Kraftvoll hat der renommierte Migrationsforscher Klaus J. Bade seine Kritik an dem phänomenalen Erfolg des Buches von Thilo Sarrazin vorgetragen. Bade musste nur die Brosamen der eigenen Forschung und die kapitalen Misskalkulationen von Sarrazin zusammentragen: Von dem erfolgreichsten Sachbuch bleibt nichts mehr übrig. Nun ist Bade eben auch ein deutscher Professor und kann nicht aus seiner Haut heraus. Er würde nie zu billiger Polemik Zuflucht nehmen. Er kann auf fast vierhundert Seiten nur feststellen: Es stimmt nichts in dem Sarrazin-Buch, es wechselt zwischen Sachkritik und Polemik "übergangslos". Sarrazin nimmt bestimmte Bereiche der Realität "mit gezielt selektiver Wahrnehmung und grob denunziatorischer Einstellung von angegriffenen Personen und Argumentationen" wahr.
Thilo Sarrazin selbst hat als Finanzsenator in Berlin zu den Fehlentwicklungen kräftig beigetragen, die er später beklagte: Durch einschneidende Kürzungen bei Bildung, Kindertagesstätten und Polizei. Damals gingen 10.000 Kinder in Vorklassen, die dann durch die Kürzungen abgeschafft wurden. Diese versuchten, Defizite bei den Kindern zu beheben, bevor sie in die Schule kamen. Dann fiel der Finanzsenator durch vierzig amtlich gemeldete Nebentätigkeiten auf. Er bekam 11 000 Euro Monatsgehalt, war Vorstandsmitglied der DB Netz AG. Er empfahl Hartz IV-Empfängern, "wie man (als Arbeitsloser) schon für Euro 3,76 am Tag drei volle Mahlzeiten" erwerben könne.
Eine der vorbildlichsten deutschen Politikerinnen, Barbara John, war entsetzt über diesen brachialen Polemiker: "Was er sagt, ist abwertend, niedermachend, destruktiv und ausgrenzend." Man muss sich vor Augen führen, dass es trotz der Migrationsforschung zuerst Bundesinnenminister Otto Schily war, der sagte: "Die Integration von Bürgerinnen und Bürgern ausländischer Herkunft ist lange als Problem verdrängt worden. Wie mit zwei Scheuklappen wurde versucht, die Realität auszublenden, zur Rechten mit der Parole, Deutschland sei kein Einwanderungsland, zur Linken mit dem Credo reiner Multikulti-Seligkeit."
Bade beschreibt in weiteren Kapiteln das "Agitationskartell Kelec, Sarrazin und Co". Auch hier kann er feststellen, wie die deutsche Publizistik auf Agitationen einer Autorin hereinfallen, die sich zur Assistentin von Sarrazin gemacht hat. Ganz besonders gefährlich wird es, wenn Wort- zur Tatgewalt wird, wie Bade es in einem großen Kapitel über den norwegischen Massenmord in Utoya sowie an dem Versagen aller Polizei- und Geheimdienste in Deutschland am Beispiel der NSU-Serienmorde in Deutschland darstellt.
Das Buch von Klaus J. Bade erinnert an Rufer in der Wüste, die schon vor über dreißig Jahren die richtigen Forderungen und politischen Analysen gestellt haben. Er widmet das Buch Lieselotte Funcke, die 1981 das Amt des "Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen" übernahm. Funcke und ihr kleines Team waren Vorkämpfer wider den amtlichen Ungeist der demonstrativen Erkenntnisverweigerung gegenüber der Einwanderergesellschaft. "Die Geschichte von Migrations- und Integrationspolitik blieb jahrzehntelang eine Kette von fahrlässigen Versäumnissen, Verdrängungen, Nichtentscheidungen und Spätentscheidungen mit Schleifspuren bis in die Gegenwart hinein", schreibt Klaus J. Bade. Die Lektüre ist für Politiker und alle Deutschen unverzichtbar, in Gegenwart und Zukunft.
Klaus J. Bade: Kritik und Gewalt. Wochenschauverlag, Schwalbach/Ts. 2013, 398 Seiten, Euro 26,80.
Rupert Neudeck