Wir waren’s nicht!
Der Theologe und zeitzeichen-Kolumnist Klaas Huizing forderte wenige Tage nach Erscheinen der ForuM-Studie zum Missbrauch im Raum der evangelischen Kirche nichts weniger als eine Neuformatierung der evangelischen Theologie. Ihm widersprach Johannes Fischer. Ariane Schneider, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Kirchen- und Gemeindetheorie (KÖW) an der MLU Halle-Wittenberg, meint, dass beide in ihren Analysen an falscher Stelle unterwegs sind.
Schon die Überschriften der Beiträge von Klaas Huizing vom 31. Januar und Johannes Fischer vom 12. Februar zu der ForuM-Studie lassen aufhorchen: „Toxische Traditionen“ und „Ist Luthers Lehre schuld?“ Beide nehmen damit Aspekte auf, die der Mitverfasser der Studie, Thomas Großbölting in einem Interview im Deutschlandfunk zu deren Veröffentlichung selbst als Risikofaktoren nennt.
Aufhorchen lassen sie mich, weil damit auf vermeintlich objektive Sachen verwiesen wird, die von den Akteuren in Kirche und Diakonie wegweisen, auf etwas Gegenständliches: Traditionen, Rechtfertigungslehre oder Strukturen, wie die von Großbölting zuvor genannten Machthierarchien (katholisch) und Nichtstrukturen mit daraus folgender Verantwortungsdiffusion (evangelisch). Das wird von Huizing bestätigend aufgenommen.
Klaas Huizing leitet daraus fünf geradezu monumentale Aufgabenfelder ab, mit denen seine Auseinandersetzung mit der ForuM-Studie zugleich einen fundamental theologischen Drift bekommt: (1) Aufhellung der Anthropologie, (2) Stärkung der Opferperspektive, (3) Aufarbeitung der christlichen Mentalitätsgeschichte, (4) eine aufgeklärte Leibtheologie, einschließlich Erarbeitung von Situationskompetenz und Schulung der Selbstwirksamkeit, sowie (5) eine grundsätzliche Durcharbeitung religiösen Vokabulars. Das ist kritisch und groß gedacht, verlässt aber zugleich den Bereich kirchlicher Praxis, den die Studie empirisch analysiert: die innerkirchliche Handlungspraxis und deren blinde Flecke, insbesondere den des innerkirchlichen Missbrauchs.
Fokus verschoben
Johannes Fischer reagiert darauf aus theologisch-hermeneutischer Perspektive. Er wirft Huizing eine „Instrumentalisierung der Theologie für innerweltliche Zwecke“ vor und rechtfertigt die Rechtfertigungslehre, indem er sie in ihren historischen und theologischen Kontext stellt. Mit diesem „Move“ verschiebt er den Fokus vollends weg von der Wahrnehmung der Betroffenen, die mit der Rechtfertigungslehre die innerkirchliche Legitimierung einer Schuldumkehr verbinden.
Mit der introspektiven Frage, „ob und wenn ja in welchem Ausmaß die protestantische Rechtfertigungslehre und das lutherische Sündenverständnis auf Seiten der Täter des sexuellen Missbrauchs eine Rolle gespielt haben. Was wissen wir über die innere Einstellung der Täter, über ihr Schuldbewusstsein, über ihren Umgang mit Schuld ...“, hinterfragt Fischer nicht nur die Wahrnehmung der Betroffenen – er macht die Täter sogar zum Prüfstein für die Behauptung, damit werde Missbrauch innerkirchlich entschuldigt.
Auf der Strecke bleibt dabei die Unterscheidung zwischen der Rechtfertigungslehre und dem Gebrauch, der innerkirchlich von ihr – in welcher Fehldeutung auch immer - gemacht wird. Das aber ist doch, worum es in der empirischen Forschung geht: nicht nur zu beschreiben, was war, sondern zu rekonstruieren, wie bestimmte Faktoren in der Praxis dazu beigetragen haben. Ebenso wenig geht es um eine individuelle Engführung von Tätern und Opfern. Daher ist auch Margot Käßmanns in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 26.01. medial verbreitete Erkenntnis „Die Täter waren mitten unter uns“ irreführend. Auch hier wird, bei aller Betroffenheit, eine Brandmauer errichtet zwischen einem Wir, das jetzt Verantwortung übernimmt und Maßnahmen ergreift und „den Tätern“, die nicht Teil dieses Wir sind. Oder andersherum: Wir sind nicht die Täter.
Sachlichkeit suggeriert
Aber geht es der Studie nicht eigentlich um etwas anderes, nämlich offenzulegen, wie eine Phantom-Normalität konstruiert wird, welche uns blind macht für das, was nicht in unser Bild von Kirche passt? Geht es nicht um Kirche als Ermöglichungsrahmen für Beziehungen, die den Betroffenen oft erst nach Jahrzehnten als das verständlich werden, was sie waren: Missbrauch? Diesen Rahmen bilden wir, wir alle als christliche Gemeinschaft. Möglicherweise sind die in der Kirche etablierten strukturtheoretischen und theologisch-hermeneutischen Perspektiven dabei selbst Teil des Problems. Sie suggerieren eine sachliche, von den unbewussten Haltungen und Normalitätsvorstellungen kirchlicher Akteur unabhängige, Bearbeitung auf der Ebene unserer versprachlichten und bewussten Gedanken, also gemeinhin der „Vernunft“. Das, was wir einander mitteilen, wenn wir darüber nachdenken, ist jedoch oft erst die sekundäre Begründung für unsere gewohnte Praxis und die nichtbewussten Einstellungen und Erfahrungen, die diese Praxis leiten. Primär bestimmt diese unhinterfragte Praxis über die Strukturen, die wir stärken und die Legitimierungen, die wir dafür konstruieren. Theologisch ließe sich hier natürlich an die Sündenlehre anschließen: Wir machen uns und Gott gerne etwas vor und glauben unseren eigenen Begründungen.
Die ForuM-Studie ist deshalb ein wichtiger Impuls für die Kirchentheorie und den professionstheoretischen Diskurs innerhalb der Kirchen, insbesondere in der Ausbildung und Begleitung kirchlicher/diakonischer Akteure, auch auf Gemeindeebene. Denn die kirchliche Gemeinschaft auf allen Ebenen, also wir, bilden den Rahmen, in dem Wahrnehmungen und Erfahrungen, die unseren eigenen Normalitätsvorstellungen nicht entsprechen, für die Betroffenen schwer einzuordnen und noch schwerer zu benennen sind.
Ariane Schneider
Dr. Ariane Schneider ist Weltanschauungsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Kirchen- und Gemeindetheorie (KÖW), an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.