Meinhard Miegel, der konservative Querdenker, ist einer der bekanntesten deutschen Sozialwissenschaftler. Der 75-Jährige warnte schon in den Siebzigerjahren vor der staatlichen Schuldenpolitik, erklärte früher als andere, dass die Rente nicht mehr sicher ist und zeigt seit rund 15 Jahren eine zunehmend radikale Abkehr von der Wachstumsideologie. Sein jüngstes Buch Hybris. Die überforderte Gesellschaft markiert darin einen vorläufigen Schluss- und Höhepunkt. Miegels Analyse: Die Moderne hat das Glücksversprechen der christlichen Religion auf Erlösung und Erfüllung während der vergangenen 250 Jahre vom Jenseits ins Diesseits geholt. Aus dem Ziel der seelischen Vervollkommnung wurde das Ziel vollständiger materieller Sättigung. Der Weg war Wachstum. Dieses hat sich verselbstständigt und zur Hybris entgrenzt - es ist die alte Geschichte vom Turmbau zu Babel.
Die Ergebnisse entgrenzten Wachstums sind allgegenwärtig: Die Stationen der Miegelschen Besichtigungstour heißen: Bauten, Mobilität, Bildung, Sport, Arbeit, Schulden, Sozialstaat, Europa, Globalisierung. Kein Leser, in dem nicht sofort passende Bilder aufsteigen.
Das "Immer-mehr" der frühindustrialisierten Wohlstandsgesellschaften macht aber nicht glücklich. Seit den Siebzigerjahren ist die allgemeine Zufriedenheit in den usa und Westeuropa nicht mehr gestiegen. Gleichwohl wird das Tempo des ziellosen Wachstums noch gesteigert. Das überfordert alle: die Natur, die Gesellschaft, den Staat, das Individuum.
Miegels Gegengift heißt: Beschränkung. Als konservativer und liberaler Denker erwartet er Beschränkung auch von jedem Einzelnen. Insbesondere fordert er, die Ansprüche an den Staat zu senken. Nicht "Zuwenig" sei das Problem, sondern "Zuviel". Miegel fordert mehr unbezahlte Eigenarbeit, einen abgespeckten Sozialstaat, Gemeinsinn. Darin ist er sich treu geblieben seit der Zeit, als er der Zukunftskommission Sachsens und Bayerns vorsaß und mit Kurt Biedenkopf zusammenarbeitete.
Einen Weg aus der Krise weist Miegel gleichwohl nicht. Das sei auch nicht möglich, argumentiert er: Denn wir haben es mit einem Zeitenwandel zu tun, einer fundamentalen Krise des westlich-säkularen Denkens, die tiefer reicht als die offensichtliche Krise des Wirtschaftssystems.
Die Stärken des Buches sind seine Prägnanz und Knappheit, die Schilderungen, die große Zeiträume und Themengebiete umspannen - von der Arbeitswelt bis zum Sport, von der europäischen Geistesgeschichte bis zur Glücksforschung. Miegel erweist sich als unabhängiger Wachstumskritiker, der zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt wie bekannte, eher linke Autoren, etwa der Soziologe Harald Welzer. Einige sind Mitarbeiter seines "Denkwerks Zukunft", der Stiftung, die Miegel gemeinsam mit dem Mäzen Dieter Paulmann gegründet hat. Es spricht für ihn, dass er die jungen Antiwachtumsbewegungen gelten lässt, dass er dafür plädiert, neue Wege auszuprobieren und Irrtümer zu riskieren.
Die Schwäche des Buches ist indes seine Eindimensionalität in der Analyse: Hybris allein ist keine ausreichende Erklärung für den Weg, der die reichen Gesellschaften in die Sackgasse geführt hat. Unverkennbar schlägt auch Miegels Skepsis gegenüber dem Sozialstaat durch. Doch nicht ausufernde Sozialausgaben machen den Staat arm, sondern das ungeheuerliche globale Ungleichgewicht von privaten Gewinnen und sozialisierten Verlusten - Stichworte sind: Finanzkrise, Ressourcenverbrauch, Energiewirtschaft, Verkehr.
Miegel benennt die Interessengegensätze indes nicht. Seine Subjekte sind ein diffuses "Wir" und das verantwortliche Individuum. Das Wort "Ausbeutung" kommt in seiner Abrechnung mit der westlichen Hybris nicht vor. Auch die Konsequenz formuliert er nicht: Wer das nicht mehr will, hat mächtige Gegner.
Meinhard Miegel: Hybris. Die überforderte Gesellschaft. Propyläen Verlag. Berlin 2014, 320 Seiten, 22,99 Euro.
Bettina Markmeyer