Die Lebenden und die Toten

Wie zwei arme Dörfer in Kalabrien mit Flüchtlingen umgehen
Das Dorf Tarsia auf einem Hügel in Kalabrien. Foto: Robert Stumberger
Das Dorf Tarsia auf einem Hügel in Kalabrien. Foto: Robert Stumberger
Wegen seiner exponierten Lage am Mittelmeer landen in der süditalienischen Region Kalabrien besonders viele Flüchtlinge – lebendig und tot. Zwei kalabrische Dörfer versuchen, mit dieser Situation umzugehen, wie der Journalist Rudolf Stumberger zeigt.

Vom Balkon des einstöckigen Gebäudes an der Via Carmine im süditalienischen Riace hängen Bettbezüge zum Trocknen herunter. Drinnen decken im Speisesaal gerade zwei Migranten den Esstisch, in einer Ecke läuft der Fernseher mit Fußball. Davor sitzt eine Gruppe junger Männer. Einer von ihnen ist Mahbub, nach eigenen Angaben 17 Jahre alt. Er ist vor zwei Monaten aus Libyen über das Meer nach Italien gekommen und wartet hier im örtlichen Asylbewerberheim auf seine Anerkennung als Flüchtling. Mahbub stammt aus Bangladesch und hat einen langen Weg hinter sich, „Libyen war nicht gut“, sagt er in gebrochenem Englisch, „dort sind Killer.“ Wie gefällt es ihm in Riace? „Na ja“, meint er, für junge Leute gebe es hier nicht viel zu tun. Er will in die Großstadt, nach Rom.

Italien ist das erste Ankunftsland für die Flüchtlinge, die sich über das Mittelmeer wagen, und in Kalabrien werden sie auf viele kleine Orte und Gemeinden verteilt. Meist sind die kalabrischen Dörfer durch schlechte und schmale, gewundenen Straßen schwer zugänglich. Die Region ist seit langer Zeit das Armenhaus Italiens. Die Menschen der Region wissen meist aus ihrer eigenen Familiengeschichte, was das heißt: Migration, Flucht und Auswanderung auf der Suche nach dem besseren Leben, nach einem Überleben. Die Menschen in Kalabrien wanderten seit dem 19. Jahrhundert aus, in die usa und später nach Deutschland, um ihrer Not zu entgehen. Auch heute noch findet sich hier wenig Industrie, man lebt hauptsächlich von der Landwirtschaft und der Viehzucht; an der Küste mittlerweile auch vom Tourismus. Durch die Auswanderung sind viele Dörfer ausgeblutet, die Jungen gehen fort, zurück bleiben die Alten und die Häuser, die oft zum Verkauf stehen.

Da können Flüchtlinge wie Mahbub für Dörfer wie Riace eine Hoffnung sein. Wenn sie hierher geschickt werden, dann kommen sie in einem Ort, an dessen Mauern sich etliche große Wandbilder finden, die sich mit dem Thema Flucht und Hoffnung beschäftigen. So zeigt eines die Tränen einer Migrantin – und sogleich wird der Bezug zu den kalabrischen Auswanderern hergestellt, die vor der bitteren Armut in ihrer Heimat flohen. Ein anderes Wandgemälde zeigt Wölkchen am Himmel und darauf die Wegweiser zu den Herkunftsländern der Flüchtlinge: Irak, Afghanistan, Somalia ... Darunter der Schriftzug: „Dove vanno le nuvole?“ (Wohin tragen dich die Wolken?). Daneben grüßt ein Torbogen: „Willkommen im globalen Dorf.“

Wer ihn durchschreitet, stößt alsbald auf den alten Palazzo an der Via Pinnaro. Eine Tafel weist darauf hin, dass hier die „Genossenschaft Citta Futura G. Puglisi“ ihren Sitz hat. Sie geht zurück auf das Jahr 1998 – Riace hat eine Geschichte der Mitmenschlichkeit. Damals strandete unten an der Küste ein Schiff mit kurdischen Flüchtlingen. Sie wurden im Dorf aufgenommen. Es wurde als Utopie eine real existierende Stadt der Zukunft, die „Citta Futura“, erprobt: Flüchtlinge fanden freundliche Aufnahme, Arbeit und Unterkunft. Nicht weit von Riace liegt das kalabrische Örtchen Stilo. Hier kam Thomas Campanella zur Welt, späterer Mönch und Autor des utopischen Staatsromans „Citta del Sole“ (deutsch: Der Sonnenstaat) aus dem Jahre 1602. Kalabrien ist offenbar keine schlechte Gegend für Utopien.

Offene Arme

Während anderswo Zäune errichtet werden, „empfangen wir Flüchtlinge mit offenen Armen“, sagt Domenico Lucano, der Bürgermeister des kleinen Ortes Riace. Seine Idee: Zusammen mit den Migranten die leerstehenden Häuser des Dorfes zu renovieren, ihnen damit eine Unterkunft zu schaffen und gleichzeitig das aussterbende Dorf wiederzubeleben. In Riace gibt es kleine Werkstätten für Keramik und Glas sowie eine Weberei. Manche Flüchtlinge haben sich schon entschlossen zu bleiben, andere kommen für eine bestimmte Zeit nach Riace und gehen dann woanders hin. 2015 wurde Lucano als „europäischem Pionier im Umgang mit Schutzsuchenden“ in der Schweiz der Preis der Stiftung Freiheit und Menschenrechte verliehen. Ein langsam sterbendes Dorf findet wieder Leben – durch Flüchtlinge.

Roberto Ameruso ist ebenfalls Bürgermeister eines kleinen kalabrischen Ortes, und auch er hat mit Flüchtlingen zu tun. In Tarsia, so heißt das Dorf nördlich des Silagebirges in der Provinz Cosenza, leben derzeit 26 erwachsene und 17 minderjährige Flüchtlinge. Das 2?000-Seelen-Dorf liegt auf einem Hügel, zu dessen Fuß sich die Ebene des Flusses Crati befindet. Tarsia selbst ist eines der vielen Dörfer im Inneren des Stiefels. Auch in Tarsia geht das Leben eher einen ruhigen Gang: Es gibt eine Kirche, zwei Bars und eine Pizzeria. Der Platz vor dem Rathaus ist modern gestaltet, sogar eine Theaterbühne findet sich hier.

Dem 40-jährigen Bürgermeister Ameruso geht es nicht nur um die Lebenden, sondern auch um die Toten. Jene, die auf ihrem Weg über das Mittelmeer zu Tode kamen und als Leichen aus dem Wasser geborgen wurden. Ihre Gräber liegen verstreut entlang der italienischen Küste und sind von Verwandten schwer aufzufinden. Das will Ameruso ändern. Sein Plan: In Tarsia soll ein zentraler Friedhof für gestorbene Flüchtlinge entstehen. „Die Angehörigen können dann hier ihre Verwandten betrauern“, erklärt Ameruso.

Unten am Fuße des Hügels von Tarsia soll der Friedhof für die toten Flüchtlinge entstehen. Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats gehen davon aus, dass seit 2014 mindestens 12?000 Migranten auf dem Weg über das Mittelmeer ihr Leben verloren haben. Werden ihre Körper geborgen, ist es schwer, Identität oder auch nur Herkunftsland nachzuweisen. Am Institut für Rechtsmedizin in Mailand versucht man, über dna, persönliche Gegenstände wie Fotos oder Körpermerkmale die Identität der Toten festzustellen. Viele aber werden namenlos und nur mit einer Nummer versehen bestattet.

Die Idee, die Verstorbenen auf einem zentralen Friedhof zu bestatten, geht auf den kalabrischen Menschenrechtsaktivisten Franco Corbelli zurück. Der Berufsschullehrer kämpft seit vier Jahren für das Projekt und hat die Unterstützung von Ameruso gefunden. Aufgerüttelt hatte den 60-Jährigen die Tragödie vor Lampedusa, als am 3. Oktober 2013 fast 400 Bootsflüchtlinge aus Somalia und Eritrea im Mittelmeer ums Leben kamen.

Corbelli konnte mitverfolgen, wie die Leichname lediglich mit Nummern versehen und auf die verschiedenen lokalen Friedhöfen verteilt wurden. Seitdem setzt er sich dafür ein, dass die Toten ein würdiges Begräbnis und ein Gedenken erhalten. Auch die katholische Kirche betont die Wichtigkeit eines würdigen Begräbnisses. Darauf hatte der Präsident des päpstlichen Rates der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs, Kurdienkardinal Antonio Maria Veglio, während seiner Amtszeit hingewiesen.

Der Friedhof der Migranten am Fuße des Hügels, auf dem die Häuser von Tarsia stehen, soll neben dem Friedhof des Dorfes entstehen, genauer: auf der anderen Straßenseite, in einem alten Olivenhain. „Wir haben von der Provinzregierung 200?000 Euro für das Projekt erhalten und könnten am Jahresende mit dem Bau beginnen“, erläutert Bürgermeister Ameruso in seinem Amtszimmer den aktuellen Stand der Dinge. Auch ein Architekturbüro wurde bereits mit der Planung betraut. Noch sind die beiden vorgesehenen Grundstücke in privater Hand, aber der Ankauf sei kein Problem, so der Bürgermeister.

Es ist ein Paradox: Während in Riace das Leben der Flüchtlinge einem sterbenden Dorf neues Leben einhaucht, sind es in Ameruso die Toten, die das Dorf beleben werden. Und natürlich soll es als Trost für die Angehörigen der Toten dienen, so sie denn nach Tarsia kommen.

Und es gibt noch eine dritte Geschichte, die erzählt werden muss: Wenn man den Bürgermeister Ameruso fragt, warum ausgerechnet in Tarsia ein derartiger Flüchtlingsfriedhof entstehen soll, dann verweist er auf eine Tradition der Solidarität in seinem Dorf. Denn unten in der Ebene liegt auf Gemeindegebiet das ehemalige Internierungslager „Ferramonti di Tarsia“.

In der malariaverseuchten Gegend wurden unter Mussolini von 1940 bis 1943 italienische Juden, jüdische Emigranten und Antifaschisten interniert. Die Zahl der Insassen erreichte im August 1943 mit 2?016 ihren Höhepunkt. Die Lagerinsassen wurden durch die lokale Bevölkerung von Tarsia unterstützt und schließlich im September 1943 von britischen Truppen befreit. Heute befindet sich auf dem Gelände ein Gedenkort, einige der Baracken stehen noch und sind zu besichtigen.

Ein faschistisches Lager

Vor dem Tor des ehemaligen Lagers weht links eine italienische, rechts die israelische Flagge. „Gezwungen an diesen Ort durch ein verachtenswertes Regime, bezeugten hier 2?000 Personen verschiedenen Glaubens, Rasse und Nationalität durch ihrer Anklage und durch die Solidarität unserer Leute die Schrecken des Faschismus“, ist auf einem Gedenkstein vor dem Zaun zu lesen. Nicht weit davon entfernt zeigt eine Informationstafel die Ausmaße des ehemaligen Lagers und erklärt die Hintergründe. Das Konzentrationslager von Tarsia war das größte seiner Art, das in Italien durch das faschistische Regime realisiert wurde. Seine Errichtung wurde durch die Rassengesetze von 1938 ermöglicht, der Baubeginn am sumpfigen Ufer des Crati erfolgte 1940, als Italien an der Seite Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg eintrat. Die ersten Gefangenen des Lagers waren 100 italienische Juden aus Norditalien. Doch nach und nach kamen Transporte mit Juden aus ganz Europa.

Auch hier spielt das ewige Drama von Flucht und Tod eine Rolle: In das Konzentrationslager von Tarsia kamen die 494 Überlebenden des 1940 gesunkenen Flüchtlingsschiffes „Pentcho“. Zu dieser Gruppe gehörte auch der Kaufmann Elias Finger aus Gelsenkirchen. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 war der 35-Jährige durch Nazi-Schläger schwer verletzt und das Geschäft der Familie zertrümmert worden. Elias Finger beschloss daraufhin, Deutschland zu verlassen. Er plante, über die Donau und das Mittelmeer nach Palästina zu fliehen, wurde jedoch in Bratislava festgenommen und interniert.

In dem slowakischen Lager warteten viele jüdische Menschen aus ganz Europa auf die Abfahrt des Flüchtlingsschiffes „Pentcho“, eines alten Raddampfers, der notdürftig seetüchtig gemacht worden war. Das Schiff mit 500 jüdischen Flüchtlingen fuhr zunächst donauabwärts und gelangte nach Wochen über das Schwarze Meer und durch den Bosporus in das Ägaische Meer. Das Gelobte Land schien schon nahe, da geschah eine Katastrophe: Der Raddampfer lief in der Nacht zum 10. Oktober vor der griechischen Insel Chamilonisi auf Grund. Zwar wurden die Flüchtlinge aus Seenot gerettet, aber es war ein italienisches Schiff, die „Camogli“, das sie aufnahm. Deren Kapitän brachte die Menschen nach Rhodos, das damals unter italienischer Besatzung stand. Mehr als ein Jahr verbrachten die Flüchtlinge dort in einem Lager – bis sie erneut vom Regen in die Traufe gerieten: Sie wurden von Rhodos ins süditalienische Tarsi gebracht, wieder ins Lager.

Tradition der Solidarität

Dort hausten im August 1943 rund 2?000 Menschen in den Baracken, zwei Drittel davon waren Juden. Die restliche Gruppe setzte sich aus nichtjüdischen Internierten und italienischen Antifaschisten zusammen. Im September 1943 wurde das Lager von der britischen Armee befreit und die überlebenden Insassen versorgt. Zu den Befreiten gehörte auch Elias Finger. Er konnte sich danach nach Spanien durchschlagen, kam dort auf dem Flüchtlingsschiff „Nyassa“ unter – und erreichte schließlich im Februar 1944 in Haifa Palästina. Endlich gerettet!

Die Zustände im Lager „Ferramonti di Tarsia“ waren nicht mit deutschen KZs zu vergleichen, auch wenn es zeitweise Hunger gab. Die Lagerleitung war den jüdischen Internierten gegenüber relativ wohlwollend eingestellt. Es gab eine Schule, eine Kantine, eine Bibliothek und eine Synagoge. Den Historikern zufolge unterstützte die Bevölkerung aus der Umgebung die Lagerinsassen.

Auf diese Geschichte der Solidarität mit verfolgten und geflohenen Menschen beruft sich Bürgermeister Ameruso mit seinem Plan eines Friedhofs für jene, die in unseren Tagen auf der Flucht über das Mittelmeer gestorben sind. Ameruso erklärt: Neben den Gräbern solle auch ein „Friedenspark“ entstehen, ein Platz des „Friedens und der Reflexion“. Der geplante neue Friedhof für Flüchtlinge wird dann an der Straße liegen, die zum Internierungslager „Ferramonti di Tarsia“ führt. Er soll Aylan Kurdi gewidmet werden, dem dreijährigen syrischen Jungen, dessen Leichnam am 2. September 2015 an der türkischen Küste bei Bodrum an Land gespült wurde. Um die Lebenden an die Toten zu erinnern.

Robert Stumberger

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