Bach, das Brot

Große Kunst ganz nah an der Basis: die Köthener Bachfesttage 2024
Tenor Benedikt Kristjánsson in einem Konzert mit dem Köthener Bachkollektiv bei den Köthener Bachfesttagen 2024.
Foto: Henner Fritzsche/Köthen
Tenor Benedikt Kristjánsson in einem Konzert mit dem Köthener Bachkollektiv bei den Köthener Bachfesttagen 2024.

Fast alle kennen „Bernd das Brot“, jenes sprechende und meist sehr deprimierte Kastenweißbrot mit den kurzen Armen – eine Figur des Kinderfernsehkanals KIKA. Aber wer kennt „Bach das Brot“? Als solches bezeichnete die Mayumi Hirasaki den großen Johann Sebastian Bach. Und dieser kulinarische Vergleich fiel der international renommierten Barock­geigerin ein, als sie der Musikwissenschaftler, Rundfunkmoderator und Bach-Nerd Bernhard Schrammek fragte, wie sie Johann Sebastian Bach und sein Werk beschreiben würde und um „eine kurze Antwort“ bat. Und dann kam das: Bach, so Hirasaki, sei für sie letztlich wie ein Lebensmittel und zwar wie ein „tolles deutsches Brot, das eine harte Kruste hat, aber innen doch diese Biegsamkeit.“ Lustig, aber durchaus mit Tiefsinn …

An vier Festivaltagen versammelten sich immer um Punkt 17 Uhr interessierte Besucher:innen der Bachfesttage im Marstall des Köthener Schlosses zum sogenannten Kaffeeklatsch. Wo früher die Pferde der Fürsten schnaubten, befragte Schrammek Verantwortliche und Künstler:innen des laufenden Festival. Er tat es kompetent und äußerst amüsant, so wie er es seit Jahren auch in dem erfolgreichen Podcast „Maul & Schrammek“ mit dem Leipziger Bachfestintendanten Michael Maul hält: Die beiden stellten jeden Sonntag eine Bachkantate vor und machen sich nun – da alle 200 geistlichen Kantaten besprochen sind, seit kurzem an den Rest des Bachschen Oeuvres

In besagtem Kaffeeklatsch am vergangenen Donnerstag war auch Elina Albach zu Gast, eine der bedeutenden jungen deutschen Cembalistinnen, die sich ebenfalls mit Leib und Seele Bachs Musik und seiner Transformation in unsere Tage verschrieben hat – in Köthen unter anderem mit einer spektakulären Aufführung des Musikalischen Opfers BWV 1079 in der Nikolaikirche in Aken an der Elbe im Köthener Umland am vergangenen Freitagabend. Sie wurde von Schrammek gefragt, ob sie ihre allererste Begegnung mit beziehungsweise Erinnerung an Johann Sebastian Bach rekonstruieren könne. Albach: Oh ja! Sie habe als Vierjährige zwar das Weihnachtsoratorium noch nicht mitsingen dürfen wie ihre älteren Geschwister, aber sie habe auf dem Schoß ihrer „Lieblingsbabysitterin“ mithelfen können, die Bälge der nachgebauten historischen Truhenorgel zu treten, die bei der Aufführung ihres Vaters, eines Berliner Kirchenmusiker, zum Einsatz kam. Daran erinnere sie sich sehr genau, allerdings nur an die ersten drei Kantaten, denn bei der vierten Kantate sei sie eingeschlafen, und noch heute verspüre sie bei Aufführungen dieses Werkes, wenn sie als Continuospielerin an Orgel und/oder Cembalo mitwirke, in der vierten Kantate eine gewissen Müdigkeit … (die vergnügliche Dreiviertelstunde mit Schrammek und den beiden Damen kann hier nachgeschaut werden; Beginn ab Minute 17:47)

Eigentlich „Köthener Konzerte“

Ja, familiär geht es zu in Köthen, wo Johann Sebastian Bach vor gut 300 Jahren von 1717 bis 1723 als Kapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt die wohl glücklichste Zeit seiner Karriere verlebte. Dort in Anhalt schuf er viele seiner berühmten Werke, unter anderem jenes halbe Dutzend berühmter Instrumentalkonzerte BWV 1046 – 1051, die eigentlich Köthener Konzerte heißen müssten, aber Brandenburger Konzerte heißen, nur weil Bach sie dem brandenburgischen Markgrafen Christian Ludwig zum Geburtstag widmete. 

Apart sind auch die Konzertformate: So bitten Geigerin Mayumi Hirasaki zusammen mit ihrem Kollegen Marcello Gatti (Traversflöte) mitten am Nachmittag in die angenehm kühle Schlosskapelle und spielen in einem 45-Minuten-Konzert zwei berühmte Köthener Werke – nämlich die vier Sätze der Partita a-Moll für Traversflöte solo (BWV 1013 – hier eine Aufnahme mit Marten Root) und die ersten vier Sätze der Partita d-Moll für Violine solo (BWV 1004 – hier eine Aufnahme mit Shunske Sato) – und zwar ineinander verschlungen musiziert. Das funktionierte gut und geriet auch für Bach-Nerds durch die geschickte Verschränkung zu einem völlig neues Hör-Erlebnis! Diese variablen Formate jenseits starrer Konzertsaalroutine sind das Markenzeichen des Köthener Intendanten Folkert Uhde, der sich als Konzertdesigner einen Namen gemacht hat und in den vergangenen Jahren lustvoll in Köthen Fuß gefasst hat. 

Spektakulär war schon der Auftakt der Bachfesttage: Eigentlich erwartet man da Pauken und Trompeten, Jubel und Trubel. Aber weit gefehlt! In diesem Jahr zielte der Eröffnungsabend mit einem Trio besonderer Art nicht auf äußerlichen Glanz, sondern ganz nach innen in die Tiefen der Seele: Die Geigerin Midori Seiler, die 2016 eine herausragende Einspielung der Solosonaten von J.S. Bach vorgelegt hat, präsentierte mit dem Choreografen und Tänzer Juan Kruz Díaz de Garaio Esnaola und seinem Tänzerkollegen Mareti Corbera drei dieser Bachwerke als „III“ – Drei Tanzsonaten“. Eine berückende, fesselnde Darbietung, in der beide Tänzer die ständig (!) und in allen Haltungen (!!) spielende Interpretin in ihre etwa einstündige Performance einbezogen. 

Gefühle und Seelenregungen

Das sorgfältig choreografierte Tanzereignis zog das Publikum mit Haut und Haaren in seinen Bann, irgendwie spürten alle, dass dieses verwobene Miteinander aus Bachs glasklaren Klängen und die virtuos-kunstvollen Körperformationen des Ausdruckstanzes in grandioser Manier das gesamte Spektrum menschlicher Gefühle und Seelenregungen auszuloten vermochten. Typisch Köthener-Bachfesttage-like, zumal der 2008 fertiggestellte Johann-Sebastian-Bach- Saal im Köthener Schloss, einst Anfang des 19. Jahrhunderts als Reithalle konzipiert, dafür beste technische Voraussetzungen mitbringt. Im Kaffeeklatsch drei Tage später berichtete Midori Seiler dann sehr eindrucksvoll über die gedankliche Struktur und Zuweisung der verschiedenen Abschnitte (hier für Interessierte zum Nachhören, ab Minute 33.00).

Köthen
Foto: Henner Fritzsche/Köthen

Midori Seiler (Violine) und die beiden Tänzer Juan Kruz Díaz de Garaio Esnaola und Mareti Corbera eröffnen mit „III – Drei Tanzsonaten“ die Köthener Bachfesttage 2024.

Und dann war da gleich am Abend des ersten volles Festivaltages ein weiteres Konzert an einer authentischen Bachstätte, das restlos begeistern konnte: Der international berühmte Bachtenor Benedikt Kristjánsson hatte sich mit der auf barocke Harfe spezialisierten Tirolerin Margret Köll zusammen­getan und präsentierte – moderiert von Intendant Folkert Uhde – unter dem Motto „Hausmusik“ in 75 Minuten mit Werken von Monteverdi, Dowland und ein Quartett von vier Gesängen aus Bachs Schemelli Gesangbuch, die der Sänger kühn als einen kleinen Bachschen „Messias“ bezeichnete, da die knapp 20-minütige Werkfolge sehr elementar die Lebensstationen Jesu, aber eigentlich eines jeden Menschen inkludierte: Die Geburt (O Jesulein, süß, o Jesulein mild), die Zeit der Liebe und des Werbens (Willst Du mein Herz mir schenken), die Zeit des Leidens (Mein Jesu, was für Seelenweh) und schließlich Tod und Ergebung (Ich habe genug / Schlummert ein, ihr matten Augen). 

Mit diesem Konzert erfüllte sich das Trio einen Wunsch, denn Köll, Kristjánsson und Uhde hatten ein ähnliches Hausmusik-Programm schon einmal zu Bachs Geburtstag – damals allerdings Corona-bedingt leider ohne Publikum. Das war diesmal gottlob anders, aber das legendäre Konzert vom März 2021 wurde zum Glück gestreamt, und es lohnt sich sehr diese Aufnahme hier nachzusehen).

Bereits am Nachmittag desselben Tages hatte der aus Island stammende Ausnahmesänger Kristjánsson eine ganz andere Seite von sich gezeigt: In einem Kurzkonzert im sehr geeigneten (und erfreulich kühlen!) Musiksalon der Lutzeklinik in Köthen gleich hinterm Schlosspark griff der 37-Jährige zur Gitarre, trug drei isländische Volkslieder vor und stellte die beiden weltberühmten Tränensongs von John Dowland (Flow my tears) und Eric Clapton (Tears in Heaven) gegenüber. In dieser Kombi eine Entdeckung! Für den Interpreten kein Wunder, schließlich machten beide dasselbe, nur „400 Jahre nacheinander“. Wie auch immer: Sollte Kristjánsson mal die Lust auf Bach verlieren, was Gott verhüten möge, so wäre er auch im „Singer-Songwriter“-Fach bestens aufgehoben – wobei hier in Köthen klar wurde: Beides schließt sich keineswegs aus.

Köthen
Foto: Henner Fritzsche/Köthen

Benedikt Kristjánsson singt mit der Gitarre isländische Volkslieder und Songs von John Dowland und Eric Clapton bei den Köthener Bachfesttagen 2024.

Tags drauf war in der Agnuskirche, in der Bach seinerzeit regelmäßig zum Kirchgang schritt, wie die erhaltenen Kirchenbücher belegen, auf einmal ein wunderbarer Bechstein-Flügel gelandet. Hier begeisterte die Pianistin Serra Tavsanli eine Halbzeitlänge lang mit ihrer Kunst, nämlich der Transkriptionen Bachscher Werke auf den modernen Konzertflügel im Geiste des 19. und 20. Jahrhunderts. Angefangen vom berückenden „Schafe können sicher weiden“ (hier eine Aufnahme mit Serra Tavsanli) bis zur packende Toccata c-Moll (dito), die für Tavsanli von A bis Z von … der Liebe handelt. Why not? Eine besondere Note in einem Festival, das ansonsten, wie es sich für Bachfestivals auf der Höhe der Zeit gehört, eher von Darmsaiten und historisierenden Instrumentarium geprägt ist.

Köthen
Foto: Henner Fritzsche/Köthen

Serra Tavsanli (Klavier) spielt romantische Bearbeitungen Bachscher Werke bei den Köthener Bachfesttagen 2024.

Am Freitag, dem zweiten vollen Festivaltag, ließ sich dann das Köthener Bach-Collektiv hören, ein Ensemble in Residence, das sich seit 2016 immer während der Bachfesttage trifft, um ge­meinsam zu arbeiten und „vor Ort“ auf Bachs Spuren zu wandeln. Diese internationale Virtuos:innenschar bezeichnete die Gründerin und Leiterin Midori Seiler, die famose Solistin des Ein­gangskonzertes und etatmäßige Konzertmeisterin, noch vor sechs Jahren als Mischung aus „alten Hasen und jungem Gemüse“. Jetzt, mehrere Jahre und CD-Einspielungen später, könnte man eher von einer „Supergroup“ der Alten Musik-Szene sprechen. Diesmal gab es virtuose Instru­mentalkonzerte, zum Beispiel das sogenannte Tripelkonzert BWV 1044 (hier in einer Auf­nahme unter anderem mit dem „Köthener“ Marcello Gatti, Traversflöte) und das E-Dur-Violin­konzert BWV 1042 (hier in einer Aufnahme mit Shunske Sato und der Netherlands Bach Society), sowie die bekannte 2. Orchestersuite BWV 1067, allerdings statt in h-Moll in a-Moll und deswegen mit dem Soloinstrument Violine – so wie es wohl in einer ursprünglichen Köthe­ner Urfassung (= BWV 1067a) gewesen ist (hier die Ouvertüre mit Jürgen Groß und dem Ensemble Elbipolis).

Eingewoben in dieses Orchesterfest des Bach-Collectivs in der Agneskirche unter der beherzten Leitung von der eingangs erwähnten Mayumi Hirasaki („Bach das Brot“) gab es auch den dritten umjubelte Auftritt von Tenorheld Benedikt Kristjánsson. Er trug zwei Bacharien und ein Rezitativ vor, darunter „Auf meinen Flügeln sollst du schweben“ (hier in einer Aufnahme mit dem Tenor Tobias Hunger) aus der weltlichen Kantate „Lasst uns sorgen, lasst uns wachen“ (BWV 213) über Herkules am Scheideweg. Es ist das Werk, das Bach dann später in den vierten Teil des Weihnachtsoratoriums (BWV 248/IV) verwandelte– im „WO“ ist die Tenorarie nur einen Ton tiefer notiert und hat natürlich einen geistlichen Text: „Ich will nur dir zu Ehren leben“). 

„Gedenke, du bist nur ein Mensch!“

Was für eine reichliche Stunde voll froher, prächtiger Musik, die die Agnuskirche zu Köthen akustisch in einen Fürstensaal verwandelte! Umso eindringlicher, dass Tenor Kristjánsson sowohl am Anfang wie zum Beschluss des Konzertes, allein und jeweils mit dem Publikum zusammen, als rahmende Antiphon des Konzertes unisono den Choral „Ach, wie flüchtig, auch wie nichtig, ist der Menschen Leben“ intonierte. Es war ein bisschen so, als wollte er der überbordenden Vitalität der Orchesterkonzerte eine Memento Mori gegenüberstellen, so wie im alten Rom den heimkehrenden Feldherren auf dem Triumphwagen die Sklaven, die den Lorbeerkranz über dem Haupt der heimkehrenden Feldherren hielten, denselben mahnend ins Ohr flüsterten: „Gedenke, Du bist nur ein Mensch!“ Auf jeden Fall ein reizvoller Kontrast, der neben dem Fest für die Ohren auch etwas zum Nachdenken mit nach Hause gab. 

Fazit: Gut zwei pralle Tage Auftakt in Köthen, nicht nur für die, für die Bach sowieso ein „Brot des Lebens“ ist, sondern für alle Interessierte, die sich den Bachschen Kosmos auf spannungsreiche und klug kuratierte Art an Originalschauplätzen erschließen wollen. Das Festival findet alle zwei Jahre statt, 2026 ist es vom 30. August bis 6. September wieder soweit. Man darf schon jetzt gespannt sein, was Bachs ausgefallenes Familienfest dann zu bieten hat.

(Leider konnte zeitzeichen nur bis Freitag den Köthener Bachfesttagen beiwohnen und hat das pralle Konzertwochenende, an dem noch einmal viele unterschiedliche Konzerte stattfanden, nicht erleben dürfen. Zumindest aber konnte noch ein Interview mit Intendant Folkert Uhde geführt werden können. Das ist ab dem kommenden Donnerstag, 5. September, hier zu lesen zu lesen.)

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"