Menschenrechte ernst nehmen

Über drei fragwürdige Entscheidungen der ukrainischen Politik
Blick in den Saal des ukrainischen Parlaments: TV-Übertragung am 5.Juni 2024
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Blick in den Saal des ukrainischen Parlaments: TV-Übertragung am 5.Juni 2024

Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geht es auch um die Verteidigung von Werten westlich geprägter Demokratien. Um so skeptischer blickt der Theologe und Autor Hans-Jürgen Benedict auf drei Entscheidungen der ukrainischen Politik aus der jüngsten Zeit – und formuliert in diesem Zusammenhang Erwartungen an die EKD.

Die Unterstützung der Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen die russische Invasion wird immer wieder auch damit gerechtfertigt, dass die Ukraine westliche Werte gegen den russischen Imperialismus und Unrechtsstaat unter Putin verteidigt. Es ist deswegen genau darauf zu achten, was innenpolitisch in der Ukraine geschieht. Werden die im Westen erkämpften universalen Menschenrechte auch in der angespannten Kriegssituation der Ukraine ernst genommen und eingehalten? 

Zuletzt spielte dabei die Debatte über die Auslieferung ukrainischer  Kriegsdienstverweigerer aus Deutschland eine Rolle. Auslöser der Debatte  war die Aussage des Politikers  David Arakhamia im ukrainischen Parlament, dass die Auslieferung von Personen, die sich in rechtswidriger Gestalt dem Kriegsdienst entzogen hätten, möglich sei. Er berief sich dabei wohl auf das europäische Auslieferungsübereinkommen, dem auch Russland und die Ukraine beigetreten sind. 

Worum geht es? In der Ukraine sind nur Angehörige von zehn kleineren Glaubensgemeinschaften pazifistischer Herkunft vom Wehrdienst befreit. Ein allgemeines Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es nicht.  Voraussetzung für eine Auslieferung ist nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen aber eine beiderseitige Strafbarkeit. Wenn sich ein Wehrdienstpflichtiger dem Wehrdienst durch Flucht entzieht, so liegt damit nicht zwangsläufig ein Grund für eine Auslieferung vor. Denn die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Straftat muss nach dem Recht des ersuchenden und des ersuchten Staates strafbar sein. Zwar bestraft das Wehrstrafrecht der Bundesrepublik  die Fahnenflucht, doch da einerseits die Wehrpflicht zur Zeit ausgesetzt ist und andererseits das Recht auf Wehrdienstverweigerung ein Grundrecht ist(Art 4,3GG), was beides  für die Ukraine nicht zutrifft, ist die beiderseitige  Strafbarkeit im Sinne des Europäischen Auslieferungsübereinkommens  mehr als fraglich. Zudem  sagt Art.4 dieses Übereinkommens, dass  die Auslieferung wegen militärisch strafbarer Handlungen, die keine nach gemeinem Recht strafbaren Handlungen darstellen, nicht anwendbar ist. Es müsste sich schon um Straftaten wie Urkundenfälschung handeln. Und der ersuchende Staat muss ein Strafverfahren gegen den Wehrpflichtigen eröffnet haben.

Recht auf Kriegsdienstverweigerung

Nach Angaben des Bundesinnenministeriums  sind seit dem Kriegsbeginn im 203.640 männliche ukrainische  Staatsangehörige nach Deutschland eingereist, die zwischen 18 und 60 Jahren alt  und deswegen wehrpflichtig sind. Wie viele davon sich dem Wehrdienst entziehen wollen, ist nicht bekannt. Denn alle Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind nach §24 Aufnahmegesetz aufgenommen worden, mussten kein Asylverfahren durchlaufen. Diesen wehrpflichtigen Ukrainern droht also vorerst keine Auslieferung, sagt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. 

Falls der humanitäre Aufnahmetitel irgendwann ausläuft, müssten sich diese Kriegsflüchtlinge einem Asylverfahren stellen. In diesem, so finde ich, müsste dann auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das ihnen noch in ihrem Staat verwehrt wird, aber in der Bundesrepublik gilt, zugestanden werden. Anders gesagt – sie müssten dann einen Schutzstatus bekommen. Das gilt noch stärker für Kriegsdienstverweigerer aus Russland und Belarus, die nach Deutschland geflohen sind. Sie könnten mit Recht vorbringen, dass sie sich der Beteiligung an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg entziehen wollten.

Es wurden schon Stimmen in der Politik laut, besonders von Seiten der CDU, Auslieferungsbegehren der Ukraine nachzukommen und männlichen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine im wehrpflichtigen Alter keinen besonderen Schutzstatus zu gewähren. Die EKD mit ihrer großen Tradition der Beratung von Kriegsdienstverweigerern  sollte solchen Einlassungen entgegentreten und daran erinnern, dass das Frieden schaffen ohne Waffen die größere Verheißung hat, so sehr es momentan auch sich in der Defensive befindet.

Kirche verboten

Eine zweite kritische Entscheidung: Am 21. August hat das ukrainische Parlament mit großer Mehrheit die russisch-orthodoxe Kirche in der Ukraine verboten. Der Abgeordnete Roman Losynskyj schrieb auf Facebook zur Begründung, es handle sich bei der russisch-orthodoxen Kirche „um ein Agentennetz des Kreml, das sich seit Jahrzehnten hinter der Maske einer religiösen Organisation versteckt.“

Dieses Gesetz vertieft die religiöse Spaltung in der Ukraine. Die orthodoxen Kirchen in Russland und der Ukraine sind seit langem miteinander verbunden, das blieb zunächst auch so nach der ukrainischen Selbständigkeit. Sie  unterstehen aber dem Moskauer Patriarchen. Dessen eindeutige Option für Putin hatte in der Ukraine schon lange vor Beginn des Angriffskriegs Kritik hervorgerufen. Deswegen hatte sich 2018 eine eigenständige ukrainisch-orthodoxe Kirche gebildet, die dem Patriarchen von Konstantinopel untersteht. 

Bei Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 kritisierte die russisch-orthodoxe Kirche in der Ukraine zwar den Überfall deutlich und erklärte sich für unabhängig von Moskau. Doch an der Glaubwürdigkeit dieses Schritts wird gezweifelt. Auch wegen der weiterhin eindeutigen Parteinahme des Patriarchen Kyrill für Putin, der Krieg sei ein Krieg gegen den teuflischen Westen, konnten die Vorbehalte der ukrainischen Politik gegenüber der russisch-orthodoxen Kirche im eigenen Land nicht ausgeräumt werden. 

Nicht akzeptabel

Bleibt man beim Patriarchat von Moskau, muss man als ukrainischer Christ im allgemeinen Kirchengebet für den obersten Bischof, eben für den Patriarchen beten, der den Sieg der russischen Armee will. Das dürfte für ukrainische Christen in der Tat eine Zumutung sein. Insofern wäre das Verbot sogar verständlich. Aber deswegen gleich der gesamten Kirche das Existenzrecht zu entziehen, ist unter dem Aspekt der Wahrung der Religionsfreiheit nicht akzeptabel.

Der Sprecher der orthodoxen Kirche in Moskau erklärte, bei dem Verbot handle es sich um eine eklatante Verletzung der Prinzipien der Glaubensfreiheit und der Menschenrechte. Dieses Gesetz könne zu massiver Gewalt gegen Millionen von Gläubigen führen. Auch wenn dies eine interessengeleitete Stimme aus Moskau ist, die die Benutzung der eigenen Kirche zu nationalen Zwecken und die ständige Verletzung der Menschenrechte in Russland verschweigt, es ist nicht ganz falsch. 

Und hier wird die ganze Sache für den Westen schwierig – kann er ein Land zu unterstützen, das das Recht auf Religionsfreiheit mit Füßen tritt, indem es eine Kirche total verbietet? Man fühlt sich an den Kirchenkampf zwischen der von Hitler unterstützten deutsch-christlich eingestellten Führer-Kirche und der Bekennenden Kirche erinnert , die im Barmer Bekenntnis sagte: „Wir verwerfen  die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Leben  werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.“(5.Barmer These) 

Einmarsch in Russland

Bleibt als drittes bedenkliches Zeichen der Einmarsch ukrainischer Truppen in die russische Region Kursk und damit die ukrainische Besetzung eines gesamten Landstrichs. Mag dies auch aus militärischen und politischen Gründen verständlich sein, denn so hat die Ukraine für eventuelle Friedensverhandlungen ein Faustpfand, das die Besetzung der Donezk-Republiken teilweise ausgleicht – für die westliche Position mit ihren massiven Waffenlieferungen und finanziellen Hilfen an die Ukraine unter der Voraussetzung der allein defensiven Verwendung der bereit gestellten Waffen, ist dies ein Problem. Denn die lange Auseinandersetzung in den westlichen Staaten um den Umfang und die rein defensive Verwendung der Waffen wird mit dieser gerade auch durch westliche Waffen ermöglichten kleinen Offensive ad absurdum geführt. 

Sind die Restriktionen, zu denen man sich in der Ampel- Koalition trotz Strack-Zimmermann und anderen verpflichtet hatte, hinfällig? Was ist mit Habermas Warnung vor einer Eskalation bis hin zum Einsatz taktischer Atomwaffen? Gerade auch in diesem Punkt müsste die Kirchen warnen vor einem Schritt, der unabsehbare Folgen haben könnte. 

Aber die Kirche schweigt, wie sie auch schweigt zu der zwischen Biden und Scholz vereinbarten Stationierung von Mittelstreckenraketen auf dem Gebiet der Bunderepublik. Haben wir nicht vor 40 Jahren vehement dagegen protestiert unter Berufung auf ein Widerstandsrecht, das Blockaden an Raketenstandorten, die zwar illegal sind, doch angesichts der damit verbundenen Gefährdung des Lebens legitim zu nennen sich anheischig machte!?  Anfragen an bedenkliche Entwicklungen, die dabei nicht einmal darauf eingehen, dass an den russisch-ukrainischen Fronten auf beiden Seiten täglich Soldaten verletzt werden und sterben. Ein Morden, das gen Himmel schreit! 

Hinweis: In einer früheren Version des Textes stand, dass eine Stationierung von Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen in Deutschland vorgesehen sei. Bislang ist aber nur die Stationierung von konventionellen Mittelstreckenraketen geplant. Wir haben den Text entsprechend geändert.

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Foto: privat

Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


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