Das Grundgesetz ergänzen

Vier Verbesserungsvorschläge für unsere Verfassung
Nahaufnahmen
Foto: picture alliance/Westend61

Durch Alter benachteiligt

Altersdiskriminierung ist weit verbreitet, sagt Ferda Ataman, die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung. Eine Grundgesetzänderung könnte hier helfen.

Vor fünf Jahren, zum 70. Geburtstag unserer Verfassung, hat eine repräsentative Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gezeigt: Über 85 Prozent halten das Grundgesetz für eine der größten Errungenschaften der Bundesrepublik. Damit die Zustimmung so hoch bleibt, müssen wir uns immer wieder vergegenwärtigen: Das Grundgesetz ist ein lebendiges Dokument, das gelegentlich und nach guter Abwägung der Zeit angepasst werden muss. Nur so bleibt es stark gegen jede Form der Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung.

Ein Thema, das dabei oft übersehen wird, ist das Lebensalter. Diskriminierung aufgrund des Lebensalters ist verbreitet: Ältere Menschen haben oft keine Chance mehr bei der Jobsuche. Es wird erwartet, sie mögen sich bitte still aufs Altenteil zurückziehen. Und junge Menschen? Kinder dürfen nicht mitreden, wenn es um ihre eigenen Anliegen geht. Berufsanfänger:innen kommen nicht voran, weil sie für zu jung gehalten werden für Verantwortung.

15 Prozent der Menschen, die sich an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden, wurden aufgrund ihres Alters diskriminiert. Das kann allen im Laufe des Lebens passieren. Und dennoch wird das Thema kaum wahr- oder ernst genommen von denen, die gerade nicht betroffen sind.

Ich würde mir daher wünschen, dass wir das Lebensalter in Artikel 3 Grundgesetz aufnehmen. Das wäre ein deutliches Zeichen für Anerkennung und Sichtbarkeit. Und über die – starke – Symbolik hinaus hätte es konkrete Auswirkungen. Das Bundesverfassungsgericht könnte zum Beispiel leichter überprüfen, ob Altersgrenzen in Gesetzen und Verordnungen fallen müssten.

Es ist doch eigentlich absurd: Unser demografischer Wandel spricht absolut dafür, dass wir sowohl die wachsende Zahl älterer Menschen besser schützen als auch die kleiner werdende Zahl jüngerer Menschen.

Wir könnten uns ein Beispiel nehmen an europäischen Nachbarn: In Finnland, Schweden, Portugal und der Schweiz findet sich das Verbot von Altersdiskriminierung bereits in der Verfassung. Diese Länder haben ein Zeichen gesetzt – und damit das Bewusstsein für das Thema verändert.

Ferda Ataman

 

Kinderrechte überfällig

Junge Menschen haben einen besonderen Anspruch auf Schutz, sagt Daniel Grein, Bundesgeschäftsführer des Kinderschutzbundes. 

Das Grundgesetz ist nicht nur eine Ansammlung von Artikeln – es hat Leuchtturmcharakter. Es ist das Bekenntnis unserer Nation dazu, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Und es definiert den Maßstab, an dem sich jede politische Maßnahme und jedes Urteil – gleich welcher Ebene – zu orientieren hat. Artikel 3 des Grundgesetzes etwa hält fest, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind. Und er gemahnt zugleich: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

Und so, wie die Verfassung bei der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau einen rechtlichen und gesellschaftlichen Prozess vorangetrieben hat, so muss dies auch mit der Stellung von Kindern und Jugendlichen in dieser Gesellschaft passieren. Denn ihre Rechte fehlen hier. 

In Deutschland gilt die UN-Kinderrechtskonvention seit 1992. Sie ist bindendes Recht. Aber in alltäglicher Rechtsprechung, in der Frage von politischen Entscheidungen oder gesellschaftlichen Haltungen, ist sie kaum wahrnehmbar. Natürlich bezieht das Bundesverfassungsgericht, als oberste Instanz, ihre Regelungen in seine Rechtsprechung ein – die Strahlkraft, die die Kinderrechte mit einer Verankerung im Grundgesetz hätten, wird aber nicht erreicht. 

In Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche in der Grundrechtsabwägung einer Pandemie quasi vergessen wurden, in denen die junge Generation um den Fortbestand der Lebensgrundlagen eines Planeten fürchtet, in denen nahezu die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler im Rentenalter ist und Kinder und Jugendliche eine kleiner werdende Minderheit sind, muss eine Gesellschaft jungen Menschen versprechen: Wir sehen und wir hören euch. Eure Rechte sind deshalb Teil des Grundgesetzes. 

Junge Menschen haben in ihrer jeweiligen Lebenssituation spezifische Rechte auf Schutz, auf Förderung und auf Beteiligung, die ihnen durch ihre Aufnahme in die Verfassung explizit gewährt werden müssen. Dass dies schon so lange so strittig ist, zeigt, dass eine Verankerung eben kein symbolischer Akt ist. Sondern, dass die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung ein wirksames Mittel ist, diese Gesellschaft kinderfreundlich zu gestalten.

Kinderrechte stärken Kinder und ihre Familien und schränken nicht – wie gelegentlich behauptet – die Rechte ihrer Eltern ein. 

Dem guten Wirken des Grundgesetzes kann man zu 75 Jahren nur gratulieren, aber wenn man nicht nur auf Vergangenes zurückschauen möchte, sondern auch für die Zukunft eine zeitgemäße moderne und wegweisende Verfassung haben möchte, ist es überfällig, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen und damit nicht bis zum 100. Geburtstag zu warten.

Daniel Grein

 

Kultur als Staatsziel

Trotz zwei Jahrzehnten Debatte und einer Absichtserklärung im Koalitionsvertrag der Ampel ist die Verankerung von Kultur als Staatsziel im Grundgesetz in weiter Ferne, bedauert Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von zeitzeichen.

Die Verankerung eines Staatsziels Kultur im Grundgesetz war bereits mehrfach Gegenstand intensiver kulturpolitischer Debatten und Überlegungen. Eine eingehende Befassung mit dem Staatsziel Kultur fand im Rahmen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Kultur in Deutschland“ vor zwei Jahrzehnten statt. In ihrem Zwischenbericht zeichnete die Enquete-Kommission die verfassungsrechtliche Debatte um das Staatsziel Kultur nach. Ebenso werden die in den Landesverfassungen getroffenen Bestimmungen zum Staatsziel Kultur wie auch die Staatszielbestimmungen ausgewählter EU-Mitgliedsstaaten dargestellt. 

Die Mitglieder der Enquete-Kommission, zu denen auch ich zählte, hatten sich in ihrem Zwischenbericht einstimmig für die Ergänzung des Grundgesetzes um einen Artikel 20b Grundgesetz mit dem Wortlaut „Der Staat schützt und fördert die Kultur“ ausgesprochen. Der genannte Zwischenbericht wurde zusammen mit dem Schlussbericht der Enquete-Kommission im Plenum des Deutschen Bundestags am 13. Dezember 2007 debattiert. In dieser Debatte wurde sich noch einmal ausdrücklich für das Staatsziel Kultur im Grundgesetz ausgesprochen.

Seither wird vom Deutschen Kulturrat vor jeder Bundestagswahl an die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien die Frage gerichtet, ob sie sich in der anstehenden Wahlperiode für das Staatsziel Kultur einsetzen werden. Auch wenn vor der Wahl einige Parteien Sympathie für das Staatsziel Kultur erkennen lassen, findet es in dem jeweiligen Koalitionsvertrag der vergangenen 20 Jahre kaum oder nur verschämt Erwähnung. Anders im Koalitionsvertrag der aktuell regierenden „Ampel-Regierung“ von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Sie schreiben: „Wir wollen Kultur in ihrer Vielfalt als Staatsziel verankern …“.

Doch an der Umsetzung hapert es bislang. Der Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags führte am 20. September 2023 eine Anhörung zur Einführung des Staatsziels Kultur durch. Bei dieser Anhörung wurde deutlich, dass die CDU/CSU-Fraktion einem entsprechenden Gesetzesentwurf nicht zustimmen und damit die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Deutschen Bundestag nicht erreicht würde. Der Vorwand für die Ablehnung wurde von den Ampelfraktionen frei Haus geliefert, indem nicht mehr auf den einstimmig verabschiedeten Satz der Enquete-Kommission verwiesen wird, sondern explizit Kultur in ihrer Vielfalt Erwähnung findet. Das ist letztlich eine Tautologie, denn Kultur ist per se vielfältig. 

So ist aktuell, 75 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes, die Verankerung des Staatsziels Kultur erneut in weite Ferne gerückt. Das ist sehr, sehr bedauerlich.

Olaf Zimmermann

 

Klima und Kommunen

Damit Bund und Länder die Kommunen beim Klimaschutz unterstützen können, muss der Gesetzgeber das Grundgesetz ändern, meint Franziska Ortgies, Referentin für Kommunalen Klimaschutz bei der Klima-Allianz Deutschland. 

Vor unserer Haustür, in den Kommunen, erleben wir, wie Klimaschutz für mehr Lebensqualität sorgen kann: mehr Grün und schattige Plätzchen, sichere Radwege, das Windrad finanziert die Kita mit. Städte und Gemeinden haben eine Schlüsselrolle in der sozial gerechten Umsetzung von Klimaschutz. Für Kommunen zählt Klimaschutz jedoch aktuell nicht zur Daseinsvorsorge. Das heißt, sie müssen bei klammen Kassen anderen Ausgaben den Vorrang geben. Sie sind darauf angewiesen, sich von einem Förderprogramm zum nächsten zu hangeln, ohne eine langfristige Finanzierungsgrundlage für kommunalen Klimaschutz zu haben. So werden wir den Herausforderungen der Klimakrise nicht gerecht.

Kommunen sind bereits heute durch unser Grundgesetz zu Klimaschutz verpflichtet: Der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 gilt auch für sie. Das Gericht leitet aus dem Grundgesetz eine Pflicht zur „Herstellung von Klimaneutralität” sowie eine „Schutzpflicht des Staates” ab. Kommende Generationen haben ein Recht auf den Erhalt ihrer Lebensgrundlagen. Die Kommunen stehen aber vor erheblichen Herausforderungen bei der Umsetzung dieser Aufgaben. Wer bezahlt die Sanierung von Rathaus und Schule? Wer organisiert die Wärmewende? Vielen Kommunen mangelt es an Geld und Personal, effizienten Verwaltungsverfahren und rechtlichen Grundlagen.

Wir setzen uns dafür ein, dass alle Menschen von sozial gerechtem Klimaschutz profitieren können – unabhängig vom Säckel ihrer Kommune. Damit Bund und Länder die Kommunen beim Klimaschutz finanziell unterstützen können, muss das Grundgesetz geändert werden. Als Klima-Allianz Deutschland setzen wir uns für eine „Gemeinschaftsaufgabe Klimaschutz und Klimaanpassung” im Artikel 91a Grundgesetz ein. Wir fordern alle demokratischen Parteien auf, hier an einem Strang zu ziehen, damit die nötige Zweidrittelmehrheit im Bundestag zustande kommt. 

Franziska Ortgies

 

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Ferda Ataman

Ferda Ataman ist Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung und Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Berlin.

Foto: Klima-Allianz Deutschland

Franziska Ortgies

Franziska Ortgies ist Referentin für Kommunalen Klimaschutz bei der Klima-Allianz Deutschland


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