moderne auch her, so hat es sich im 19. Jahrhundert entwickelt, als Selbstvergewisserung einer aufstrebenden bürgerlichen Kultur. Das ist zu einem guten Teil heute noch so, und das merken wir jetzt während der Pandemie: Wenn man nicht beim Sekt zusammenstehen kann, kommen eben viel weniger Leute! Aber die, die kommen, sind die, die Kultur wirklich als Lebensmittel brauchen. Es war bei uns in Köthen berührend zu erleben, wie intensiv Leute zugehört haben, wie sehr die bewegt waren und was sie daran bewegt hat.

Ein Publikum, dem es eigentlich so besser gefällt?

FOLKERT UHDE: Ja, dem gefällt es eigentlich besser so und mir schon lange. Und wenn wir zum Kern zurückkommen, nämlich zu der Fragestellung, was uns eigentlich im tiefsten Innern bewegt, dann kommen wir auch zu anderen Antworten. Ich beschreibe das mit dem Dispositiv der Nähe. Wie können wir eine Dramaturgie der Nähe entwickeln und zwar nicht in erster Linie der physischen Nähe, das ist zurzeit schwierig, sondern Nähe im Sinne einer persönlichen Resonanz? Wo und wie können wir an Lebensrealitäten anknüpfen, welche Antworten können wir bieten, nicht nur auf mehr oder weniger abstrakte Fragestellungen, sondern auch auf ureigene persönliche Bedürfnisse?

Aber ist dies nur eine Aufgabe für die Kulturbranche?

FOLKERT UHDE: Nein, nicht nur. Hier sehe ich durchaus Parallelen zur Situation und Aufgabe der Kirche. Wie die Kultur hat auch die Kirche ein Riesenpotenzial, denn es gibt große Bedürfnisse in dieser Richtung – aber sie werden nicht mehr mit dem Gewohnten, mit dem Gelernten befriedigt. Deshalb gibt es eine große Distanzierung von Menschen, die ein Bedürfnis haben, aber die herrschenden Formen ablehnen.

Wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis?

Mir wird das immer mehr bewusst, seitdem ich angehende Kulturwissenschaftler unterrichte. Der Großteil der jungen Leute hat nichts am Hut mit unser etablierten Art von klassischer Musikkultur. Aber man kann sie im Grunde für alles begeistern, wenn man sie im Kern der Sache erwischt. Die sagen nämlich nicht: Ich finde diese Musik total uninteressant, sondern die sagen: Ich habe keine Lust dahin zu gehen. Das sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Der Kulturwissenschaftlicher Martin Tröndle hat im Jahr 2019 unter Studierenden eine große „Nicht-Besucher-Studie“ durchgeführt mit über 1100 Teilnehmenden, die sich explizit als „Nicht-Benutzer“ von Kulturangeboten eingeschätzt haben und zwar – kurz gesagt – weil sie das ganze aufgesetzte Drumherum störte.

Letztlich kostet dieser ganze repräsentative Aufsatz auch ganz viel Geld, den man dann nicht bräuchte, oder?

FOLKERT UHDE: Ja, es gibt schon relativ viele Punkte, wo man anders agieren kann. Ein Sektempfang ist natürlich eigentlich eine Kleinigkeit und ja auch ganz nett. Aber wenn sich große Häuser darüber definieren, wie viele sogenannte Weltstars in der Saison bei ihnen auftreten, ist da sehr viel Geld im Spiel. Auch in Köthen haben mich anfangs einige ältere Konzertbesucher kritisiert, denn die sind früher immer dahin gefahren, um irgendwelche Stars zu erleben. Denen habe ich gesagt, dass wir bald keine Stars mehr haben werden, wenn wir Jüngeren nicht eine Plattform geben. Man kann nicht immer nur die gleichen zwanzig Leute einladen, die seit Jahrzehnten im Geschäft sind. 

„Bei den Jüngeren unter 30 ist es völlig selbstverständlich
in verschiedenen Genres zuhause zu sein“

Wo kann man denn junge, neuen Musiktalente finden?

FOLKERT UHDE: Ich habe das Glück, dass ich ständig mit jungen Musiker*innen arbeiten darf, weil ich in verschiedene Mentoring-Programme mitmache und häufig in Universitäten unterwegs bin. So kann ich mein Netzwerk auffrischen kann mit jungen Leuten, die nicht nur fantastische Musiker sind, sondern daneben auch noch völlig andere Ansätze verfolgen. Bei den Jüngeren, den unter 30-Jährigen, ist es übrigens völlig selbstverständlich, dass sie sich ganz unterschiedlich aufstellen und in verschiedenen Genres zuhause sind. Die widmen sich mit großer Ernsthaftigkeit der historischen Aufführungspraxis von Barockmusik, können außerdem hervorragend improvisieren, machen Jazz und so weiter und so fort. Das ist sehr spannend und so finden sich dann auch ganz neue Ansätze für Konzertformen und -formate.

Könnten man provokativ sagen, dass Corona dem nötigen „New Deal“ in der Kultur ein bisschen in die Karten gespielt hat?

FOLKERT UHDE: Nein, auf Corona hätten wir alle wohl gerne verzichtet. Aber die Pandemie hat in der Kulturszene wie in fast allen gesellschaftlichen und persönlichen Bereichen gezeigt, worum es eigentlich geht oder worum es eigentlich gehen sollte. Alles, was irgendwie dysfunktional ist, disproportional, auf irgendeine Art und Weise nicht richtig im Lot, zeigt sich unter diesen super erschwerten Bedingungen ganz ungeschminkt. Und ich bin fest davon überzeugt, dass es in Zukunft im Kultursektor nicht einfach so weitergehen wird. Allein schon deshalb, weil sich gesellschaftlich etwas verschoben hat. Viele werden sich weiterhin sich im Privaten wohlfühlen auf ihrem schönen Sofa vor ihrem tollen Fernseher und mit ihrem Netflix-Account. Außerdem bleibe ich sehr skeptisch, wie bald wir wirklich wieder Konzerte ohne Publikumsbeschränkung durchführen können.

Folkert Uhde
Foto: Rolf Zöllner
 

Die Bedeutung des Internets wurde in einer Art Crashkurs von vielen neu gelernt und spielt auch im Bereich der Kultur eine große Rolle. Aber alles nur online streamen, das kann es doch nicht sein und das rechnet sich doch auch nicht?

FOLKERT UHDE: Natürlich nicht. Da war viel auch ein Strohfeuer und Zeichen des Selbstbehauptungswillen in der ersten Phase der Pandemie. Aber es haben sich neue Türen aufgetan: Ich bin mir sicher, dass es in Zukunft keine großen Konferenz mehr irgendwo auf der Welt geben wird, die nicht in irgendeiner Form gestreamt werden. Wir haben durch diese neue Art der Kommunikation ganz viel Positives gelernt. Wir haben Aktionen organisiert mit Videoschalten, die wir vorher nie auf die Reihe gekriegt – einfach aus Zeitgründen, weil wir es nicht geschafft haben, uns physisch in einem Raum zu treffen. Plötzlich kriegen wir das alles hin, und da müssen wir weitemachen. Um es in einem Bild auszudrücken: Ich habe das Gefühl, wir haben gerade das Telefon erfunden, aber unser Sprachschatz besteht bisher nur aus 120 Wörtern, aber wir lernen täglich dazu. Und da tut sich eine riesige Welt auf, die auch interessant ist, die natürlich nicht die reale Begegnung ersetzen kann, aber ergänzen und bereichern.

Aber trotzdem gab es auch positive Erfahrungen in dem knappen Jahr, das seit Corona vergangen ist?

FOLKERT UHDE: Ja, die gab es. Zum Beispiel, dass wir im Herbst mit den Montforter Zwischentönen ein ganzes Festival auf Einladung des österreichischen Rundfunks als Radioshow haben machen können, die haben uns im November einfach Sendeplätze angeboten – das finde ich sensationell, und so etwas habe ich leider in Deutschland bisher noch nicht erlebt. Solche Entwicklungen haben bei mir das Gefühl verstärkt, dass es jetzt so ein Momentum gibt, mit dem wir im Bereich der Kulturproduktion und der Kulturpräsentation Dinge grundlegend neu machen können. Das Beharren auf dem Status Quo und die Haltung „Ich warte, dass alles wieder so wird wie vorher – das hat keinen Sinn mehr, sondern wir brauchen eine Art New Deal!

Das Gespräch führte Reinhard Mawick am 15. Dezember 2020 in Berlin.

 

Zwei weitere Text von und mit Folkert Uhde zum Thema finden Sie im Onlinemagazin VAN #276, und im Tagesspiegel vom 5. Januar. Eine Keynote zum Thema auf der Online-Konferenz „Kultur hat Zukunft“ am 9.12. 2020 finden Sie als Video hier, und einen allgemeinen Einblick in seine Arbeit gibt Folkert Uhde in diesem Video von der Heidelberg Music Conference 2020 DIGITAL.

 

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Folkert Uhde

Folkert Uhde, Jahrgang 1965, gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger Konzertagenturbetreiber und Orchestermanager gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 die Veranstaltungsstätte Radialsystem V in Berlin. Der gebürtige Wilhelmshavener ist unter anderem Programmgestalter des Festivals „Zwischentöne“ in Feldkirch/ Österreich, leitet seit 2015 die Köthener Bachfesttage und unterrichtet unter anderem an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und der Musikhochschule Trossingen.


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