Kein Widerstand gegen die Nazis

Ein Kampf für eine freie Kirche und ein Kompromiss: 90 Jahre Barmer Synode
Ein Reprint der „Barmer Zeitung“ vom 31. Mai 1934 mit einem Bericht über die Synode.
Foto: epd-bild/Uwe Möller
Ein Reprint der „Barmer Zeitung“ vom 31. Mai 1934 mit einem Bericht über die Synode.

Sie waren meist alles andere als Nazi-Gegner, die knapp 140 Synodalen, die vor 90 Jahren bei der ersten Bekenntnissynode Ende Mai 1934 in Wuppertal-Barmen ihre berühmte Erklärung erarbeiteten. Und in das Reich der Legende gehört wohl auch das viel zitierte Bonmot Karl Barths, die Lutheraner hätten sich einem Mittags­schlaf hingegeben, während er wach geblieben und den Text allein verfasst habe. Dies erklärt der Kirchenhistoriker Thomas Martin Schneider.

Sie hätte eine vorbildliche Gestalt der Kirchengeschichte werden können: Stephanie von Mackensen, die einzige Frau unter 139 Synodalen auf der ersten Reichsbekenntnissynode, die vor 90 Jahren, vom 29.–31. Mai 1934, in Wuppertal-Barmen tagte und unter anderem die berühmte Theologische Erklärung verabschiedete. Auf dem Foto auf der Titelseite der „Barmer Zeitung“ von damals sticht sie im hellen Kostüm in der Mitte von lauter dunkel gekleideten kirchenleitenden Männern deutlich hervor. Aus heutiger Sicht eignet sich Mackensen leider nicht als Vorbild, weil sie seit 1932 Mitglied der NSDAP war und sich 1938 sogar erfolgreich gegen ihren Parteiausschluss wehrte, der wegen ihres bekenntniskirchlichen Engagements angestrebt wurde. Genau wie Mackensen dachten die allermeisten männlichen Synodalen. Das, was für uns heute kaum verständlich ist, war für die große Mehrheit der Delegierten von Barmen offenbar kein Problem: den Kampf für eine freie Kirche mit einer Zustimmung zum Nationalsozialismus in Einklang zu bringen.

Mit der Barmer Erklärung verfolgte man deshalb auch keine politischen, geschweige denn widerständigen Absichten. Der Hauptverfasser, der Schweizer reformierte Theologe Karl Barth, damals bereits ein bekannter Professor an der Bonner Universität, erinnerte sich 30 Jahre später: „Die Barmer Synode und diese Theologische Erklärung waren ja damals eine strenge theologisch-kirchliche Angelegenheit, und von vielen Seiten wurde größtes Gewicht darauf gelegt zu beteuern, behüt’ uns Gott davor, daß das irgend etwas mit Politik, vielleicht mit oppositioneller Politik zu tun haben könnte! Nein! Es geht uns nur um die Kirche, nur ums Evangelium und seine Reinheit.“ Barth, der dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstand, war sich darüber im Klaren, dass es eine unpolitische Haltung eigentlich gar nicht geben kann. Er fügte deshalb sofort hinzu: „Faktisch aber hat diese Barmer Synode damals, ob wir es wollten oder nicht, auch ihre hochpolitische Bedeutung gehabt.“

Totalitäre Ideologie

Wie ist das zu verstehen? Für gewöhnlich stützen diejenigen, die sich aus der Politik heraushalten wollen, faktisch die herrschenden Machtverhältnisse – ein Vorwurf, den sich auch die Bekennende Kirche, die sich in Barmen formierte, immer wieder gefallen lassen musste. Die nationalsozialistischen Machthaber stuften allerdings den sogenannten „Kirchenkampf“ zwischen den „Deutschen Christen“ und der Bekennenden Kirche, je länger, je mehr, als politisch oppositionell ein. Denn ihrer totalitären Ideologie entsprechend, wollten sie sämtliche Bereiche der Gesellschaft, also auch die damals durchaus noch einflussreichen Kirchen, gleichschalten. Das bekam sogar Stephanie von Mackensen zu spüren, die selbst glimpflich davonkam, deren Ehemann aber im Zuge des Parteigerichtsverfahrens seinen Posten als Vizepräsident der Provinz Pommern verlor.

In einer hochpolitisierten Zeit mit agitatorisch aufgeputschter ideologischer Stimmung, in der erwartet wurde, dass alle stets freudig miteinstimmten in den Ruf „Heil Hitler!“ und ein unbeteiligtes Abseitsstehen bereits als Verrat galt – in einer solchen Zeit galt die heutzutage ganz harmlos anmutende Beanspruchung eines kirchlichen Freiraums, in dem man nichts weiter tun wollte, als „Theologie und nur Theologie zu treiben“, bereits als ein Politikum. Das hatte Barth so bereits knapp zwei Jahre zuvor in seiner programmatischen Schrift „Theologische Existenz heute!“ ausgeführt. Mit dieser Schrift hatte er auf den erzwungenen Rücktritt Friedrich von Bodelschwinghs reagiert, der nur 30 Tage lang erster Reichsbischof der neu gegründeten Deutschen Evangelischen Kirche gewesen war. Durch die Schaffung der Reichskirche und Bodelschwinghs Wahl hatten die kirchlichen Repräsentanten gehofft, die Gleichschaltung der Kirche noch abwenden zu können. In der „Theologischen Existenz heute!“ hatte Barth das nun heftig kritisiert: Man habe sich überstürzt auf (kirchen-)politisches Terrain begeben, ohne dies theologisch weiter zu reflektieren, und auf diesem Terrain habe man gegen den übermächtigen Zeitgeist nur verlieren können. Notwendig aber sei, so Barth, ein geistliches Widerstandszentrum.

In diesem Punkt traf Barth sich ungeachtet aller Differenzen mit den Vertretern des lutherischen Flügels der Bekennenden Kirche. Diese klammerten sich an die lutherischen Bekenntnisschriften aus dem 16. Jahrhundert, mit denen sie sich vor den Gefahren der aktuellen Ideologie immunisieren wollten. Die Barmer Erklärung war ein historisch bemerkenswerter Brückenschlag zwischen Kirchenleuten, die stark von der Wort-Gottes-Theologie Barths geprägt waren, und traditionell lutherisch geprägten Kirchenleuten. Während jene sich vor allem in den von den „Deutschen Christen“ beherrschten unierten Landeskirchen wie in Preußen zu oppositionellen Bruderräten zusammengeschlossen hatten, hatten diese ihre Basis in den sogenannten „intakten“ lutherischen Landeskirchen Bayern, Hannover und Württemberg, in denen die „Deutschen Christen“ das Kirchenregiment nicht hatten erobern können.

Wenn Barth auch der Hauptverfasser der Barmer Erklärung war, so waren doch lutherische Theologen, vor allem der frühere Altonaer Pfarrer Hans Asmussen und der bayerische Oberkirchenrat Thomas Breit, von Anfang an an der Abfassung beteiligt. Das viel zitierte Bonmot Barths, die Lutheraner hätten sich einem Mittagsschlaf hingegeben, während er wach geblieben und den Text allein verfasst habe, gehört wohl eher in das Reich der anekdotenhaften Legenden.

Die Barmer Erklärung war ein aktuelles Bekennen allgemeiner reformatorischer Grundwahrheiten. Sie war zugleich eine – Barthianer und Lutheraner miteinander verbindende – „antimodernistische Absage“ (Martin Honecker) an den liberalen Kultur- und Neuprotestantismus, den man für die Irrlehren der „Deutschen Christen“ verantwortlich machte. Hier haben insbesondere die Warnungen davor, Botschaft und Ordnung der Kirche „dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen [zu] überlassen“ (These III, ähnlich These VI), ihren Sitz im Leben.

„Verwüstung der Kirche“

Bereits in der „Theologischen Existenz heute!“ hatte Barth die „fatale Theologie des 19. Jahrhunderts“ für den „theologischen Modernismus bei den ‚Deutschen Christen’“ verantwortlich gemacht. Das deckte sich mit der Einschätzung Asmussens, der in seinem Einbringungsreferat auf der Synode betonte, die Theologische Erklärung erhebe Protest „gegen dieselbe Erscheinung, die seit mehr als 200 Jahren die Verwüstung der Kirche schon langsam vorbereitet hat“.

Die Tatsache, dass die Barmer Erklärung nur im Zusammenhang mit dem Referat Asmussens angenommen wurde, und zwar einstimmig, zeigt, dass diese Interpretation keine Einzelmeinung war.

Der Kompromisscharakter der Barmer Erklärung zeigt sich auch in der Spannung zwischen den Thesen II und V. Während jene Barths Lehre von der „Königsherrschaft Christi“ entspricht und dem Totalitätsanspruch der Nationalsozialisten gewissermaßen den Totalitätsanspruch Christi entgegenstellt, entspricht diese der lutherischen Lehre von den zwei zu unterscheidenden Regimenten. Barths exklusives Offenbarungsverständnis spiegelt These I, die im Übrigen an die allgemein-reformatorischen Exklusivpartikel „solus Christus“ und „sola scriptura“ erinnert und dabei den Wortlaut des Heidelberger Katechismus (Frage 1) aufgreift. In den Thesen III und VI dagegen klingt das Kirchenverständnis des lutherischen Augsburger Bekenntnisses (Artikel VII) an. These IV ist eine Absage an das Führerprinzip im kirchlichen Bereich, kann aber wohl auch als Abgrenzung gegenüber dem katholischen Amts- und Kirchenverständnis verstanden werden. Dass die Barmer Erklärung keineswegs intendierte, die verschiedenen evangelischen Konfessionen miteinander zu vermischen und eine Einheitskirche anzustreben, machen Prolog und Epilog unmissverständlich deutlich.

Die Barmer Erklärung wurde bald zu einem der bekanntesten Dokumente der evangelischen Kirchengeschichte Deutschlands – mit Wirkungen weit über den deutschen Raum und die evangelische Kirche hinaus. In vielen, insbesondere reformierten und unierten Kirchen hat sie den Rang eines Bekenntnisses erlangt, auf das Pfarrerinnen und Pfarrer bei der Ordination verpflichtet werden. Sie wird nicht nur als „Magna Charta“ der Bekennenden Kirche, sondern auch als Dokument kirchlichen Widerstandes rezipiert.

„Barmen-Jubiläen“ wurden und werden regelmäßig gefeiert. „Barmen“ hat Künstlerinnen und Künstler inspiriert. Eine Briefmarke ist dem Thema gewidmet. Es gehört zu den verbindlichen Inhalten des evangelischen Religionsunterrichtes. Theologisch und politisch hat man „Barmen“ für ganz unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Interessen in Anspruch genommen. Auf „Barmen“ beriefen sich gleichermaßen Konservative, Evangelikale, Lutheraner, Reformierte, Unierte, politisch Progressive, Marxisten-Leninisten und Antimarxisten, DDR-Kritiker und DDR-Befürworter, CDU und SPD. 

Neue Israel-Theologie

„Barmen“ wurde zur Begründung einer neuen Israel-Theologie herangezogen, aber auch als damit gänzlich unvereinbar angesehen; Entsprechendes gilt für die evangelisch-katholische Ökumene. Die sozialen Protestbewegungen haben sich auf „Barmen“ berufen, vom Kampf gegen die Apartheid bis zum Kampf gegen Kapitalismus und Globalisierung, aber auch deren konservative Gegner. „Barmen“ konnte entweder insgesamt – nicht selten euphorisch – positiv oder, wie von liberaler, jüdischer und islamischer Seite, wegen des christologischen Exklusivitätsanspruchs eher negativ bewertet werden.

Durch die Berufung auf „Barmen“ wollte man sich einen höheren Legitimationsgrad für die jeweils eigenen Ziele verschaffen. Schon 1984 urteilte der Jurist Martin Kriele: „In der Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung leiht man sich etwas von dem Pathos des Widerstands, der Redlichkeit, der Klarsicht, des Mutes, des Erfülltseins vom Heiligen Geist. Ein wenig von der Dankbarkeit und Ehrfurcht […] mag dann auch auf die Positionen abgeleitet werden, die sich heute auf die Barmer Erklärung beziehen.“ Die Wirkungsgeschichte der Barmer Erklärung ist ein Lehrbeispiel dafür, wie sich die Rezeption eines bedeutsamen Textes gewissermaßen verselbständigen und dessen ursprüngliche, eher theologisch-konservative Intention gleichsam überlagern kann.

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Foto: Universität Koblenz / Kristine Schulz

Thomas Martin Schneider

Dr. Thomas Martin Schneider ist außerplanmäßiger Professor und Akademischer Direktor am Institut für Evangelische Theologie der Universität Koblenz.


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