Der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel von der Harvard-Universität ruft mit seinem neuesten Buch zu einem Diskurs über die Frage auf: "In welcher Art von Gesellschaft wollen wir leben? Wünschen wir eine Gesellschaft, in der alles käuflich ist, oder gibt es gewisse moralische Werte, die von den Märkten nicht gewürdigt werden - und die man für Geld nicht kaufen kann?" In dieser Einschränkung auf die Werte, die vom Kommerz noch nicht erreicht sind, ist eine Veränderung unserer Marktgesellschaft bestimmt noch nicht erreichbar. Hier hat Sandel von vorn herein einen ethischen Rückzugsplatz eingenommen, den er eigentlich selbst nicht vertreten möchte, auf den er sich aber beschränkt, um normatives Denken anzuregen.
Natürlich weiß der Autor, dass Fragen nach einer lebenswerten Gesellschaft nicht einheitlich beantwortet werden können, weil die Sieger und Verlierer der Marktgesellschaft jeweils andere Perspektiven haben, die die Gesellschaft heute schon spalten. Deshalb zeigt er anhand der amerikanischen Gesellschaft von heute auf, wie der Triumph des Marktes schon alle Lebensbereiche besetzt hat.
Die beschriebenen Zustände sind erschreckend und überbieten bereits die negativen Visionen, die Aldous Huxley 1932 in seinem Roman "Schöne neue Welt" vorausgesagt hat. Sie zeigen auf, wohin eine ungebremste Marktwirtschaft gelangt. Für ihn wirken Märkte tendenziell immer lebenszerstörerisch. Sandel will die Debatte über Werte deshalb nachholen, weil sie in der Zeit der triumphalen Märkte nicht stattfand. Ob dies gelingen wird, bleibt offen, aber es ist gut, dass sie neu aufgegriffen und insbesondere von der Jugend dankbar ergriffen wird - kein Moralphilosoph hat heute weltweit solch eine Resonanz wie er.
Wer eindeutige Antworten will, wird bei Sandel nicht fündig werden. Seine Methode, die er mit seinen Studenten in Harvard entwickelt hat, bezieht sich auf das antike Vorbild des Sokrates mit seinem fortgesetzten Fragen. In seinem Buch klingt diese methodisch fingierte Ratlosigkeit so: Warum entscheidet über die Zulassung an einer Universität idealerweise nicht die Kaufkraft, sondern die Eignung? Warum wird in der Notfallambulanz des Krankenhauses nicht nach Einkommen, sondern nach Dringlichkeit entschieden, wer an der Reihe ist? Warum entscheidet nicht Geld über die Frage, ob einer das Wahlrecht in einem Staat hat?
Nicht mehr unabänderlich
Sandel ist nicht naiv. Er weiß, dass dies alles heute schon käuflich ist. Er weiß um die Korruption in allen Gesellschaftsschichten. Er hat für dieses Buch präzise recherchiert, nennt die Fälle von Ärzten, die gegen Geld Sofortbehandlungen anbieten. Er weiß um gekaufte Studienplätze, berichtet von Staaten, die Unternehmen oder Financiers ab bestimmten Investitionssummen eine Greencard anbieten. Diese Zustände, die viele für unabänderlich halten, will Sandel wieder in Fragen verwandeln. Denn Philosophen sind zuständig fürs Normative, und das heißt auch für die Geschichte der Ideen. So fragt er: Was unterscheidet Verdienst, Bedürftigkeit und Zufall voneinander? Mit welchen Folgen? Sandel erklärt den kämpferischen Disput jenen Ökonomen, die einfach nur wertneutral zu beschreiben vorgeben, wie menschliches Verhalten auf Anreize reagiert.
Er fordert, dass sich die Ökonomie wieder in ihre Herkunft aus der Moralphilosophie einbetten soll. Sie soll üben, sich daran zu erinnern, woher sie kommt. So spielen Übung und Gewöhnung, zwei menschliche Eigenheiten, in Sandels Buch eine besondere Rolle. Sie untersucht er näher. Mit Aristoteles ist er überzeugt, dass man jede Tugend einüben müsse, wie man auch Muskeln trainiert: Gerecht wird man durch das Gerechtsein und marktkritisch durch ein marktkritisches Verhalten. Das Paradebeispiel sind für Sandel die Schweizer Bürger im Dorf Wolfenschiessen, die sich von der Notwendigkeit eines nuklearen Endlagers nicht durch Geld überzeugen ließen. Die Leute wollten nicht bestochen werden, sondern frei entscheiden.
Wird alles real gelingen? - Eine Umkehr ist nur möglich, wenn die durch Märkte fehlgeleitete Menschheit erkennt, dass sie allein dem eigenen Gotteskomplex erlegen ist, den der Sozialpsychiater Horst Eberhard Richter schon 1979 in seinem gleichnamigen Buch aufgezeigt hat.
Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Ullstein-Verlag, Berlin 2012, 303 Seiten, Euro 19,99.
Christoph Körner