Verrohung hinter Gittern

Warum Haftstrafen die Gesellschaft nicht sicherer machen
Das Gefängnis suggeriert das Gefühl von Sicherheit. Foto: dpa/ Claus Schunk
Das Gefängnis suggeriert das Gefühl von Sicherheit. Foto: dpa/ Claus Schunk
Derzeit sitzen 62.000 Menschen in Deutschland hinter Gittern. Vergewaltiger, Totschläger und Mörder, doch vor allem Schwarzfahrer, Gepfändete, Drogenabhängige, Kleinkriminelle, Steuerbetrüger, Einbrecher oder Heiratsschwindler. Werden sie im Gefängnis zu ehrlicheren Menschen? Der Journalist Kai Schlieter hat sich intensiv mit dem deutschen Strafvollzug beschäftigt und kommt zu dem Schluss: Mit weniger Häftlingen wäre Deutschland sicherer.

Als sich Cherif Kouachi und sein Kumpane Amedy Coulibaly 2005 zu ersten Mal trafen, befanden sie sich keine 30 Kilometer südlich von Paris. In der kleinen Gemeinde Fleury-Mérogis, genauer: im dortigen Gefängnis. Das ist nicht irgendeine Haftanstalt - sie gilt als die größte Europas, erbaut Ende der Sechzigerjahre. Eine Festung. Sie hat zudem einen miesen Ruf. Über 4.000 Männer hausen heute dort. Zusammengepfercht in überbelegten Zellen, denn Platz bietet dieses Gefängnis eigentlich nur 2.855 Menschen. Männer aus den Pariser Banlieues, Kriminelle aus über 80 Nationen und Terroristen sitzen gemeinsam in einem Kerker. Ein Reporter der BBC besuchte Fleury-Mérogis 2008 und interviewte dort auch einen Wärter. Er bat ihn, die Vorteile der Einrichtung zu erläutern. Es folgte eine sehr lange Pause. Dieses Gefängnis, sagte der Mann sei échec - ein Misserfolg.

Kouachi und Coulibaly begegneten hier Djemal Beghal. Einen Mittelsmann von Al-Qaida, der ihre radikalen Sehnsüchte erkannte und weiter schürte. Acht Jahre später massakrieren die beiden jungen Männer zwölf Menschen in der Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Jetzt kennt sie jeder. Nach dem Attentat diskutierten viele Franzosen, warum einfache Kriminelle mit Terroristen in dasselbe Gefängnis gesperrt werden. Doch das ist das Prinzip eines Gefängnisses. Schon Charles Dickens bezeichnete diese Institutionen als "Schulen des Lasters".

Kann ein Gefängnis einen Menschen überhaupt auf den rechten Weg führen? Ein Ort, an dem viele Gescheiterte zusammen eingesperrt werden, die in der Regel 23 Stunden in ihren Zellen sitzen, zumeist ohne vernünftige Ausbildung und ohne Idee einer Zukunft, an einem Ort, an dem alles strengstens reglementiert wird.

Die Hochschule Mannheim untersuchte 2009 die Abläufe der dortigen Justizvollzugsanstalt. Die Forscher interessierten die bürokratischen Strukturen und fanden heraus, dass jeder der 900 Gefangenen sehr viel Papier verbraucht. Jedes Jahr füllen sie dort hunderttausend Laufzettel und hundertfünfzigtausend Rapportzettel aus. Ein Gefangener darf sein Stockwerk nur verlassen, wenn er dies zuvor mit einem Laufzettel schriftlich beantragt. Mit einem blauen oder weißen Laufzettel ist es ihm gestattet, sich ohne Begleitung eines Beamten bis zur nächsten verschlossenen Tür zu bewegen; mit einem roten Laufzettel muss er bis zum Ziel von einem Beamten begleitet werden. Jedes Anliegen muss er schriftlich in Form eines Rapportzettels formulieren. "Der Beschaffung einfacher Gegenstände (zum Beispiel eines Tauchsieders) oder dem Führen eines außerplanmäßigen Gesprächs gehen also immer langfristige Prozeduren voraus", schreiben die Forscher.

Das gilt nicht nur für Mannheim. Bis auf die Minute ist die Monotonie der Tage strukturiert - jahrelang die gleichen Abläufe. Denn das Gefängnis ist eine riesige Maschine, die Menschen organisiert, die als Gefahr schlechthin gelten. Für die Häftlinge selbst, die Beamten und die Gesellschaft. Gefangene, die Ansprüche erheben, sinnlose Abläufe hinterfragen und die sich juristisch dagegen wehren, gelten als Störenfriede, die den geschmierten Apparat ins Stocken bringen können, dessen Treibstoff die Angst ist.

Diese Angstbürokratie bietet auf diese Weise unzählige Einfallstore für Gängeleien. Gefangene, die in ihrer Monotonie nur auf sich selbst, den Fernseher oder die Playstation verwiesen sind, kann schon ein verzögert zugestellter Brief wahnsinnig machen. Das wissen alle Beteiligten.

Der perfekte Inhaftierte aus Sicht mancher Anstaltsleiter ist der Häftling, der nicht aufmuckt und der die Bürokratie nicht durch unvorhergesehenes Verhalten irritiert. Der perfekte Insasse ist ein Duckmäuser, einer der macht, was ihm gesagt wird. Dieser Häftling ist ein Mensch, der seine Verantwortung auf Anweisung abgibt, eine Strategie der Anpassung verfolgt, auf Befehle wartet und sich ansonsten still verhält. Sollte es dieser Gefangene nicht schaffen, sein Verhalten in Freiheit sofort abzulegen, wäre das fatal. Denn in der Wirklichkeit draußen werden viel eher die gegensätzlichen Qualitäten gefordert: Eigeninitiative, Engagement und Hartnäckigkeit helfen weiter.

"Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen." So steht es fast feierlich im Strafvollzugsgesetz, Paragraf 2 unter: Vollzugsziel. Dazu müsste es auch gehören, dass Gefangene lernen, sich an geltendes Recht zu halten. Doch das wird schwierig. Denn im Knast selbst regieren Willkür und der Rechtmissbrauch - auch seitens der Anstalten selbst.

So gibt es die Möglichkeit, Gefangene von anderen zu separieren. "Absonderung" nennt sich das. Mitunter werden sie auf dem Boden einer nackten Zelle fixiert. Diese "Absonderung" - oder schlicht: Isolation - darf eigentlich maximal drei Monate dauern. Allerdings gibt es Fälle, da dauert die Isolation viel, viel länger. Bei Günter Finneisen etwa, den ich in seinem Kerker der JVA Celle besuchte. 13 Jahre verbrachte der Bankräuber und Ausbrecher dort in völliger Isolation, ohne jeden Kontakt zu anderen Inhaftierten in einem Hochsicherheitstrakt. Nach seiner Haft wurde er bis auf wenige Monate ohne Eingewöhnung in die Freiheit ausgespuckt.

Es gibt weitere Fälle von jahrelanger Isolation. Das Bundesverfassungsgericht stellte im Juli 2006 fest, "mit der Menschenwürde wäre es unvereinbar, wenn der Staat für sich in Anspruch nähme, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne dass zumindest die Chance für ihn bestünde, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können". Wie passt das mit dem Leben von Hans-Georg Neumann zusammen, den ich 2012 ausfindig machte. Er ist der am längsten inhaftierte Gefangene Deutschlands. Seit 53 Jahren sitzt er in seiner Zelle - bis heute. Kein Antrag auf Begnadigung fruchtete bei dem Mann, der längst ein Greis ist. Doch sind das nicht nur drastische Einzelfälle?

Der ehemalige Anstaltsleiter der jva Bruchsal, Harald Preusker, sagt: "Da gibt es immer Anstalten, die sich nicht um Gerichtsentscheidungen scheren. Das Bundesverfassungsgericht hat Bayern zigmal gerügt in Strafvollzugssachen. Dieser Ungehorsam gegenüber Gerichten ist nicht ganz so ungewöhnlich."

Anstalten ignorieren Gerichtsentscheidungen, die sich Häftlinge erklagt haben. Wie kann das sein? Justizvollzugsanstalten steht ein größerer Ermessensspielraum zu, denn sie sind selbst Teil des Rechtssystems. Ein Anwalt hat zwar die Möglichkeit der "Ermessensreduktion auf Null". Er muss also den gesetzlich vorgesehenen Ermessensspielraum der Anstalt ausschalten. Doch selbst wenn dieses seltene juristische Kunststück glückt, wenn er es also schafft, nachzuweisen, dass es für eine Anstalt nur noch eine einzige verbleibende Möglichkeit zum Handeln gibt - nämlich im Sinne des Inhaftierten -, selbst dann weigern sich manche Anstalten, gerichtliche Entscheidungen auch umzusetzen. Schlecht für das Rechtsempfinden der inhaftierten Kläger.

Das berichtet auch der Kriminologe Johannes Feest, der so viele Fälle dieser Art zusammengetragen hat, dass er diesem Phänomen sogar einen Namen geben musste: Er nennt das "renitente Strafvollzugsbehörden".

Eine anderes Phänomen, das den Glauben an das Recht zu erschüttert, ist besonders problematisch, weil es so nachhaltig wirkt: Es geht um die Festlegung des Streitwerts. Denn danach richtet sich das Honorar des Anwalts. Der liegt bei Strafvollzugssachen - auch zum Schutz des Gefangenen - in der Regel nicht besonders hoch. Das macht die Arbeit für Strafverteidiger, die sich mit Gefangenenfragen beschäftigen, finanziell sehr unattraktiv.

Das Berliner Kammergericht betonte in einem Urteil, künftig sei "darauf zu achten, dass die gesetzlichen Gebühren hoch genug sein müssen, um die Tätigkeit des Verteidigers wirtschaftlich vertretbar erscheinen zu lassen und dem Gefangenen oder Verwahrten so die Inanspruchnahme anwaltlichen Beistandes zu ermöglichen". Die Richter wurden sehr grundsätzlich: "Der Senat bemerkt, dass er die Erfahrung, dass ein Gefangener nach einem Sieg vor Gericht "heruntergeschrieben" wird, nicht nur in diesem Verfahren gemacht hat, sondern dass ihm dieses Phänomen in letzter Zeit mehrfach begegnet ist; er wird ihm seine Aufmerksamkeit widmen."

Das Gefängnis raubt die Selbständigkeit und den Glauben an das Recht. Und wie steht es um das das oberste Vollzugsziel, die Resozialisierung? Wie in Zuchthäusern des 18. Jahrhunderts herrscht auch heute in den Gefängnissen noch Arbeitspflicht. Die Vergütung liegt etwa bei durchschnittlich 1,50 Euro pro Stunde. Die Süddeutsche Zeitung berichtete Ende Januar 2015, dass die Bundesländer mit den in Gefängnissen produzierten Waren 50 Millionen Euro verdienten. Doch Gelder für die Rentenkasse gibt es für die Inhaftierten keine. Ein krasser Widerspruch zu dem hehren Anliegen der Resozialisierung. Altersarmut wird hier strukturell erzeugt. Mittlerweile haben sich 400 Insassen zu einer Art Gewerkschaft vereinigt.

Laut Gesetz ist die Strafe für den Rechtsbruch der Entzug der Freiheit. Im Sinne der Resozialisierung soll "das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden", heißt es im Gesetz. Keine Extra-Bestrafung durch nasse Zellen, Überbelegung, Entzug von Büchern oder Telekommunikation. Auch keine Pein und Leibstrafe, wie im Mittelalter und nicht der Entzug der Selbstachtung, der Selbständigkeit oder des eigenständigen Denkens.

Die Rückfallquote steigt

Bei aller Berechtigung der Sühne eines Verbrechens - als Selbstzweck, im reinen Verwahrvollzug - werden Inhaftierte im Knast gefährlicher. Tatsächlich steigt die Rückfallquote, je nach Länge des als straffrei definierten Zeitraums und der herangezogenen Statistik bei männlichen Jugendlichen, die eingesperrt werden, auf 60 bis 80 Prozent. Im gelockerten Vollzug halbiert sich die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straftat. Das Gefängnis macht gefährlicher. Und an der Resozialisierung wird kaum gearbeitet: 2010 waren bundesweit gerade einmal 600 Psychologen, 350 Pädagogen und 1.200 Sozialpädagogen für damals 75.000 Häftlingen verantwortlich.

Tatsächlich hat das Gefängnis über die Jahrhunderte hinweg niemals seinen rehabilitierenden Zielsetzungen entsprechend funktioniert: Das Gefängnis konnte zu keiner Zeit Menschen in einen funktionstüchtigen Zustand versetzen", schreibt der norwegische Rechtssoziologe Thomas Mathiesen. Er war Mitbegründer einer Bewegung, die sich für die Abschaffung der Gefängnisse einsetzte.

Die Gesellschaft wird nicht sicherer, wenn sie viele Menschen wegsperrt. Das zeigt sich in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort sind pro 100.000 Einwohner am meisten Menschen inhaftiert: 2012 betrug diese Rate 751. Das entspricht 2,3 Millionen Menschen. In Russland lag die Gefangenenrate bei 475. Die Knastbevölkerung der USA ist aufschlussreich zusammengesetzt: einer von elf schwarzen US-Amerikanern sitzt, einer von 27 Lateinamerikanern und nur einer von 45 weißen Amerikanern. Kritiker behaupten, im Gefängniswesen setze sich die Sklaverei bis heute fort.

Seit Jahren weisen Kriminolgen darauf hin, dass die Gefangenenrate keine Rückschlüsse auf die Belastung von Kriminalität erlaubt. In Hamburg etwa sank die Inhaftiertenrate in rund zehn Jahren um etwa 50 Prozent. Den Höhepunkt bildet der Rechtspopulist Ronald Schill. Kriminalität ist historisch und regional variabel. Sie hängt von den Gesetzen, den Politikern und der Polizei ab und von dem, was überhaupt als kriminell definiert wird.

Der beste Schutz der Gesellschaft ist es, so wenig Menschen wie möglich ins Gefängnis zu sperren. Doch wer könnte das durchsetzen? Manche Menschen müssen aus der Gesellschaft entfernt werden. Das kann niemand bestreiten. Doch Lebenslängliche bilden eine Ausnahme in den Gefängnissen, sie machen über die Jahre relativ konstant rund drei Prozent aus. Derzeit sitzen 62.000 Menschen in Deutschland hinter Gittern. 4.000, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen könnten. Kriminologen schätzen, dass ein Drittel sofort aus dem Gefängnis entlassen werden könnten - und die Gesellschaft würde sicherer werden.

Im Knast leben Vergewaltiger, Totschläger und Mörder, doch vor allem: Schwarzfahrer, Gepfändete, Drogenabhängige, Kleinkriminelle, Steuerbetrüger, Einbrecher oder Heiratsschwindler. Wie sollen Menschen in einem Umfeld, das niemand seinen Freunden zumuten würde, gebessert werden?

Forderungen nach hartem Durchgreifen helfen Politikern bei Wahlen, und Boulevardmedien erfinden eine Epidemie von Schwerverbrechen für ihre Auflagen. Es entsteht das Zerrbild einer immer gefährlicheren Welt, obschon für Deutschland das Gegenteil richtig ist.

Das Gefängnis beruht auf Illusionen und erzeugt sie: Es suggeriert einer verängstigten Mittelschicht das Gefühl von Sicherheit. Kriminelle lassen sich über einen Kamm scheren, zu Monstern modellieren. Sie funktionieren dann wie ein Schema des Bösen an sich. Verbrecher und härtere Gesetze sind auch ein Ventil der kollektiven Unzufriedenheit. Im Entsetzen der Bevölkerung über spektakuläre Verbrechen steckt die Erleichterung über die eigene Rechtschaffenheit. "Die Gefängnisstrafe", schreibt Mathiesen "symbolisiert Unfehlbarkeit bei den vielen anderen. Es hat den Anschein, als ob sich die Gesellschaft eine kleine Gruppe Gefangener hält, um ihre eigene Vortrefflichkeit zu illustrieren." Für ihn richtet sich das Gefängnis in erster Linie an die Menschen in Freiheit.

Schon kurz nach den Anschlägen von Cherif Kouachi und Amedy Coulibaly in Paris warnten auch in Deutschland Politiker vor einer Radikalisierung junger Muslime in deutschen Haftanstalten. Dagegen müsse etwas unternommen werden. Es würde sich lohnen, die Problematik grundsätzlicher zu begreifen.

Literatur

Kai Schlieter: Knastreport - Das Leben der Weggesperrten. Westend, Frankfurt am Main 2011, 256 Seiten, EUR 17,95.

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Kai Schlieter

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