Gemeinsam stärker sein
Täglich kommen neue Flüchtlinge aus Ländern wie Kongo, Burundi und Ruanda in Kenias Hauptstadt an. Dort warten ganz alltägliche Fragen: Wo finde ich Arbeit, was tue ich, wenn die Kinder krank sind? Wie gut, dass es andere gibt, die diese Erfahrungen schon gemacht haben.
Plötzlich muss er an damals denken: „Genau dort vorne“, sagt Charles Sendegeya und deutet aus dem Autofenster, „dort habe ich damals auch gewartet.“ Am Straßenrand stand er, irgendwo in einem Stadtviertel der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Und „damals“, das bedeutet: Ende der 1990er-Jahre, als der junge Flüchtling Charles Sendegeya in Kenia ankam und auf der Suche nach einem neuen Leben war. „Ich wusste nicht genau, wohin ich gehen sollte“, erinnert er sich heute. Man hatte ihm geraten: Geh zur Kirche, dort hilft dir sicher jemand. Aber er fand den Ort nicht, irrte vier Stunden lang durch die Stadt.
Charles Sendegeya
Mit rund 3,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern im Stadtbereich selbst und etwa 7,5 Millionen im Großraum steht die rasant wachsende ostafrikanische Metropole Nairobi an der Schwelle zur Megacity. Täglich strömen Menschen aus dem Umland in die Stadt, in der Hoffnung auf Arbeit und eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien. Rund sechzig Prozent der Stadtbevölkerung Nairobis leben in mehreren großen Slums wie Kibera oder Mathare auf nur sechs Prozent der Stadtfläche. Gleichzeitig ist Nairobi Anziehungspunkt für viele tausend Flüchtlinge aus benachbarten Krisenländern wie Äthiopien, Somalia, Südsudan, Kongo oder Burundi.
Apollinarie Mukakarara
Verloren, gestrandet, orientierungslos – so fühlte sich auch Denise Uwineza. „Sie ist mir eines Tages aufgefallen“, erinnert sich Apollinarie Mukakarara. Sie ist Sozialarbeiterin für die katholische Organisation TUSA und betreut Selbsthilfegruppen von Flüchtlingen, die sich regelmäßig treffen und sich gegenseitig helfen – wie eben Denise Uwineza. Allmählich hat Madame Apollinarie, die einst selber aus Ruanda nach Nairobi floh, das Vertrauen der jungen Mutter gewonnen, sich langsam vorgetastet, um herauszufinden, was sie erlebt hat und wie sie ihr helfen kann.
Flucht vor Gewalt
Sie fand heraus, dass die junge Frau aus Ruanda in einem Flüchtlingslager in Tansania gelebt hatte. Dort gab es eine Verwandte, die ihr anbot, nach Kenia zu kommen. Denise willigte ein, doch sie ahnte nicht, dass eine arrangierte Ehe auf sie wartete. Sie floh erneut, diesmal vor einem gewalttätigen Ehemann, den sie sich nicht ausgesucht hatte.
Denise Uwineza
Heute hat Denise eine eigene kleine Wohnung, in der sie mit ihren drei Söhnen lebt. Die sind gerade von der Schule nach Hause gekommen, der Fernseher trötet vor sich hin, es laufen Cartoons. Die Jungs sind also einigermaßen gut beschäftigt, so kann sich die Mutter an ihre Nähmaschine setzen. In einer Ecke der engen Wohnräume hat sie sich eine kleine Schneiderei eingerichtet, näht Taschen, Tischdecken, Kochschürzen. Besser wäre ein eigener Laden, aber immerhin, es ist ein Anfang.
Brigitte Kapenga
„Wir werden sehen, wie es weitergeht“, sagt Madame Apollinarie. Die Sozialarbeiterin ist eine Kollegin von Charles Sendegeya, der die Programme von TUSA seit vielen Jahren koordiniert. Es war auch genau diese Organisation, die ihn damals als Neuankömmling in Nairobi aufnahm. Er hatte eine lange Reise hinter sich: Vom Flüchtlingslager im Kongo aus ging er über die Grenze nach Tansania. Aber was heißt schon „ging“! „Zuerst nahm ich ein Boot über den See nach Kigoma“, sagt Charles Sendegeya. „Dann fuhr ich mit einem Bus von Daressalam nach Nairobi“. Viele Stunden später war er in Kenias Hauptstadt. „Schon damals wusste ich, dass diese Krise nicht in zwei, drei Jahren beendet sein würde“, sagt er. Die Ursachen des Krieges im Kongo und allgemein in der Region der „Großen Seen“ sind vielfältiger Natur – es geht um Politik, um Rohstoffe, um Macht und Geld. So viel ist klar: Auch wenn die meisten es wollen, so können doch die wenigsten Flüchtlinge wieder auf Dauer in ihre Heimat zurück.
Die beiden Schulfreunde Daoudi und Akili konnte TUSA in einer Berufsschule unterbringen, wo sie das Friseurhandwerk lernen.
„Zu Hause im Kongo hatte ich es gut“, klagt Brigitte Kapenga, als sie ihren Besucher Charles Sendegeya empfängt. Frau Kapenga hat von ihm Hilfe erhalten, um am Stadtrand von Nairobi einige Tiere, Hühner, Schweine und Hasen, zu halten und damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und sie verkauft geröstete Erdnüsse am Markt. Nicht ihr Traumberuf, wie sie betont: „Ich habe etwas anderes gelernt, ich habe eine Ausbildung in Pädagogik, ich habe ein Diplom als Krankenschwester“, sagt Brigitte Kapenga, und in ihre Stimme mischen sich Klage und auch Zorn. „Und jetzt muss ich hier Erdnüsse grillen!“ Das Geld reiche kaum für die Kinder, sagt sie. „Als Flüchtling war ich plötzlich in einem fremdsprachigen Land, niemand hat mich verstanden, als hätte ich nie etwas gelernt, als hätte ich nie etwas gewusst.“Zum Glück, sagt Frau Kapenga, sei sie nicht allein. Die Selbsthilfegruppe gebe ihr Hoffnung und Zuversicht. „Man merkt, wir sind viele. Wenn man in Schwierigkeiten ist, dann sind die anderen für mich da, und sie helfen mir. Zum Beispiel, wenn eines meiner Kinder ins Krankenhaus muss.“
In Selbsthilfegruppen tauschen die geflüchteten Menschen ihre Erfahrungen aus und bieten sich gegenseitig Hilfe an.
Charles Sendegeya wurde in Ruanda geboren. Nach dem Genozid von 1994 musste er zunächst in das Nachbarland Kongo fliehen, kam in einem Flüchtlingslager unter. Malawi war eine weitere Station, bevor er den Weg nach Kenia einschlug. Er sagt: „Nairobi ist eine ideale Stadt für Flüchtlinge. Es gibt Arbeit, es ist anonym. Kenia hat sehr viele Flüchtlinge der verschiedenen Nationalitäten aufgenommen.“ Es macht ihn stolz, dass er dazu beitragen konnte, wie aus verängstigten Flüchtlingen gestandene Persönlichkeiten geworden sind. Manchmal, wenn er zum Beispiel an einem Bahnhof ankommt oder am Flughafen eine Reise antritt, wird er plötzlich von jemandem angesprochen, der wie ein Geschäftsmann gekleidet ist: „Hallo Charles, wie geht es dir, du hast mir doch damals geholfen. Ich habe es geschafft!“ Gerade erst hat er Nachrichten bekommen von zwei ehemaligen Schützlingen. Sie haben es auf eine Wirtschaftsschule geschafft und Jobs bei einer kenianischen Bank in Nairobi bekommen. Als diese beschloss, nach Ruanda zu expandieren, wurden sie damit beauftragt, dort die ersten Bankfilialen zu eröffnen. Als Flüchtlinge waren sie gegangen, als Bankangestellte kehrten sie zurück in das Land ihrer Geburt.
Charles Sendegeya betont: „Ich finde, dass Flüchtlinge sehr viele Fähigkeiten haben, sie arbeiten mindestens genauso hart wie die Kenianer und tragen so zur Entwicklung der kenianischen Nation bei.“ So fördert TUSA ganz gezielt auch die Kinder von Flüchtlingsfamilien. Wie etwa die beiden Schulfreunde Daoudi und Akili – beide besuchen einen Kurs in einer katholischen Berufsschule und lernen das Friseurhandwerk. Sie sind die beiden einzigen Jungen in einer Mädchenklasse. Warum auch nicht? „Mir gefällt es“, sagt Daoudi, „und ich kann das gut.“ Akili ist Muslim, und der Imam seiner Gemeinde war anfangs skeptisch – sollten Mädchen und Jungen nicht getrennt aufwachsen? Die Zeiten ändern sich, die Jugend setzte sich (in diesem Falle) durch. Akili darf etwas lernen.
Bildung mitgeben
Offenbar haben sich seine kongolesischen Eltern schon bei seiner Geburt dafür entschieden, dass er einmal in der neuen Heimat Kenia großwerden soll. Denn mit „Akili“ haben sie ihm einen Namen aus dem Suaheli gegeben, also aus der Landessprache von Kenia. Übersetzt bedeutet er so viel wie „Geist“ oder „Intelligenz“. In Kenia gibt es ein Sprichwort: „Akili ni Mali“. Man könnte es übersetzen mit „Wissen ist Macht.“ „Bildung ist das beste, was wir den jungen Flüchtlingen mitgeben können,“ sagt Charles Sendegeya.
Rückschläge bleiben leider nicht aus. „Ein Problem ist es häufig, an die richtigen Papiere zu kommen. Das Gesetz erlaubt es Flüchtlingen oftmals nicht, in den gleichen Jobs zu arbeiten wie Kenianer.“ Hinzu kommen die aktuellen Krisen unserer Tage. Die Pandemie zum Beispiel.Lydia Perpetué hat gerade etwas Zeit, denn in ihrem schönen Friseursalon ist nicht allzu viel los. „Ich warte auf Kundinnen“, sagt die Frau, die im Kongo geboren wurde. Sie hat ihr Geschäft geschmackvoll eingerichtet, mit bunten Tapeten an den Wänden und allerlei Gerätschaften, um Haare zu waschen, zu schneiden, zu trocknen und zu färben. Hochzeiten im Stil der Heimat sind in der kongolesischen Exilgemeinde eine große Sache, und dafür lässt man sich gerne aufwändige Frisuren machen. Aber eben nur dann, wenn nicht gerade eine Pandemie herrscht. „Zwei meiner Kundinnen sind am Coronavirus gestorben“, sagt Lydia Perpetué.
Lydia Perpetué hat die Ausbildung bereits hinter sich und betreibt ihren eigenen Salon.
Um das Virus einzudämmen, erhob die kenianische Regierung strenge Maßnahmen, ließ Märkte, Handwerksbetriebe und Geschäfte zeitweise zusperren. Die Arbeit fiel weg, und damit auch die wichtigste Einnahmequelle. „Ich konnte wenigstens ein paar Kundinnen zu Hause besuchen“, sagt die Geschäftsfrau. Aber leicht war das alles nicht. Immerhin hat sich die Lage nun wieder etwas verbessert, die Pandemie ist abgeflaut, die Maßnahmen sind gelockert – und so dauert es dann auch nicht lange, bis eine Kundin in den Laden tritt und sich in die Obhut von Madame Lydia Perpetué begibt, die im Kongo geboren und nach Kenia gekommen ist.
Christian Selbherr
Christian Selbherr ist Redakteur beim mission-magazin in München.
Jörg Böthling
Jörg Böthling begann 1985 als Seemann auf Fahrten nach Afrika und Asien zu fotografieren. Er studierte Fotografie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und arbeitet als Freelancer.