Zwei Leben
Im Sommer arbeitet Sarjo Darbo in einem Bootsverleih an der Alster, im Herbst fliegt er nach Gambia und ist dort erfolgreicher Unternehmer. Martin Egbert und Klaus Sieg haben ihn an beiden Orten besucht.
Hibiskus rankt sich auf der Mauer um die Rollen aus Stacheldraht. Mit einem Klacken wird der Riegel eines Tores zurückgeschoben. Sarjo Darbos Augen strahlen. Der 54-Jährige ist kein Mensch, der sich gerne hinter Mauern verschanzt. Aber es geht nicht anders. „Wir hatten Einbrecher, die sehr viel kaputt gemacht haben“, erklärt er in fließendem Deutsch. „Das ist schmerzhaft, wenn man sich so etwas aufgebaut hat.“ Das Aufgebaute ist ein Haus in Gambia, mit großen Zimmern, einem breiten Flachbildschirm, zwei Küchen und drei Bädern. Das weckt Begehrlichkeiten. Das kleine Land in Westafrika zählt zu den ärmsten der Welt. Ein großer Teil seiner 2,5 Millionen Einwohner muss sein Glück im Ausland suchen. Auch Sarjo Darbo hat Gambia verlassen.
Morgens beten und ein kurzes Frühstück, dann fährt Sarjo mit der U-Bahn zur Arbeit.
Seit über dreißig Jahren lebt er in Deutschland, wo er sich mit viel Mut und Ausdauer eine bescheidene Existenz aufgebaut hat. Das dort verdiente Geld hat er in Gambia investiert, nicht nur in dieses Haus in Brusubi, einem kleinen Küstenort vor der Hauptstadt Banjul, sondern in zahlreiche Unternehmungen und Geschäftsideen.
Erst vor kurzem ist er in Banjul gelandet. Nach Monaten harter Arbeit in Hamburg will er sich nun hier um seine Angelegenheiten kümmern – und auf seine Familie warten. Bald kommt der Sohn seiner Ex-Lebensgefährtin mit Frau und Kindern zu Besuch. Sarjo hat ihn seit seinem fünften Lebensjahr mit aufgezogen, nachdem seine eigene Ehe gescheitert war. Das Verhältnis zu seinem Ziehsohn ist eng. Wie auch das zu den beiden erwachsenen Kindern aus seiner Ehe. Auch sie sind gerne und häufig in Gambia. Oft bringen sie neben ihren eigenen Kindern Freunde und Freundinnen mit. Das erklärt die Größe des Hauses.
In Gambia betreut Sarjo Darbo Bauprojekte, handelt mit Gebrauchtwagen und Haushaltswaren und baut eine Schlosserei auf. Von seinem Leben in Hamburg wissen seine Kunden kaum etwas.
Wie anders sieht Sarjos Wohnung in Hamburg-Altona aus: Dort wohnt er in zwei Zimmern mit geschenkter Couchgarnitur und sehr kleiner Küche in einem Rotklinkerbau aus den Nachkriegsjahren. Er fühlt sich wohl in dem von vielen Menschen mit Migrationshintergrund bewohnten ehemaligen Arbeiterquartier. Auch wenn er wenig zu Hause ist. „Ich arbeite in Hamburg sieben Tage die Woche.“ Morgens beten und ein kurzes Frühstück, dann fährt Sarjo mit der U-Bahn zur Arbeit, um erst spät wieder nach Hause zurückzukehren. „Ich möchte dann nur noch meine Ruhe haben.“
Seit vielen Jahren leitet Sarjo einen Bootsverleih an einem Alsterkanal im edlen Eppendorf. Besonders bei Sonnenschein ist dort die Hölle los. Lärmende Schüler wuseln über den Anleger. Touristen fragen nach Kanus oder SUP-Boards. Ständig klingelt das Telefon. Sarjo klemmt es zwischen Ohr und Schulter, um Reservierungen in ein Buch einzutragen, durch das nur er durchsteigen kann. Dann verteilt er Paddel und Schwimmwesten, gibt Boote heraus oder nimmt welche in Empfang, kassiert oder überprüft bei Minderjährigen die erforderliche Genehmigung der Eltern. Mit seiner ruhigen Art schließt er die Herzen auf. Und wenn die letzten Kunden den Bootssteg verlassen oder im zugehörigen Restaurant zum Sundowner Platz nehmen, reinigt und vertäut er die Boote und repariert Kleinigkeiten.
Von Sarjos Leben in Gambia wissen seine Kunden kaum etwas. Wenn der Bootsverleih im Herbst die Saison beendet, fliegt er in seine Existenz als Geschäftsmann, Bauleiter, Investor, Händler, Vermittler, Ratgeber und Wohltäter. Auch dort ist sein Leben von Arbeit geprägt. Aber er ist weniger gehetzt und geschafft. Trotzdem immer noch sehr geschäftig.
Starke Mutter
„Das habe ich von meiner Mutter, sie war eine sehr starke Frau.“ Und sein großes Vorbild. Nachdem der Vater früh verstorben war, hat seine Mutter ihn und seine acht Geschwister alleine durchgebracht. „Sie war die erste Frau in Banjul mit eigenem Laden.“ Um ihre Ware einzukaufen, überwiegend Textilien, fuhr die Mutter bis auf die Kanaren und nach Marrakesch. So verdiente die Analphabetin nicht nur genug zum Essen und für ein Dach über dem Kopf. „Bildung war ihr sehr wichtig, und so hat sie uns allen neun Jahre Schule ermöglicht.“ Das war und ist keine Selbstverständlichkeit in Gambia, wo immer noch ein Drittel der Kinder keine Schule besucht.
Als junger Mann wollte Sarjo unbedingt im Ausland das Abitur machen und Wirtschaft studieren. Er bewarb sich um ein Stipendium für die USA. Doch die begehrten Plätze wurden dem Nachwuchs von Regierungsmitgliedern zugeschachert.
Ernüchtert folgte er 1988 der älteren Schwester nach Paris. Anstatt Wirtschaft zu studieren, verkaufte er Postkarten am Eiffelturm. Als das Visum nach drei Monaten ablief, fuhr er mithilfe eines Schleppers nach Deutschland, wo ein älterer Bruder sein sollte. Sieben der acht Geschwister Sarjos leben im Ausland.Als er dort ankam, war der Bruder verschwunden, er hatte untertauchen müssen wegen Schwierigkeiten mit dem Aufenthaltsrecht. „Ich hatte keine Ahnung, wo er steckte, es gab damals ja noch keine Handys.“ Sarjo beschloss, nach Hamburg weiterzureisen. Obwohl er erst 21 Jahre alt war und dort niemanden kannte. Andere Gambianer halfen ihm, bis er nach seinem Asylantrag langsam Fuß fassen konnte. „Ich war sehr froh, in Deutschland zu sein – hatte aber auch große Angst.“ Migranten waren damals nicht gerade willkommen. Unterkünfte brannten. Menschen wurden verprügelt, nicht selten mit Todesfolge. Sarjo lernte schnell die Sprache und heiratete 1992 eine Deutsche. Wenig später kam das erste Kind zur Welt. Beruflich lief es nur zäh. Bei einer Arbeitsbeschaffung musste er Altpapier nach Farben sortieren. „Ich fühlte mich völlig unterfordert.“ Sarjo erkämpfte seine Versetzung in die Schlosserei, wo er als Helfer anfing. Dann begann er eine zweijährige Umschulung zum Schlosser. Lange hielt es ihn nicht im Handwerk. Ein Jahr nach der Ausbildung wurde Sarjo Geschäftsführer in dem 99-Pfennig-Laden eines Freundes. Er liebt den Umgang mit Menschen. Und er macht gerne Geschäfte.
Das nützt ihm auch in Gambia. Die ersten zwanzig Jahre nach seiner Auswanderung konnte Sarjo nur alle drei bis vier Jahre hierherkommen. Zu viel Arbeit, die Kinder brauchten Zeit, und das Geld war knapp. Seit er beim Bootsverleih arbeitet, fährt er jedes Jahr für einige Monate in sein Haus in Brusubi.
Morgens steigt er meist im gebügelten Hemd in seinen frisch gewaschenen KIA, der vor dem Tor in der Sonne glänzt. Über die staubige Straße steuert er den Wagen in Richtung Zentrum, vorbei an Straßenhändlern und Kindern auf dem Weg zur Schule. Über die Hauptstraße schiebt sich ein dichter Strom stark gebrauchter Autos. Lautes Hupen, ein Martinshorn und die Trillerpfeifen der Verkehrspolizisten zerren an den Nerven. „Ich muss mich jedes Mal daran gewöhnen, ankommen tue ich als Europäer.“ Sarjo lässt nicht die Augen von der Straße.
Dann parkt er den Wagen vor einer Bank, um Euros in gambische Dalasi zu tauschen. Bei seinem Besuch in Paris hat die Schwester ihm Geld mitgegeben, damit er Material und Handwerker auf ihrer Baustelle bezahlt, wo ein Wohn- und Geschäftshaus entsteht. Einige wenige Euro-Scheine verwandeln sich in einen hohen Stapel Dalasi. Sarjo rollt die Scheine auf, wickelt ein Gummiband drum und verstaut sie in seinem Rucksack. Mehrmals in den nächsten Tagen wird er mit dicken Rollen und Bündeln aus Geldscheinen hantieren. Sarjo kauft Bau-Materialien für Baustellen, um die er sich nicht nur für seine Schwester kümmert. Er bezahlt Maurer, Zimmerer und Eisenflechter, aber auch einen Bekannten, der sich für ihn in die Schlange vor einer Behörde angestellt hat. Auch einem Automechaniker drückt er ein Bündel Scheine in die ölverschmierten Hände. Jedes Mal wenn Sarjo nach Gambia kommt, bringt er ein oder zwei beschädigte Gebrauchtwagen mit, um sie reparieren zu lassen und mit Gewinn zu verkaufen. Die passen in Container, in denen er auch noch alles mögliche andere transportieren lässt, was in Deutschland niemand mehr haben will. Die gebrauchten Möbel, Elektrogeräte, Textilien oder Haushaltswaren kann er in Gambia zu guten Preisen verkaufen. Bis vor kurzem hat er dafür sogar einen Laden in Bursubi betrieben.
Doch wegen der weit verbreiteten Korruption ist es schwierig, Geschäfte in Gambia zu betreiben.Wenn Sarjo seine Container im Hafen abholt, weiß er nie, wie hoch die Gebühr ausfällt und in wessen Tasche sie fließt. Bei der Baubehörde verhält es sich ähnlich. Oder bei einer einfachen Verkehrskontrolle. „Das ist unser größter Hemmschuh.“Trotzdem hat Sarjo in den vergangenen Jahren in Gambia einige Unternehmungen angestoßen. Neben dem Second-Hand-Laden hat er eine Hühnerfarm und ein Taxiunternehmen betrieben. Beides musste er aufgeben. Häufig, weil seine Partner oder Mitarbeiter unzuverlässig waren. „Es ist schwierig, wenn Du nicht vor Ort bist.“ Trotzdem baut Sarjo zurzeit eine Schlosserei auf. Zudem will er seinen Immobilienservice ausweiten für Landsleute, die außer Landes leben. Sein Unternehmergeist ist ungebremst. Oft fühlt er sich in Gambia aber wie ein Deutscher. Und das ist er ja auch in gewisser Weise. Am nächsten Tag fährt Sarjo in die Hauptstadt Banjul. Dort ist er aufgewachsen, in einem kleinen Steinhaus in der Altstadt. In dem dunklen Innenhof hat die Familie Schafe und Hühner gehalten. Eine Straße weiter gibt es einen Laden, in dem die verstorbene Mutter immer zum jährlichen Spenden-Essen mit hunderten Teilnehmern in ihrem Dorf eine Großbestellung aufgegeben hat. Mit seiner Schwester setzt Sarjo diese Tradition fort. In dem Laden stapeln sich Dosen, Kanister und Säcke unter einem müde drehenden Ventilator. Sarjo kauft Reis, Speiseöl, Zwiebeln, Maggi und Tomatenmark in Großpackungen. Am Ende schreibt er wieder Zahlenkolonnen in sein blaues Buch. Beim anschließenden Rundgang durch die Straßen trifft er einige Bekannte, die sich als Kleinhändler durchschlagen. Sarjo steckt ihnen ein paar Scheine zu. „Das Netz unserer Beziehungen ist unsere Sozialhilfe, das hat mir auch am Anfang in Hamburg sehr geholfen.“
Dort, am Bootsanleger in Eppendorf, scheint die Hektik dieses Sommertages überhaupt nicht nachlassen zu wollen. Nur selten und für einen sehr kurzen Moment setzt Sarjo sich auf den Hocker am Empfangstresen des Verleihs, auf dem das Reservierungsbuch liegt. Auch wenn er in Gambia erfolgreich ist, kann Sarjo nicht auf den Job in Hamburg verzichten. Mittlerweile hat er die meiste Zeit seines Lebens hier verbracht. Trotzdem möchte er in Zukunft mehr Zeit in Gambia verbringen. Er wird also vorerst weiterhin seine zwei Leben leben.
Martin Egbert
Martin Egbert ist Fotograf. Er lebt in Tecklenburg.