Splitternackt

Das Leben der Etty Hillesum

Im Nachhinein betrachtet war Etty sehr gefährlich“, sagte ihre Freundin Leonie Snatager lange nach Ende der deutschen Besatzung. „Ich würde heute hier nicht sitzen, wenn ich mich nicht von ihr gelöst hätte.“ In Amsterdam hatten sie zum Kreis um den Psychotherapeuten Julius Spier gehört, dem beide viel verdankten, Etty Hillesum (1914–1943) auch ihre Wendung zur „inneren Welt“. Das machen ihre „Tagebücher und Briefe 1941–1943“ fesselnd zugänglich (vergleiche zz 12/2023).

Leonie war gegen Ettys Willen untergetaucht, sie selbst nicht, obwohl Freunde sie dazu drängten. „Und das Verrückte ist: Ich fühle mich nicht in ihren Fängen, weder wenn ich bleibe, noch wenn ich abtransportiert werde, ich werde mich immer nur in Gottes Armen fühlen. Man wird mich vielleicht körperlich zugrunde richten können, aber mir weiter nichts anhaben können“, notiert sie im Juli 1942. Als Todesdatum nennt das Rote Kreuz den 30. November 1943. Dann wäre sie nicht gleich nach Ankunft des Transportes vom 7. September ins Gas geschickt, sondern noch zur Zwangsarbeit selektiert worden. Bloß sechs der 987 mit ihr in diesem Zug Deportierten überlebten Auschwitz.

Judith Koelemeijer schildert im letzten Kapitel beide Versionen, da man es eben nicht weiß. In der Längeren werden die Frauen nach der „Sauna“, wo man sie kahl rasiert, entlaust und ihnen auf den linken Unterarm eine Nummer tätowiert hat, zur eisig kalten „Dusche“ in ein anderes Gebäude getrieben: „Splitternackt wurden die Frauen nach draußen gejagt.“ Es hat seither viele bewegt, dass sie zuvor keinen Weg zur Rettung suchte. Die Frage nach dem Warum grundiert auch Koelemeijers erzählende Biografie, für die sie Interviews führte, Archive durchstöberte, die Etty-Hillesum-Literatur auswertete und selbst Funde machte, darunter Leonies Therapiebuch. Auch leuchtet sie den russischen Familienhintergrund von Ettys Mutter aus, der bisher im Dunkeln lag. Zum Verstehen trägt das aber wenig aus. Denn Russophilie und schwärmerische Leidensverklärung sind nicht deshalb bei ihr so ausgeprägt. Kritische Bohrungen zum Faible für Rainer Maria Rilke, Dostojewski und Carl Gustav Jung oder die Bergpredigt führten da weiter. Das hier gezeichnete Bild ihrer Kernfamilie ist dennoch aufschlussreich. Die amourösen Seitenwege des stillen Vaters haben dabei einen eignen Reiz. Zentrale Blickachse bleiben aber die „Tagebücher und Briefe“, die Koelemeijer versiert als Quelle nutzt, da ihre Protagonistin nun mal ganz und gar in ihnen steckt.

Ihre Biografie ermöglicht einen guten Einstieg in den Etty-Hillesum-Kosmos, den sie prägnant mit vielen Details in den Alltag der Besatzung einbettet. Wie sie Kontakte zur zionistischen Szene in Ettys Jugend oder später zum aktiven Widerstand schildert, schärft den Kon­trast zu ihrem Entschluss angesichts der Vernichtung.

Wie so oft hat indes auch diese erzählerische Annäherung ihre blinden Flecken, weil die Vorstellung begrenzt ist. So zeigt Koelemeijer Ettys sympathische erotische Radikalität zwar zutreffend, fällt aber selbst im Stil weit dahinter zurück, wenn sie – auf diesem Terrain auffällig mutmaßend – etwa davon ausgeht, dass deren Liebhaber nicht voneinander ahnten. Das erscheint so unangemessen wie prüde. Auch der Ton ist hier vielfach heikel blümerant. Ettys „Tagebücher“ treten da schon deutlicher ins Unverstellte. Angesichts ihrer mittlerweile vielfältigen Vereinnahmung – als Feministin, Mystikerin oder Pazifistin – ist manches Detail hingegen angenehm entmythologisierend, etwa wenn sie Etty als konventionell eifersüchtig in Bezug auf Julius Spier enttarnt – über den ihre Freundin Swiep befand: „Reden konnte er! Wie ein Bußprediger. Ein intellektueller Leichtfuß. Er saß immer da wie ein Pascha, und um ihn im Kreis die Schar derer, die ich mal christliche Jungfrauen nennen will.“

Aperçus, die Koelemeijer aufspießt, ohne dass ihre Sympathie für Etty je in Zweifel steht. Unbedacht bleibt eine dritte, hypothetische Auschwitz-Version: Was hätte Etty im Fall des Überlebens – man denke an Jorge Semprún, Robert Antelme oder Primo Levi – wohl dann im Rückblick über all jene „innere Welt“-Sichten zu bergpredigender Wehrlosigkeit, unbedingter Feindesliebe oder schicksalhafter Verbundenheit mit ihrem Volk gesagt? Das weitere Beschäftigen mit ihr, das unbedingt lohnt, sollte dies als eine zentrale Frage wählen.

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