Maria voll der Gnade

Wie das Roma-Mädchen Maria in Rumänien getauft wird und sich dabei ein Leben in einer schwierigen Balance ankündigt.
Roma in Rumänien
Foto: Sascha Montag

Die Calderars sind traditionelle Roma mit Riten und starken Familienbanden. Sie sind moderne Nomaden  und stark verwurzelt. Ihr jüngstes Familienmitglied Maria wird in eine faszinierende Welt geboren, zwischen Tradition und Wandel.

Iova Calderar entzündet ein Streichholz, pustet es aus, fackelt noch eines ab, wirft das verkohlte Hölzchen in ein Glas mit Wasser. Mit der schwarzen Kohle malt ihre Großmutter ein Kreuz auf Marias Stirn, auf ihre Beinchen, die Arme. Maria verzieht das Gesicht. Das Aschekreuz soll von Maria fernhalten, was böse ist, soll sie schützen vor den Bedrohungen, die auf sie warten.

Taufe
Foto: Sascha Montag

Zur Taufe der kleinen Maria tragen die Frauen der Kalderasch ihre traditionelle Kleidung.

Maria Calderar ist das jüngste Mitglied einer Familie, die für die Familie lebt. Eine Vertreterin der Kalderasch. Es ist ihr traditionelles Handwerk, das ihnen ihren Namen verlieh. Lange lebten die Calderar, Kesselschmiede, davon, riesige Schnapskessel zu bauen und zu flicken, Töpfe, Schüsseln, Werkzeug, Marmeladentöpfe, Kupferpfannen. Die Vorfahren von Maria lebten in Zelten, zogen von Dorf zu Dorf in Transsilvanien, ehemals Ungarn, jetzt Rumänien. Die Kalderasch sind die letzten Roma, die sesshaft wurden. Doch das ländliche Rumänien wandelt sich. Von der Landwirtschaft und ihrem traditionellen Handwerk allein kann die Familie längst nicht mehr leben. Die Bauern aus den umliegenden Dörfern wollen die handgemachten Kupfergegenstände nicht mehr kaufen, sie ziehen die industriellen Produkte aus den großen Geschäften vor. Die Kalderasch waren Reisende, immer. Und sind es noch heute. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, gehen sie nach Deutschland, England, Frankreich, um Altmetall zu sammeln, Äpfel zu pflücken, in Recycling-Fabriken Müll zu trennen oder pflegebedürftige deutsche Senioren zu betreuen. Sie schuften auf Baustellen. Wer sind diese Menschen? Menschen, wie die Familie Calderar.

Die Familie Calderar mit dem Täufling Maria in den Armen ihrer Mutter Uca.
Foto: Sascha Montag

Die Familie Calderar mit dem Täufling Maria in den Armen ihrer Mutter Uca.

 

Es ist ein Tag vor Maria Calderars großem Festtag. An diesem Wochenende wird sie getauft. Als Heidin wird sie zur Kirche gebracht werden, als Kind Gottes zurückkehren, so sagen es ihre Angehörigen. Ein Festtag bei der Familie Calderar bedeutet mehrere Tage Vorbereitung. Die Frauen kneten Teig in Holztrögen, groß wie eine Badewanne, backen Brote im Holzofen und Blechkuchen, einen nach dem anderen. Sie schneiden Berge an Wurst und bereiten frischen Schafskäse zu, butterweich und leicht salzig. Familienmitglieder reisen an, aus Sibiu – Hermannstadt – 60 Kilometer entfernt. Gastfreundschaft, das heißt für die Calderar: üppig beladene Teller, geschnittenes Brot und eingelegte Salzgurken – und darauf einen Schnaps. „Norok!“

Wie für eine kleine Prinzessin: Im Haus der Calderars mit den bonbonfarbenen Kleidern für Maria.
Foto: Sascha Montag

Wie für eine kleine Prinzessin: Im Haus der Calderars mit den bonbonfarbenen Kleidern für Maria.

 

Marias Großvater Emil Calderar, 37 Jahre alt, trägt einen breiten Schnauzer, das schwarze Haar hängt ihm in die Stirn. Er spannt die Pferde vor die Kutsche, zwei stattliche Tiere, so stark, dass er sie kaum bändigen kann. Mit seinem Sohn, Marias Vater, fährt er durch das Dorf. Er grüßt die Nachbarn am Straßenrand, schnalzt mit der Zunge, um die Pferde anzutreiben. Gleichförmig traben sie über die Straße durch Merghindeal im Kreis Sibiu, in Siebenbürgen. 300 Häuser stehen dort, einige verfallen. Viele Einwohner sind ausgewandert, verstorben. Es gibt einen winzigen Lebensmittelladen, vor dem an Plastiktischen Männer ihr Feierabendbier trinken. Über die Straße durch den Ortskern zuckeln Pferdekutschen beladen mit Heu, dann wieder brettern Lastwagen am Haus der Familie vorbei. Die Kirchenburg im Ortskern stammt aus dem 13. Jahrhundert, eines der Wahrzeichen des Ortes. Es ist der Mittelpunkt von Rumänien, verkündet das Ortsschild. Die Calderar sind eine große Familie. Es dauert lange, die Namen aufzuzählen. Wenn der Familienstammbaum von dem Baby Maria in Richtung Wurzel aufgezeichnet wird, gibt es so viele Verästelungen, dass sich die Angehörigen selbst darin verlieren. Fest steht aber: Wenn Maria die oberste Spitze der Krone bildet, dann ist ihr Ururgroßvater Nicolae der tiefste Punkt der Wurzel. 90 Jahre trennen die beiden.

Jede Falte eine Geschichte

Nicolae Calderar lebt schräg gegenüber von Maria und ihrer Familie. Er sitzt auf seinen Stock gestützt auf einem Sessel vor seinem Haus, den schwarzen Hut tief ins Gesicht gezogen. Seine Augen sind ein wenig trüb geworden, die Statur hager. Jede Falte erzählt eine Geschichte – und er selbst noch viel mehr, mit einer leicht knarzenden Stimme. Er sei mit den Jahren geschrumpft, sagt er. Als kleiner Junge schlief er im Zelt. Er half seinen Eltern, lernte von seinem Vater, Kessel zu schmieden. Es war eine entbehrungsreiche Kindheit mit Arbeit und doch geborgen, bis das kam, was die Roma „Porajmos“ nennen, das „große Verschlingen“, unter anderem in dem eigens eingerichteten „Zigeunerlager“ in Auschwitz. Nicolae Calderar ist einer der letzten Zeitzeugen.

Je nach wissenschaftlichen Schätzungen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 30 000 und 500 000 Roma ermordet. Es dauerte mehr als 70 Jahre, bis die Verfolgung der Roma in Rumänien insbesondere während des Zweiten Weltkriegs in die Geschichtsschulbücher aufgenommen wurde. Das erste rumänische Mahnmal, das dem Schicksal der Roma-Opfer des Holocausts gewidmet ist, wurde 2015 im Museum für Roma-Kultur in Bukarest eingeweiht. Nicolae Calderar kennt die Arbeitslager, weiß um all die Verstorbenen und Geschundenen. Er denkt immer wieder an seine Flucht zurück, auch dann, wie er später allein seine Kinder aufzog, nachdem seine Frau früh verstorben war. Nur ein gemeinsames Bild ist ihm geblieben, auf dem sie ernst dem Betrachter entgegenblicken. Als er die Nachrichten über den Kriegsausbruch in der Ukraine sah, weinte Nicolae Calderar. Weil er dasselbe erlebt hatte, vertrieben wurde. Weil er entsetzlichen Hunger kennt und Todesangst. Aber wenn er seine Ururenkelin Maria auf dem Schoß hält, ihr in die Wangen kneift, sie wiegt und an den kleinen Händen hält, blitzen seine Augen vor Freude.

Die Kutsche mit den unbändigen Pferden biegt ab, rollt über grüne Hügel, hält an der Schafwiese. Hunde treiben die Tiere zusammen. Emil Nicolae Calderar, benannt nach seinem Vater und dem Urgroßvater, trägt ein blaues Shirt und ein Cappie. Er ist ein groß geratener Sechzehnjähriger, mit kindlichem Gesicht und Flaum über den Lippen, der sich am liebsten mit seinem Smartphone beschäftigt. Er ist der Vater von Maria, fängt nun ein Schaf, ein Lamm Gottes zu Ehren des Kindes.

Die Tiere fliehen, schrecken vor ihm zurück. Als er eines zu fassen bekommt, klemmt er es zwischen die Knie, schnürt die Beine des Schafs zusammen. Emil und sein Vater wuchten das Tier gemeinsam auf die Kutsche. Sie fahren vorbei an den Pferdeweiden, auf einer großen Koppel grasen die Tiere. Die Familie verkauft sie auf dem Markt. Doch viel Geld bringt das nicht. Zwanzig Millionen Menschen leben in Rumänien, eine halbe Million davon sind Roma. Am Straßenrand fallen sie oft auf mit ihren breitkrempigen Hüten, viele der Frauen tragen lange, bunt gemusterte Röcke und Kopftücher. Aber ihre Welt ist im Wandel.

Jungs der Familie Calderar beim Spiel mit einem Handy.
Foto: Sascha Montag

Jungs der Familie Calderar beim Spiel mit einem Handy.

 

Von Armut und Krankheit geprägte Lebensgeschichten sind für viele Roma in Rumänien bittere Realität. Bis heute liegt ihre Lebenserwartung bis zu zehn Jahre unter dem europäischen Durchschnitt – die Folge von fehlender Bildung und ungesunden Lebensbedingungen. Es sind viele Vorurteile, denen die Roma begegnen. Das hat dazu geführt, dass sie sich absondern. Dass sie sich absondern, führt dazu, dass die Vorurteile stärker werden.
Dabei kommen sie viel rum, bereisen ganz Europa auf der Suche nach Arbeit. „Wir brauchen kein Navi, wir finden jeden Weg“, sagen die Männer der Familie und tippen sich an den Kopf. „Alles hier abgespeichert!“ Wenn andere in den Urlaub verreisen, machen sie ihre Trips gemeinsam als Familie, um Geld zu verdienen. Uca Calderar, Marias Mutter, zögert nicht lange, wenn sie von ihrer Zukunft spricht. „Ich möchte später auch ins Ausland reisen, um mit den anderen arbeiten zu gehen.“

Geringe Lebenserwartung

Zerbrechlich sieht Uca aus, die zierliche junge Frau, 20 Jahre alt, mit Augen wie Saphiren. Noch ist ihre Maria zu klein, um sie allein zu lassen. Doch immer wieder lassen die Mütter ihre Kinder bei der Familie zuhause, bei den Groß- und Urgroßmüttern, die für sie sorgen. Oft monatelang sind sie getrennt von ihren Söhnen und Töchtern. Nach vier Monaten bringen sie dann bis zu 5 000 Euro zurück. Moderne Nomaden auf einem grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt. In den Häusern der Kalderasch in Merghindeal ist jedes Zimmer eine gute Stube. Bunte Fliesen, knallgrün und rot gestrichene Wände, goldene Figürchen zieren die Schränke im Wohnzimmer. In den Regalen reihen sich goldene und silberne Becher, verziertes Geschirr. Der Kleiderschrank der kleinen Maria hängt voll mit bonbonrosafarbenen Kleidern, wie für eine kleine Prinzessin. Da stehen winzige pinke Turnschuhe neben glitzernden Ballerinas. An den Bügeln hängt auch traditionelle Kleidung im Mini-Format, steife Spitzenblusen mit Kragen und Seidenkleider mit Rosen.

Vereinbarte Ehe

Der Tag der Taufe ist gekommen. Dröhnende Musik schallt aus den Boxen und bringt den Innenhof zum Beben. An der Zapfanlage schenkt Marias Großvater Emil Bier aus. Während im Haus alle Frauen emsig wischen und putzen, das Geschirr heraustragen, das Buffett richten, blökt draußen das Schaf. Es liegt auf dem Kutschanhänger, müde zucken die zusammengebundenen Beine. Clopotar Victor, ein Onkel von Maria, hat eine Zigarette zwischen den Lippen und ein Messer in der Hand. Er trägt ein blütenweißes Hemd, zwischen die Beine klemmt er das Schaf, bebend vor Angst. Es schäumt, gurgelt, zuckt nochmals mit den Hinterbeinen, strampelt. Ein letzter Atemzug. Das Lamm Gottes soll das Böse fernhalten von Maria, soll sie schützen. Durch das Tor strömen immer mehr Besucher, Jungs mit breitkrempigen Hüten, kleine Mädchen in Röcken, alle traditionell gekleidet. Das Bier sprudelt mittlerweile aus dem Zapfhahn. Auf dem Grill brutzeln Schweinefleisch und das Schaf. Die Tische biegen sich unter Platten von Fleisch und Wurst, Salat, Käse, Brotlaibe so groß wie das Baby.

Die Taufe Marias ist Anlass für ein großes Familienfest.
Foto: Sascha Montag

Die Taufe Marias ist Anlass für ein großes Familienfest.

 

Emil und Uca Calderar haben vor ihrer Hochzeit nicht viel miteinander gesprochen. Ihre Ehe haben ihre Eltern miteinander vereinbart, als Emil und Uca noch kleine Kinder waren. Ausgehen, andere treffen, erste Dates gab es nicht. Auch während der Feier zur Taufe sprechen sie nicht viel miteinander. Kein Händchenhalten, keine Küsse. Uca Calderar besuchte die Schule bis sie dreizehn Jahre alt war. In der Familie sagen sie: „Die Schule des Lebens ist es, worauf es ankommt.“ Für Uca Calderar selbst sind die Prinzipien so unumstößlich, dass sie sie nicht in Frage stellt. Wenn man sie fragt, lächelt sie zaghaft, senkt den Blick. Wenn Emil Calderar das Baby Maria im Arm hält, nur für einen Moment, wirkt es wie ein Fremdkörper. Wie er es erlebe, so früh Vater geworden zu sein? Er zuckt mit den Schultern. Für ihn ist das „normal“, kein Grund, sich Gedanken zu machen. Er bleibt im Hof sitzen, am Tisch mit all den anderen Männern, als sich ein kleiner Tross Richtung Kirche bewegt.

Die Familie Calderar weist Diskriminierungen weit von sich. Im Alltag gibt es viele Berührungspunkte mit der Mehrheitsgesellschaft. Unter die Taufgäste mischen sich Freunde, die keine Roma sind: Sie stechen heraus, die Frauen tragen kurze Pailettenkleider, Schuhe mit zentimeterhohen Absätzen, machen Selfies, als sie in lange Röcke der Calderar-Frauen gesteckt werden und Tücher um ihr Haar binden. „Wir haben nur eine Chance, zu überleben, mit unserer Kultur, unserer Eigenständigkeit in Sprache und Brauchtum, wenn wir uns öffnen, Einblick geben in unsere Vorstellung vom Leben“, sagt Emil. Sie wollen nicht geheimnisvoll und mysteriös ihren Alltag leben, abgetrennt von anderen. Es ist ein Ausbalancieren und Austarieren: Tradition und Moderne, Familienzusammenhalt und Offenheit. An diesem Sonntag, dem Tag des großen Festes, wirken alle Ausgrenzungen fern. Unter die traditionelle Taufgemeinde mischt sich eine Familie aus Sibiu: Die Taufpatin von Maria trägt ein knappes Glitzerkleid und hochhackige Schuhe – bis sie von Großmutter Iova in einen langen Rock gesteckt wird, ein Tuch um ihr blondiertes Haar gebunden bekommt. Einige fahren mit dem Auto zur Kirche, einige laufen. Der Zug, der die kleine Heidin zur Kirche begleitet, nähert sich dem Gotteshaus. Satan, weiche, betet der Priester. Die Taufgemeinschaft dreht sich um, blickt zur geöffneten Kirchentür. Maria schläft im Arm ihrer Patin Iuliana, während der Priester predigt. Als die Kleine später untergetaucht wird, nackt und rosig, brüllt sie wie am Spieß. In der orthodoxen Tradition umfasst die Taufe das dreimalige vollständige Untertauchen oder Eintauchen in ein mit geweihtem Wasser gefülltes Taufbecken. Minutenlang ist die kleine Maria danach kaum zu beruhigen. Sie wird mit geweihtem Öl gesalbt.

Gott anvertraut

Zurück auf den Hof, am Haus der Familie Calderar. Hier ist die Feier ohne die Hauptperson bereits in vollem Gange. Musik läuft, ein Gefiedel, ein Rhythmus. Der ganze Innenhof vibriert im wummernden Takt. Nun gehen die Frauen in der Menge unter, ein Meer aus bunten, schwingenden Röcken, die Männer tragen ihre schwarzen Hüte tief ins Gesicht gezogen. Eine Haarsträhne wurde Maria in der Kirche abgeschnitten, ein Zeichen dafür, dass ihr Schicksal Gott anvertraut wird. An ihrem ersten Geburtstag, so der Brauch, schneiden ihre Familienmitglieder wieder ein Strähnchen ab. Danach wird ihr Haar wachsen bis zu den Oberschenkeln, geflochten zu Zöpfen bis zur Hochzeit. Wie ihre Mutter, wie ihre Großmutter, wie all die Frauen in der Ahnenreihe vor ihr. Vielleicht wird sie sich einmal dagegen auflehnen, vielleicht kommt alles ganz anders, als ihre Familie heute glaubt. Die Kalderasch hängen an ihren Traditionen, an ihren starken Familienbanden. Doch sie wissen, dass sich vieles wandelt. 

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