Ti oun eroumen?

Plädoyer fürs halbvolle Glas – Gedanken zum Jahreswechsel
Brücke in Nordostengland im Morgenmgrauen
Foto: picture-alliance
Sonnenaufgang an einem klaren, frostigen Morgen in Barton-upon-Humber im Nordosten Englands am 15. Dezember 2022.

Wie werden Sie das Neue Jahr beginnen? Hoffnungsvoll, neugierig und voller Tatendrang? Oder niedergeschlagen, genervt und eher mutlos? Schon die vergangenen beiden Jahreswechsel hatten es in sich. Damals stand Deutschland ganz im Zeichen der Pandemie und beide Male durchaus im Ausnahmezustand. Wie es aussieht, scheint die Pandemie seit diesem Sommer abzuklingen, oder wir sind bereit, ihre Folgen robuster in Kauf zu nehmen.

Aber durch Russlands Angriffskrieg seit gut zehn Monaten hat sich hierzulande, so sehen es zumindest viele Deutsche, eine völlig neue Situation ergeben. Neben dem Entsetzen über die brutale Aggression in der europäischen Nachbarschaft kehrte im vergehendem Jahr auch die Angst vor dem Atomkrieg zurück und über all dem das unangenehme Gefühl: Da ist kein Ausgang in Sicht Und dann sind da noch ganz handfeste Probleme, wie die große Preissteigerung, Inflationsraten wie seit Jahrzehnten nicht mehr – und, und, und …

Was sollen wir nun sagen? Diese Floskel schreibt der Apostel Paulus häufig, wenn in seinen Briefen komplizierte Fragen zu klären sind. Auf Griechisch, der Sprache des Apostels, heißt das: Ti oun eroumen? Und in der Tat: Was sollen wir sagen, angesichts einer komplexen Lage von Sorgen und Problemen, die sichtlich nicht ihrer Grundlagen entbehren? Und was alles noch kommen mag, das kann niemand mit Gewissheit sagen. Aber wie es ihm damit geht, das kann der Mensch in der Regel selbst zumindest mitsteuern, oder?

„Diesen hat Gott geschaffen wie jenen“

Im Buch Kohelet, auch bekannt als Prediger Salomo, in der Bibel findet sich ein Vers, der dieses Problem reflektiert (7,14):

„Am guten Tage sei guter Dinge,
und am bösen Tag bedenke:
Diesen hat Gott geschaffen wie jenen,
damit der Mensch nicht wissen soll, was künftig ist.“

Um mit dem zweiten Teil anzufangen: Wie wäre es, wenn wir alles im Voraus wüssten? Das wäre furchtbar. Dystopie pur, oder? Insofern bleibt, um auf den ersten Teil des Verses zurückzukommen, die Frage: Was bringt es, am „bösen Tag“ respektive in schwierigen Zeiten dann „böser Dinge“ zu sein, sprich niedergeschlagen, genervt und mutlos. Die Antwort: Es bringt nicht viel, ja vielmehr nichts. Klar, dass der oder die Einzelne es nicht immer selbst in der Hand hat, wie die eigene Stimmung ist, keine Frage. Aber könnte es nicht hilfreich sein, auch wider den Augenschein hoffnungsvoll und neugierig zu bleiben?

Halbvoll statt halbleer

Noch einmal: Was bringt eine entgegengesetzte, düstere Gestimmtheit? Der barocke Lieddichter Georg Neumark vertritt dazu in dem berühmten Choral „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ (EG 369) eine klare Meinung:

„Wir machen unser Kreuz und Leid /
Nur größer durch die Traurigkeit.“

Recht hat er. Pessimismus als Lebenseinstellung ist furchtbar – für einen selbst, wie für die Mitmenschen. – unbeschadet davon, dass man konkrete Aufgaben und Perspektiven immer realistisch und nie haltlos optimistisch angehen sollte. Denn selbst wenn man bereit ist, das Glas halbvoll statt halbleer zu sehen, so bleibt es doch nur halb voll.

Ti oun eroumen, was sollen wir sagen? Schwierig, klar. Denn objektiv bleibt alles offen. Aber was schrieb Dietrich Bonhoeffer einst: „Mag sein, daß der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“

Ich finde, das ist ein wirklich guter Satz!

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