Wem gehört Sophie Scholl?

Die Mitglieder der Weißen Rose waren kein Mainstream und wären es auch heute nicht
Foto: Frederika Hoffmann

Sophie Scholl und die Weiße Rose wurden schon immer kontrovers gedeutet. Die Interpreten bezichtigen dabei einander der Fehl- und Umdeutung, Vereinnahmung, Instrumentalisierung oder des Missbrauchs. Wem gehört Sophie Scholl?

Inge Aicher-Scholl, dem ältesten der Schollkinder, ist es zu verdanken, dass die Gruppe nicht vergessen wurde. Sie war überzeugt, ihre Geschwister hätten sich märtyrergleich für ein besseres Deutschland geopfert. Lange Zeit gehörte Sophie Scholl diesem verklärenden Familienbild. Als 1968 Christian Petrys historisch-kritische Arbeit „Studenten aufs Schafott. Die Weiße Rose und ihr Scheitern“ diesem Narrativ widersprach und die Gruppe als politisch naive, glücklose Idealisten beschrieb, bekämpfte Aicher-Scholl ihn mit bitterer Verve. Es dauerte bis 2008, als Sönke Zankel an Petry anknüpfte und in seiner grundlegenden wissenschaftlichen Gesamtdarstellung „Mit Flugblättern gegen Hitler“ auf Hans Scholls Prozess wegen Homosexualität hinwies, antijudaistische, demokratie­ferne Formulierungen und den Gebrauch von Amphetaminen thematisierte. Vor allem relativierte er Sophie Scholls Rolle. Man warf ihm vor, er besudele damit die Widerständler. Noch gehörte Sophie Scholl den Hagiografen.

Sophies Anziehungskraft wuchs besonders durch die Filme von Percy Adlon und Michael Verhoeven (beide 1982) sowie Marc Rothemund (2005). Sie ist da der Mittelpunkt. Zwar war Hans Scholl eindeutig der führende Kopf des universitären Widerstands, doch die filmische Fokussierung prägte das öffentliche Bild. Sophie Scholl gehörte nun einem vereinfachten Ideal.

Erst die Biografien von Barbara Beuys (2010), Maren Gottschalk und des Verfassers (beide 2020) zeigen die junge Frau als Mensch und Kind ihrer Zeit mit Stärken und Schwächen. Sophie Scholl war in der Realität angekommen. Alle Interpretationen bestehen weiter nebeneinander, und mittlerweile gibt es kaum jemanden, der sich nicht mit Sophie Scholl schmückt. Akteure von politisch weit links bis rechts, von Antifaschisten bis AfD, schreiben sie auf ihre Fahnen, und in Gedenkstunden feiern Staatsvertreter sie als Ahnin der heutigen Demokratie.

Aber wem gehört Sophie Scholl? Darauf gibt es eine politische und eine emotionale Antwort. Politisch ist jede Gleichsetzung von Naziterror mit Demokratie, um Widerstand zu begründen, inakzeptabel. Verstehen kann man aber, wenn sich heute Menschen emotional mit Sophie und den anderen verbunden fühlen: Es faszinieren ihr Mut, die Entschiedenheit, ihre Bereitschaft, auch unter persönlichen Opfern dem Gewissen zu folgen, ihr Wille und ihre Glaubensstärke für das zu kämpfen, was sie für richtig erkannten. Für die eigene Überzeugung einzutreten, ist in einer Demokratie etwas anderes als im Totalitarismus; so müssen die Aktivisten der „Last Generation“ nicht um ihr Leben fürchten, aber schon ihre Gesinnung wird fatalerweise kriminalisiert und strafrechtlich verfolgt. Unbequemes wird aus dem Weg geräumt – wortwörtlich, so auch im Münchner Nationalmuseum, wo die Guillotine, mit der während der NS-Zeit 1180 Menschen geköpft wurden – unter ihnen die Mitglieder der Weißen Rose –, im Depot immer noch auf eine didaktische Präsentation wartet.

Sophie Scholl und die Weiße Rose waren kein Mainstream und wären es auch heute nicht. Liedermacher Konstantin Wecker dichtete über die Freiheitskämpfer: „Ihr wärt heute genauso unbequem / wie alle, die zwischen den Fahnen stehn, / denn die aufrecht gehn, sind in jedem System / nur historisch hoch angesehn.“ Es stimmt, Sophie Scholl gehört den Unbequemen, und zwar nicht nur jenen, die sympathisch sind, weil sie der eigenen politischen Gesinnung nahestehen. Sophie Scholl gehört den Individualisten, den Freiheitsenthusiasten, Nonkonformisten, Gewissensmenschen und besonders den Glaubensmutigen, denn ohne ihren Glauben hätten sie nicht widerstanden. Sophie Scholl gehört – im Rahmen von Grundgesetz und UN-Menschenrechten – allen, die sich engagieren, wie „Fridays for Future“, „Last Generation“, die widerständigen Frauen im Iran und LGBTQIA+-Aktivisten weltweit; sie gehört aber ebenso denen aus Antifa, AfD und Menschen wie dem Musiker Roger Waters, die sich mit ihr verbunden fühlen. Emotional gehört ihnen – mit vielen anderen – Sophie Scholl. Wenn man es politisch betrachten will, ist entscheidend, ob durch die Berufung auf sie die Freiheit anderer erweitert oder eingeschränkt wird.

Man kann die Weiße Rose rational, man kann sie emotional deuten. Im Leitsatz Sophie Scholls, den sie von Jacques Maritain übernahm, kommen beide Aspekte zusammen: „Il faut avoir un esprit dur et le coeur tendre.“ – „Man muss einen harten Geist und ein empfindsames Herz haben.“ Es gibt nicht nur die eine, kanonische Interpretation der Weißen Rose. Sophie und Hans Scholls letzte dokumentierte Worte waren „Freiheit“ und „Es lebe die Freiheit!“ Zur Freiheit gehört die Freiheit des Andersdenkenden. Der Freiheit gehört Sophie Scholl. 


 

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