Mantel des Schweigens
Sieben Jahre nach dem Beitritt Bulgariens zur EU sind die Schlagzeilen über das Armenhaus Europas hierzulande meist negativ: Armutszuwanderung, Diskriminierung von Roma, eingeschränkte Pressefreiheit, ein nicht gefestigter und gefährdeter Rechtsstaat, Mafia und Korruption - alles offiziell belegt durch Berichte der Europäischen Kommission und unabhängiger Organisationen wie Transparency International und Reportern ohne Grenzen. Obwohl die Probleme strukturell teilweise sehr ähnlich sind, steht Bulgarien international weit weniger im Zentrum politischer und medialer Aufmerksamkeit als seine beiden Nachbarländer Griechenland und Rumänien. Die bittere Armut, die soziale Not und die Kraft, die das Alltagsleben hier kostet, sind jedoch nicht geringer. Nach den neuesten Zahlen des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom Oktober 2013 hat Bulgarien lediglich ein Pro-Kopf-Einkommen von 7411 US-Dollar. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 43.952 US-Dollar, in Griechenland 21.617, in Rumänien 8630 und in China 6569 US-Dollar.
Nicht immer war das öffentliche Interesse in Deutschland an Bulgarien und seinen 7,3 Millionen Einwohnern so spärlich, im Gegenteil: Historisch verbinden Deutschland und Bulgarien besonders enge Beziehungen. Sie reichen von deutschen Regenten, die Bulgarien nach seiner Unabhängigkeit im Türkisch-Russischen Krieg 1878 in das 20. Jahrhundert führten, über vielfältige wirtschaftliche und kulturelle Kontakte bis dahin, dass Bulgarien als Verbündeter Deutschlands in den Ersten und in den Zweiten Weltkrieg zog. Das daraus resultierende große Interesse an Deutschland und die auffallende Deutschfreundlichkeit der Bulgaren werden jedoch nur noch selten als ein historisches Erbe wahrgenommen. Umgekehrt mangelt es an einem positiven Bulgarienbild in der öffentlichen Wahrnehmung: So ist in Deutschland beispielsweise kaum bekannt, dass das Land an der Schwarzmeerküste zusammen mit Estland zu den europäischen Ländern mit der geringsten Staatsverschuldung gehört. Und ebenso wissen nur wenige von den seit Juni 2013 täglich stattfindenden Demonstrationen in Sofia.
Proteste gegen Stromrechnungen
Die Proteste begannen zunächst wegen der hohen Stromrechnungen. Als das Parlament dann einen der unbeliebtesten Männer Bulgariens, den 33-jährigen Medienmogul und skandalumwitterten Politiker Deljan Peewski zum neuen Chef des Geheimdienstes wählte, weiteten sich die Proteste zu einer Volksbewegung aus. Zehntausende Menschen zogen durch die Innenstadt Sofias und protestierten vor dem bulgarischen Parlament gegen Korruption, die russische Mafia, oligarchische Strukturen und die Intransparenz der Regierung. Und seitdem steht das politische Leben in Sofia still.
Bulgarien ist aber auch im Gedächtnis der Ökumene und der westeuropäischen Kirchen nur noch wenig präsent. Während es in Rumänien ein dichtes Netz von deutschen, europäischen und amerikanischen Gemeinden, Partnerkirchen und diakonischen Einrichtungen gibt, die Hilfstransporte organisieren, kirchliche Besuchskontakte pflegen und Gemeinden sowie soziale Projekte großzügig finanziell unterstützen, fehlt Entsprechendes in Bulgarien.
Das mag einerseits damit zusammenhängen, dass die Bulgarisch-Orthodoxe Kirche 1998 sowohl aus dem Weltkirchenrat (ÖRK) und der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) austrat und damit viele ökumenische Beziehungen kappte. Offiziell lautete die Begründung, die Mitgliedschaft im ÖRK habe zu "keinen befriedigenden Fortschritten im multilateralen theologischen Dialog" geführt. Und auch von Abwerbung orthodoxer Kirchenmitglieder "unter den schützenden Fittichen etablierter protestantischer Kirchen" war die Rede. Hinter der Hand wird aber in liberalen orthodoxen Kreisen gemunkelt, dass die Direktive zum Austritt aus Moskau kam. Selber vollzog die Russisch-Orthodoxe Kirche diesen Schritt aber nicht.
Kampf um Eigenständigkeit
Andererseits ist es zu kurz gegriffen, die bulgarische Orthodoxie schlicht als antiwestlich und ökumenefeindlich abzustempeln und damit das fehlende ökumenische Engagement Westeuropas zu rechtfertigen. Man muss vielmehr tiefer in die Geschichte des 19. Jahrhunderts eindringen, um die besondere Rolle und das Potential der Orthodoxie für die heutigen Transformationsprozesse Bulgariens erfassen zu können. Denn unter der osmanischen Herrschaft vom 14. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gehörten alle orthodoxen Christen auf bulgarischem Territorium noch zum Griechisch-Orthodoxen Patriarchat Konstantinopel. Die Bildung einer eigenständigen orthodoxen Kirche war Programm der bulgarischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts. Sie wollte vom Osmanischen Reich unabhängig werden und kämpfte für einen eigenen Staat mit einer eigenen Kirche. Die kirchliche Eigenständigkeit kostete die bulgarische Kirche jedoch die Gemeinschaft mit den anderen orthodoxen Kirchen.
Umso wichtiger wurden ökumenische und internationale Beziehungen. Viele angehende Geistliche studierten an theologischen Fakultäten Westeuropas und suchten den theologischen Austausch mit nichtorthodoxen Kirchen. Die Spuren der ökumenischen Geschichte führen direkt an die theologische Fakultät der Universität Sofia. Hier lehrte Stefan Zankow, der bekannteste bulgarisch-orthodoxe Theologe des 20. Jahrhunderts. Er war bereits in den Zwanzigerjahren in der ökumenischen Bewegung aktiv und wurde einer breiten kirchlichen Öffentlichkeit Westeuropas vor allem durch seine sechs Vorträge zum orthodoxen Christentum des Ostens bekannt, die er 1927 an der evangelisch-theologischen Fakultät der Berliner Universität hielt. Als Teilnehmer der Bewegung "Glaube und Kirchenverfassung" war er als ökumenischer Gesprächspartner außerordentlich geschätzt und in den Vierzigerjahren ein gern gehörter Gast an den theologischen Fakultäten Zürich, Bern und Basel. Auf sein theologisches und kirchenrechtliches Erbe, die Bemühung um Kirchenstrukturen mit einer starken Beteiligung der Laien, ist man an der Universität Sofia noch heute stolz.
Mit der Machtübernahme der Kommunisten im September 1944 endeten aber fast alle ökumenischen Beziehungen. Wie in vielen Staaten des Ostblocks wurden Priester, Mönche und andere Kirchenleute drangsaliert, in Arbeitslager gesteckt und ermordet. Klöster und theologische Ausbildungsstätten wurden geschlossen. Die Kirche wurde systematisch aus dem öffentlichen Raum verbannt. Und persönliche Glaubensüberzeugungen und -bezeugungen hatten negative Konsequenzen.
Bulgarische Stasi
In den Fünfzigerjahren nahm die Kontrolle durch den kommunistischen Staat und dessen Sicherheitsdienst zu. Das brachte auch eine politische und kirchenpolitische Abhängigkeit von Moskau und der Russisch-Orthodoxen Kirche mit sich. Und Bulgariens 1971 gewählter Patriarch Maxim konnte diesem Kurs wenig entgegensetzen. So wurde auch die Mitarbeit bulgarischer Kirchenvertreter in den verschiedenen Gremien der Ökumene seit den Sechzigerjahren von Moskau gesteuert und von der bulgarischen Staatssicherheit kontrolliert und gelenkt. Das hat vor kurzem der bulgarische Historiker Momchil Metodiev in einer Studie eindrucksvoll belegt.
Die Verflechtungen wirken bis heute nach. 2012 machte das bulgarische Gegenstück zur Jahn-Behörde bekannt, dass von den gegenwärtig 15 auf Lebenszeit gewählten Metropoliten elf als Inoffizielle Mitarbeiter bei der bulgarischen Staatssicherheit geführt worden waren. Kirchenrechtliche Konsequenzen hat diese Erkenntnis allerdings nicht. So konnten die Betroffenen in den vergangenen 25 Jahren längst neue Seilschaften ausbilden. Aufgrund ihrer früheren guten ökumenischen Kontakte und Beziehungen, ihrer guten Sprachkenntnisse und ihrer Gewandtheit auf dem internationalen Parkett sind sie nach wie vor beliebte Partner bei offiziellen ökumenischen Begegnungen.
Drängen auf Neuanfang
Seit einiger Zeit mehren sich in der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche aber die Forderungen nach einer umfassenden Vergangenheitsbewältigung. Vor allem ausgewiesene orthodoxe Intellektuelle wie der Sofiaer Philosophieprofessor Kalin Janakiev und jüngere orthodoxe Laien plädieren für einen Reinigungsprozess und drängen auf einen Neuanfang, der an die besondere Tradition der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche als einer dialogischen und debattierenden Kirche anknüpft. Es verwundert nicht, dass sich in diesen Kreisen auch zahlreiche Unterstützer der gegenwärtigen Demonstrationen gegen die alten Machteliten und kommunistischen Altkader finden. Sie gehören zur neuen, in den vergangenen zwanzig Jahren gewachsenen Mittelschicht. In den orthodoxen Gemeinden bilden sie zwar noch eine Minderheit. Dennoch trugen sie durch ihr öffentliches Wirken dazu bei, dass im Februar 2013 der Metropolit der Diözese von Ruse Neofit zum Nachfolger des verstorbenen Patriarchen Maxim gewählt wurde. Er verkörpert den von vielen Kirchenmitgliedern ersehnten Neuaufbruch, denn er war kein IM der Staatssicherheit.
Ähnlich schwierig gestaltet sich die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur bei Bulgariens Protestanten. Sie stellen nur 1,1 Prozent der Bevölkerung, während 76 Prozent orthodox sind. Zu der wenig homogenen Gruppe der Kirchen, die sich in der "Evangelischen Allianz" zusammengeschlossen haben, gehören Pfingstler, Kongregationalisten, Baptisten, Methodisten und die "Kirche Gottes". Daneben gibt es noch andere charismatische und evangelikale Gemeinden.
Noch stärker als ihre orthodoxen Mitchristen litten die Protestanten unter der Machtübernahme der Kommunisten 1944. Sie galten als "Handlanger und Agenten" der USA, da die Gründung der ersten evangelischen Gemeinden im 19. Jahrhundert auf amerikanische Missionare zurückging, die damit zugleich die Unabhängigkeit Bulgariens von den Türken und den Griechen unterstützen wollten.
Offene Diskussion fällt schwer
Am 4. November 1948 wurden fünfzehn evangelische Pfarrer, unter ihnen die leitenden Geistlichen aller fünf in der Evangelischen Allianz zusammengeschlossenen Kirchen, verhaftet. Sie wurden gefoltert und in Schauprozessen zum Teil zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. In den folgenden Jahren gingen die Repressalien gegen die Protestanten, Inhaftierungen und Verbannungen in Arbeitslager, weiter. Dezimierung und lokale Isolierung der Gemeinden waren die Folge. Sie führten auch dazu, dass die bulgarischen Protestanten zur Zeit des Kalten Krieges langsam vom Weltkirchenrat und vom Westen vergessen wurden. Noch heute gibt es zwischen Bulgariens und Deutschlands Protestanten kaum offizielle Kontakte.
Unter dem äußeren Druck prägte sich in den kleinen evangelischen Kirchen eine evangelikal-erweckliche Frömmigkeit aus, die für die liberale Theologie und den gesellschaftlichen Pluralismus des Westens nur wenig anschlussfähig ist. Diese Frömmigkeit brachte zweierlei hervor: auf der einen Seite glaubensstarke und widerständige Pfarrer wie den Kongregationalisten Hristo Kulichev, der im Gefängnis selbst unter Folter seinem Glauben treu blieb. Auf der anderen Seite aber auch ängstliche und angepasste Protestanten, die mit der Staatssicherheit zusammenarbeiteten und Mitchristen verrieten, wie das die 2013 erschienene, auf Archivmaterialien beruhende Studie des evangelischen Pfarrers Angel Pilev zeigt.
Wie in der bulgarischen Gesellschaft ist die offene Diskussion über die Stasivergangenheit in den Kirchen enorm schwer. Es gibt keinerlei Vorbilder, wie man die Geschichte und die Folgen der kommunistischen Diktatur und die Erfahrungen der Opfer angemessen aufarbeiten kann. Die Wenigen, die sich für einen offenen Umgang mit der Vergangenheit einsetzen und entsprechende Archivrecherchen vorlegen, müssen mit Anfeindungen, Drohungen, Verleumdungen und Mobbing am Arbeitsplatz rechnen.
Gleichwohl sind in den vergangenen fünfzehn Jahren in beiden Konfessionen Pfarrer und Gemeindemitglieder herangewachsen, die sich nicht mit dem Schweigen zufrieden geben und sich in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Initiativen für Religionsfreiheit, Toleranz, Demokratisierung und die Öffnung der bulgarischen Gesellschaft einsetzen. Sie treffen sich regelmäßig bei den Demonstrationen, sind aber noch nicht genügend politisch organisiert, um mit einer eigenen Bürgerrechtsbewegung oder Partei die traditionellen Parteien und alten Personalkader abzulösen.
Katharina Kunter
Katharina Kunter
Prof. Dr. Katharina Kunter, geboren 1968, ist seit 2020 Professorin für Contemporary Church History specifically Nordic Countries and Europe an der Theologischen Fakultät der Universität Helsinki. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Ökumenischen Bewegung sowie die Kirchliche Zeitgeschichte Osteuropas.