Ausgefallen, gescheitert
Das "Jahr der Pflege" ist ausgefallen. Die griffige Formel hatte der damalige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) geprägt, als er Ende 2010 verkündete: "Wir wollen das Jahr 2011 zum politischen Pflegejahr in der Koalition machen." Der schwarz-gelben Koalition ist es indes nicht einmal gelungen, sich selbst zu pflegen - und für 2,4 Millionen Menschen, die Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen, geht es unter dieser Regierung nicht voran. Philipp Röslers Nachfolger Daniel Bahr (FDP) hat im Januar einen Gesetz-entwurf vorgelegt. Am stärksten fällt auf, was dieser nicht enthält: die Einbeziehung der rund 1,3 Millionen Demenzkranken in die regulären Pflegeleistungen und ein Finanzierungsmodell für die Zukunft. Dabei weiß auch Bahr, dass dies die entscheidenden Herausforderungen sind.
Als Trostpflaster sollen Demenzkranke in den unteren Pflegestufen mehr Geld bekommen. Damit will Bahr die Familien unterstützen, die zu Hause pflegen. Wer im Heim lebt oder die Pflegestufe III hat, geht leer aus, weil das Geld für alle nicht reicht. Denn die Finanzierung soll allein aus der geplanten Beitragserhöhung um 0,1 Prozentpunkte Anfang 2013 erfolgen. Die bringt 1,1 Milliarden Euro pro Jahr. Eine vollständige Einbeziehung der Demenzkranken in die Versicherung würde aber rund drei Milliarden Euro kosten.
Für den Einzelnen erhöhen sich damit im Wahljahr 2013 Pflegegeld- oder Sach- leistungen um 70 bis 225 Euro monatlich, je nach Pflegestufe. Geplant sind Geldpauschalen für Pflege-Wohngruppen. Die Pflegeversicherung soll Strafe zahlen, wenn sie Anträge zu lange liegenlässt. Außerdem sollen Pflegebedürftige künftig beim Pflegedienst zwischen "Waschen, Kämmen, Toilettengang" oder einem Zeitbudget wählen können. Das ist ein erster zaghafter Schritt von der Akkordpflege wegzukommen.
Schließlich will Bahr seine Zeit als Minister noch nutzen, um private Pflege-Zusatzversicherungen finanziell zu fördern. Für die Zukunft der gesetzlichen Pflegeversicherung ist damit nichts gewonnen, wohl aber für die Klientel der FDP. Die Förderung komme nur Wohlhabenden zugute, kritisiert die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Bundestages, Carola Reimann (SPD). Und nicht nur das: Private Vorsorge kommt auch den Versicherungsunternehmen zugute.
Allerlei Haken
Dabei gibt es jede Menge Haken. Private Risikoversicherungen können sich ihre Kunden aussuchen. Ein Mensch mit einer beginnenden Parkinson-Erkrankung etwa würde gar nicht erst aufgenommen, da er irgendwann pflegebedürftig werden wird. Außerdem müssen ältere Menschen bei den Privaten mehr zahlen als junge.
Die Branche selbst rechnet in internen Papieren mit Beiträgen von bis zu 50 Euro monatlich für eine nennenswerte Zusatzvorsorge. Wer weniger zahlt, bekommt auch weniger - anders als in der gesetzlichen Pflegeversicherung, in der die Leistungen für alle gleich sind.
Wer Verbraucherschützer fragt, was bei einer Pflege-Zusatzversicherung zu beachten ist, lernt noch mehr Haken kennen. Im Kleingedruckten können wichtige Leistungen ausgeschlossen sein. Manche Angebote, etwa Pflege-Rentenversicherungen, lohnten sich kaum, weil das Verhältnis von Beitrag und Leistung nicht stimme, sagt Dieter Lang vom Bundesverband der Verbraucherzentralen. Eine Pflege-Tagegeldversicherung könne hingegen sinnvoll sein - sei aber keineswegs für ein paar Euro zu haben.
Der größte Haken: Die private Vorsorge ist ungerecht. Wer sich keine Pflege-Zusatzversicherung leisten kann, bekommt auch nichts. Zu beobachten ist das heute schon bei der Riester-Rente, der staatlich bezuschussten Altersvorsorge: Geringverdiener schließen selten Riester-Verträge ab. Die gutverdienende Mittelschicht dagegen lässt sich ihre Rente vom Staat aufbessern.
Die SPD hat angekündigt, die Pflegereform im Bundesrat zu blockieren, wo Schwarz-Gelb keine Mehrheit mehr hat. Doch das wird schwierig. Denn die Koalition will die Reform in zwei Teile aufspalten. Die private Zusatzvorsorge soll in einem eigenen Gesetz geregelt werden. Diese Novelle, die im Finanzmnisterium erarbeitet wird, können Union und FDP ohne Zustimmung des Bundesrats im Bundestag verabschieden. Wollen SPD- und grün geführte Länder dennoch die Reform aufhalten und den Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat anrufen, dann müssten sie das andere Gesetz blockieren, für das Gesundheitsminister Bahr zuständig ist. Darin sind aber die Änderungen enthalten, die - auch, wenn sie unzureichend sind - sinnvoll erscheinen: Verbesserungen für Demenzkranke und eine Beitragserhöhung.
Die Demenzkranken sind unterversorgt, weil Pflegebedürftigkeit nur körperliche Einschränkungen umfasst. Wer Hilfe beim Waschen und Essen braucht, erhält Leistungen - wer den ganzen Tag betreut werden muss, weil er altersverwirrt ist, nicht. Seit der letzten Pflegereform unter der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) gibt es immerhin 100 bis 200 Euro im Monat für die Betreuung außer Haus, etwa in einer Tagesstätte.
Rücklagen nötig
Seit der Einführung der Pflegeversicherung 1995 hat sich die Zahl derer, die Leistungen in Anspruch nehmen, bereits um ein Drittel auf 2,4 Millionen Menschen erhöht. Entsprechend steigen die Ausgaben. Bis 2030, wenn die geburtenstarken Jahrgänge pflegebedürftig werden, wird sich allein die Zahl der Demenzkranken wiederum um ein Drittel erhöht haben - auf dann knapp zwei Millionen Menschen.
Soll die Pflegeversicherung dann noch funktionieren, müsste sie heute Rücklagen bilden. Das aber hat die schwarz-gelbe Koalition nicht beschlossen, weil sie sich - wie übrigens auch die Vorgänger-Regierungen - nicht auf ein Finanzierungsmodell einigen konnte. Die FDP wollte eine obligatorische private Zusatzversicherung. Diese Pflicht- Privatversicherung konnte sie vor allem gegen die CSU nicht durchsetzen. Deshalb gibt es jetzt nur die staatliche Förderung.
Die CSU lehnt alle kapitalgedeckten Ergänzungen der Pflegeversicherung ab. Sie will die steigenden Ausgaben aus Steuern finanzieren. Die CDU wiederum ist gespalten: Die jungen Abgeordneten wollen die Pflegeversicherung durch eine kollektive Reserve aus Kapitalmarktanlagen ergänzen, für die die Versicherten allein aufkommen müssten. Die eher traditionell denkenden Sozialpolitiker in der Unionsfraktion wollen eine Reserve innerhalb der gesetzlichen Pflegeversicherung anlegen und dafür höhere, paritätisch finanzierte Beiträge einsammeln, damit auch die Arbeitgeber ihren Anteil zahlen.
Neben der Finanzierungsfrage wäre aber der Kern einer wirklichen Reform eine neue Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs - darüber sind sich alle einig. Schon Ulla Schmidt wollte diese Reform in Gang bringen. Die schwarz-gelbe Koalition hat sie als gemeinsames Ziel in den Koalitionsvertrag geschrieben. Der Vorsitzende des Kuratoriums Deutsche Altershilfe und frühere Diakonie-Präsident, Jürgen Gohde, sollte mit einem Beirat die Umsetzung erarbeiten. Gohde aber hat im Dezember seinen Posten entnervt aufgegeben. Er sehe "keine Chance für eine erfolgreiche Arbeit des Beirats", sagte er. Minister Bahr bedauerte - und kündigte umgehend an, dass sich nun der Patientenbeauftragte der Regierung, Wolfgang Zöller (CSU), und das Ex-Vorstandsmitglied des Krankenkassen-Spitzenverbandes, Klaus-Dieter Voß, darum kümmern sollen.
Zusatzeinnahmen reichen nicht
Für die Umsetzung einer Pflegereform, die diesen Namen verdient, ist aber Gohde die Schlüsselfigur: Sein Beirat hatte bereits 2009 ein Konzept vorgelegt, auf das sich von den Pflegekassen über Patientenorganisationen und Berufsverbänden bis hin zu Pflegewissenschaftlern, Ökonomen und den Fachpolitikern der damaligen großen Koalition alle Seiten verständigt hatten. Dem Gohde-Beirat zufolge würde Pflegebedürftigkeit künftig so ermittelt, dass auch demenzielle Einschränkungen zu Leistungen aus der Pflegeversicherung berechtigen. Sollen für diese neuen Leistungen nicht die Ansprüche der bisherigen Pflegebedürftigen gekürzt werden, müssten nach Angaben des Sozialverbandes VdK rund drei Milliarden Euro mehr pro Jahr in die Kassen der Pflegeversicherung fließen. Das entspricht einer Beitragserhöhung um 0,3 Prozentpunkte.
Also reichen die jetzt geplanten 1,1 Milliarden Euro Zusatzeinnahmen nicht aus. Die schwarz-gelbe Koalition weiß das. Der einflussreiche gesundheitspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Jens Spahn, hat noch im Herbst 2011 erklärt, allein für die Demenzkranken brauche man mindestens zwei Milliarden Euro mehr. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Johannes Singhammer, hatte zuvor schon Beitragserhöhungen von bis zu 0,5 Prozentpunkten ins Gespräch gebracht.
Gohdes damaliger Beirat nannte keine bestimmte Summe, sondern präsentierte verschiedene Szenarien mit Mehrkosten von bis zu fünf Milliarden Euro. Denn die Vorgabe, was die Pflege in Deutschland kosten darf, muss aus der Politik kommen. Sie kommt aber nicht. Nach seinem Rücktritt sagte Gohde, er habe trotz langen Abwartens und vieler Gespräche keine Aussage bekommen, wie teuer die Umsetzung der Reform werden dürfe. Dies sei aber die "absolut notwendige Voraussetzung" für seine Arbeit.
Sozialverbände zollten Gohde Respekt. Offenbar wolle sich selbst ein so "geduldiger Experte" wie der evangelische Theologe nicht mehr für eine Alibi-Veranstaltung zur Verfügung stellen, erklärte die Arbeiterwohlfahrt. Die Deutsche Hospiz-Stiftung bilanzierte knapp: "Das zentrale gesundheitspolitische Ziel dieser schwarz-gelben Regierungskoalition, die Pflege in Deutschland zu reformieren, ist gescheitert."
Bettina Markmeyer