Potenziale entfesseln

Die Ortsgemeinde hat eine Zukunft, wenn Kirche den Laien mehr zutrauen würde.
Holzfiguren u,m Holzkreuz
Foto: Hajo Rebers / pixelio.de

Die Ortsgemeinde hat keine Zukunft, schreibt Uta Pohl-Patalong in der Mai-Ausgabe von zeitzeichen. Der Professorin für Praktische Theologie widerspricht Jöns-Peter Schmitz, engagiertes Gemeindemitglied in Hamburg. Wenn die Kirche die Idee vom Priestertum aller Gläubigen ernst nähme und die Rolle der Laien in der Gemeinde stärken würde, hätte die Ortsgemeinde sehr wohl eine Zukunft. Doch dazu müssten einige Regeln fallen.

Ein „kippendes System“ befürchtet Uta Pohl-Patalong m. E. zu Recht in ihrem Artikel „Es geht nur exemplarisch – Warum die traditionelle Ortsgemeinde keine Zukunft hat in der Mai-Ausgabe von zeitzeichen.  Sie bezieht sich dabei auf das, was sie als „Prinzip der Kirchengemeinde vor Ort“ versteht. Ich frage noch skeptischer, ob nicht die evangelischen Landeskirchen insgesamt in ihren jetzigen Strukturen und ihrem (wie auch immer definierten) Verständnis als „Volkskirche“ am Kippen sind. Doch ich meine, dass geistlich blühende Ortsgemeinden in institutionell-organisatorisch reformierten Landeskirchen die Zukunft der Kirche sein werden.

Pohl-Patalong „erscheint es alternativlos zu sein, sich von dem ortsgemeindlichen Prinzip im Sinne [1] der Verbindung von Flächendeckung, [2] Angebotsspektrum und [3] persönlichem Kontakt zur Pfarrperson zu verabschieden“ und nennt durchaus gute Gründe dafür, im Wesentlichen den hohen Ressourceneinsatz und die Überlastung von System und Pfarrpersonen. Deshalb sollen andere „Formen von Gemeinden“ und „andere Formen kirchlichen Lebens“ neben exemplarische Ortsgemeinden gestellt werden.

Christliche Leuchttürme

Was sollten die Ziele einer solchen Reform sein? Sollte es bei einer solchen Reform primär um institutionelle und organisatorische Gestaltung der Kirche entsprechend soziologischen und praktisch-theologischen Erkenntnissen zum Erhalt ihrer Existenz und ihrer Zukunftsfähigkeit gehen? Welche geistlichen Gesichtspunkte sind von Bedeutung? Weithin findet das Dictum von Karl Barth Zustimmung: „ecclesia semper reformanda“ (Die Kirche muss beständig reformiert werden!) Allerdings wurden  längst versteinerte strukturelle Regelungen eben leider nicht reformiert! Pohl-Patalong zeigt dies völlig zu Recht an der „territorialen Logik“ der „Flächendeckung“ durch Ortsgemeinden, die auf das 4. Jahrhundert n. Chr. zurückgeht und auf der unseligen Verknüpfung von Kirche und Staat basiert. Weder das Prinzip der Flächendeckung noch andere Regelungen erscheinen mir aber konstitutiv zu sein für Ortsgemeinde oder Kirche; sie können – oder sollten sogar! – deshalb zur Disposition stehen. Auch ich meine, dass das Prinzip der Zuständigkeit von Ortsgemeinden zur Versorgung der Fläche fallengelassen werden sollte, auch wenn das für die eine oder andere nicht lebensfähige Gemeinde das Aus bedeuten würde. Aber fortbestehende geistlich lebendige Ortsgemeinden könnten weithin wirksame „christliche Leuchttürme“ im Land sein!

Konstitutiv für Kirche und Gemeinde ist der Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Die christliche Gemeinde entstand Pfingsten in Reaktion auf die Predigt des Petrus, als Zuhörer eine Lebensumkehr erfuhren, sich auf den Namen des gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus Christus taufen ließen und den Heiligen Geist empfingen. Aufgrund ihres Glaubens wurde die entstehende Gemeinde hinzugefügt (Apg 2, 37- 42). Die Gemeinde in Jerusalem wird aufgrund des gemeinsamen Glaubens zum Ort der „Fleischwerdung“ des Glaubens in Gemeinschaft, Verkündigung, gottesdienstlicher Anbetung sowie sakramentaler Feier und Dienst am Nächsten. So wird sie zum Prototyp für Gemeinden an anderen Orten.

Weil der gemeinsame Glaube das konstitutive, verbindende Element der Gemeinschaft ist, ist es von Bedeutung, was als Inhalt des Evangeliums verkündet wird. Während evangelische Landeskirchen es versäumt haben, sich in etlichen „Äußerlichkeiten“ ihrer Strukturen wirklich zu reformieren, hat sie den Kern ihrer Theologie umso fleißiger und wirkmächtiger „reformiert“. Die in universitärer Lehre, kirchlicher Praxis, Konfirmanden- und schulischem Unterricht herrschende reduktionistische liberale Theologie weckt aber leider weitgehend keinen Glauben, zumindest sofern sie nicht auch die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis aufzeigt und damit über ihren wissenschaftlich notwendigen methodischen Atheismus hinausweist. In der Konsequenz stärkt solche Theologie leider Vorbehalte gegen den christlichen Glauben, wie man beispielsweise daran erkennen kann, dass das sonntäglich gesprochene Apostolikum auch von vielen Kirchenmitgliedern nur noch in kleinen Teilen geglaubt beziehungsweise in etlichen Aspekten abgelehnt wird. Alexander Garth zeigt auf der Grundlage religionssoziologischer Untersuchungen in „Untergehen oder umkehren“ (Leipzig, 2021) auf, welche Folgen sich aus solcher Theologie für das (Nicht-) Gedeihen von Gemeinden ergeben. Deshalb brauchen wir eine theologische Neubesinnung, damit Gemeinden geistlich gedeihen können.

Diakonie und Gemeinde

Wo das Evangelium glaubensstärkend verkündigt wird und Menschen durch geistlich lebendigen Glauben verbunden sind, entsteht Einheit unter den Gläubigen! Der Leib Christi vor Ort kommt in der Ortsgemeinde zusammen in der ganzen Unterschiedlichkeit seiner Glieder und zwar regelmäßig und auf Dauer. Selbst wenn man einwenden mag, dies sei eine idealtypische Beschreibung, ist nicht zu leugnen, dass in Ortsgemeinden Menschen unterschiedlicher Generationen, Berufe, wirtschaftlicher Verhältnisse, Biografien und zum Teil auch Kulturen zusammenkommen, die es lernen, miteinander christlich umzugehen und voneinander zu lernen. Darin liegt ein unschlagbarer Vorteil zum Beispiel gegenüber Jugendkirchen und erst recht gegenüber Einrichtungen ohne jede auf Dauer angelegte Bindung wie Kasualagenturen, Familienzentren, Beratungsstellen und Akademien. Auch solche Einrichtungen mögen ihre Bedeutung neben Ortsgemeinden haben, jedoch nicht als gleich wichtige Formen von Kirche.

Den für die Einrichtung und den Betrieb solcher Einrichtungen vorgeschlagenen „theologisch grundierten Abstimmungsprozess in einem größeren Rahmen (zum Beispiel auf Kirchenkreis- oder Dekanatsebene)“ halte ich aber für fragwürdig, wenn er zu weiterer Ressourcenumverteilung zulasten lebendiger Ortsgemeinden führen würde. Außerdem kommt es in solchen „planwirtschaftlichen“ Prozessen von Seiten hierarchisch höherer Ebenen leicht zu einer Vermutung von Wissen über lokale oder regionale Bedürfnisstrukturen und Notwendigkeiten, für die lebendige Gemeinden vor Ort wohl eher den besser geschärften Blick haben (Subsidiaritätsprinzip). Ferner sind es Ortsgemeinden, die dauerhaften Beziehungen ihrer gläubigen Mitglieder zur Kirche auf Grundlage des Glaubens gewährleisten. Diese Mitglieder sind es auch, die ein wichtiges Reservoir für ehrenamtliche (und vermutlich auch hauptamtliche) Mitarbeiter/innen und für die Finanzierung von Kirche (einschließlich Diakonie) auch über die Kirchensteuer hinaus darstellen! Ich denke auch, dass es sowohl Gemeinden, wie der Diakonie gut täte, wenn Diakonie stärker auch in Ortsgemeinden verankert wäre; dasselbe gilt für Evangelisation und Mission.

Wenn der individuell lebendige Glaube der Kirchenmitglieder gestärkt und stärker ins Zentrum kirchlicher Bemühungen gerückt wird, wartet das in der Reformation wiederentdeckte allgemeine Priestertum aller Gläubigen (1. Petr 2: 5+9) darauf, entsprechend den heutigen Verhältnissen strukturell und organisatorisch umgesetzt zu werden. Talente und geistliche Gaben der Gläubigen sind von Gott zur Erbauung der Gläubigen und des Leibes Christi gegeben. Zum allgemeinen Priestertum gehört für mich, dass gläubige Kirchenmitglieder motiviert werden, sich konkret vor Ort engagieren, durch Gebet, ehrenamtliche Mitarbeit und finanzielle Unterstützung (und zwar über die Kirchensteuer hinaus).

Fesselnde Regelungen

Evangelische Kirchenverfassungen enthalten bis heute Regelungen, die dem allgemeinen Priestertum entgegenstehen. Damit berücksichtigen Kirchenverfassungen der evangelischen Landeskirchen nicht ausreichend, dass heute – anders als nach der Reformation – viele Kirchenmitglieder weitgehend sehr gut ausgebildet sind, vielfach auch studiert haben. Sie können und sollten sich aus ihrem Glauben heraus engagieren. Hier einige Kritikpunkte an den jetzigen Regelungen:

1.Es ist nicht gut, wenn ausschließlich der Kirchengemeinderat Entscheidungen treffen kann und nur er wirklich mitbestimmende Gemeinde ist, die restliche Kirchengemeinde aber von Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen bleibt.

2. Es gibt m. E. keine Begründung dafür, dass alle einigermaßen bedeutsamen Entscheidungen der Gemeinde an den Kirchenkreis berichtet werden müssen, dort kontrolliert werden und ggf. von dort zu genehmigen sind.

3. Von Landeskirche und Kirchenkreis werden unendlich viele Vorgaben und Verbote mit Wirkung für die Kirchengemeinde beschlossen, die gut auf Ebene der Gemeine entschieden werden könnten. Man sehe sich beispielweise Kirchengesetze zur Bildung von Kirchengemeinderäten an.

4. Angesichts der Komplexität der Welt und der Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen kann es doch im 21. Jahrhundert nicht mehr angemessen sein, dass Kirchenverfassungen ausschließlich die Berufe der Theologen (als ordinierte Pastoren) und der Juristen anerkennen und für sie eine Menge von Vorbehaltsaufgaben in der Kirche reservieren!

Bei einem durch Deregulierung, Entbürokratisierung und schlankere Strukturen geförderten allgemeinem Priestertum der Gläubigen können sich in örtlichen Kirchengemeinden gut ausgebildete, vielfach auch studierte Menschen in einer deutlich komplexeren Welt als zur Zeit nach der Reformation zusammenfinden, um geistliche Gemeinschaft von Gläubigen, christliches Zeugnis in ihre Umwelt(en), Diakonie und Gottesdienst zu leben und zu erfahren. Sie verfügen bzw. erlangen gemeinsam christliche Mündigkeit und Sprachfähigkeit und entwickeln zeitgemäße, auch digitale Angebote. Begabte Menschen möchten sich engagieren, wenn sie Wirksamkeit entfalten können. Auch für Außenstehende ist solch eine Gemeinde attraktiv.

Deshalb: Befreien wir örtliche Kirchengemeinden von solchen Regelungen! Lassen wir die Gemeindeglieder entsprechend ihren Gaben Aufgaben übernehmen und aus ihrem Glauben heraus erfüllen!  Unternehmen machen solche Reorganisation übrigens regelmäßig, nicht nur alle 500 Jahre...

Von Überforderung befreit

Zutreffend beschreibt Pohl-Patalong die Überlastung der Pfarrpersonen, auf die in vielen Gemeinden alles zuläuft. Dadurch werden erstens Pfarrpersonen überfordert und wird zweitens das Wachstum der Gemeinde quantitativ und qualitativ limitiert. Pastorinnen und Pastoren sind durch Kirchenrecht (z. T. durch sog. Vorbehaltsaufgaben) und darüber hinaus aufgrund von Erwartungen der Gemeindemitglieder, die seit Jahrhunderten genährt wurden, „die personifizierte Gemeinde“: Alles, wirklich alles wird von ihnen erwartet und an sie adressiert! Sie sollen – und zwar gleichzeitig! – Prediger, Seelsorger, theologischer Fachmann, Manager als Gremienvorsitzender (KGR), Finanzfachmann, Personalleiter, Gebäudemanager, Klimawandel-Beauftragter, erster Ansprechpartner für Gemeinde und Öffentlichkeit, Öffentlichkeitsarbeiter, Innovator etc. etc. sein.

Wo aber Potenziale von Ehrenamtlichen entfesselt werden, können auch Pastorinnen und Pastoren aus dieser misslichen Überforderungssituation befreit werden! Gemeindemitglieder, die beruflich etwa als Kaufleute, Juristen, Ingenieure, IT-Experten, Journalisten oder Künstler tätig sind, können als Ehrenamtliche in entsprechenden Aufgaben und Rollen aktiv werden. In der Folge können Pastorinnen und Pastoren als Hauptamtliche mit biblisch-theologischer Bildung in den Rollen, die ihren individuellen Gaben entsprechen, z. B als Prediger oder als Seelsorger oder als organisierende Gemeindebauer, wirken, und zwar in geistlicher Gemeinschaft mit den Ehrenamtlichen ihrer Gemeinde! Vereinbarungen über die jeweils wahrzunehmenden Rollen sollten zwischen Ortsgemeinde und Pfarrpersonen entsprechend den individuellen Kompetenzen und Gaben getroffen werden.

Fazit: Die Zukunft der Kirche liegt in geistlich blühenden Ortsgemeinden! Evangelische Landeskirchen müssen m. E. nicht kippen. Sie können zukunftsfähig werden, indem sie Glauben stärkende Theologie verkünden und örtliche Kirchengemeinden von überkommenen Regelungen, von Bürokratie und von überbordender Aufsicht befreien. In geistlich lebendigen Kirchengemeinden muss das allgemeine Priestertum der Gläubigen, dass sich in Engagement der Kirchenmitglieder aufgrund ihres Glaubens ausdrückt, gestärkt werden. Kirchenmitglieder müssen zum Engagement entsprechend ihren Kompetenzen aufgrund des Glaubens motiviert werden. Dann können Pfarrpersonen im Rahmen ihrer theologischen Ausbildung und auf der Grundlage ihrer individuellen Begabungen den Gemeinden wirksam dienen. Ortsgemeinden werden als „geistliche Leuchttürme“ ihre Mitglieder im Rahmen eines allgemeinen Priestertums befähigen und bevollmächtigen zum Dienst sowie das Evangelium in ihrer Region in Wort und Tat verkünden.

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Foto: privat

Jöns-Peter Schmitz

 Jöns-Peter Schmitz ist Diplom-Kaufmann und ehrenamtlicher Mitarbeiter in seiner Hamburger Kirchengemeinde – u. a. als Prädikant – und Wirtschaftsberater. Er  war früher Manager in der Versicherungswirtschaft.


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