Wenn ich mich nicht täusche

Die Gesellschaft verändert sich. Die Wahrnehmungen davon liegen gar nicht weit auseinander
Foto: dpa
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Statistik ist nur ein möglicher Zugang zu gesellschaftlichen Phänomen, die persönliche Erfahrung ein anderer. Sieben Personen berichten, wo sie eine Verrohung in der Gesellschaft wahrnehmen.

Ruhig bleiben

Lea Dickenhorst ist 18 Jahre alt, lebt im westfälischen Werther und besucht die 12. Klasse im Oberstufenkolleg Bielefeld.

Gewalt beobachte ich fast jedes Wochenende, wenn ich ausgehe.

Wirklich, ich war noch nie in einer Disco, einem Club, ohne dass ein paar Typen aneinandergeraten sind. Die Türsteher kommen jeden Abend ein paar Mal zum Einsatz, um Streit zu schlichten. Einmal hat ein Typ meinen Freund angepöbelt, weil er ihn angeblich angerempelt und Bier auf sein Shirt verschüttet habe. Er ging sofort meinem Freund an die Kehle, worauf das Personal dann die Polizei verständigte. Letztlich wird überall viel zu viel getrunken und deshalb eskaliert das so schnell.

Allein würde ich nachts nie auf die Straße gehen, selbst in kleinen Frauengruppen wird man ständig angemacht, angegrapscht, die Typen haben kein Schamgefühl, kennen keine Grenzen. Nur in der Clique, wenn Jungen dabei sind, fühle ich mich sicher. Eine Freundin von mir wurde einmal nachts, als sie auf dem Heimweg vom Bus zu ihrem Haus war, beinah von drei jungen Männern in ein Auto gezerrt, sie konnte gerade noch wegrennen. "Willst du mitfahren?", riefen sie ihr zu, dann stieg einer aus. Ein "Nein" wird einfach nicht akzeptiert.

Dem möchte ich mich nicht aussetzen und lasse mich immer bis vor die Haustür bringen.

Als ich noch in der Realschule war, gab es einen schlimmen Fall von übelstem Mobbing. Das ist doch auch eine Form von Gewalt, oder? Ein Mädchen, das etwas pummelig war, wurde als Qualle beschimpft und mit einem bearbeiteten Foto, auf dem sie noch viel dicker aussah, bei Facebook eingestellt.

Obschon das bald gelöscht werden musste, haben viele sie darauf hämisch angesprochen. In einem polizeilichen Verfahren konnten drei Jungen aus der Parallelklasse ausfindig gemacht werden. Soviel ich weiß, mussten sie Schmerzensgeld bezahlen und wurden von der Schule verwiesen.

Zuhause würde ich mich nicht getrauen, meine Mutter so respektlos anzusprechen, wie manche das tun. Ich meine, im sprachlichen Bereich geht es doch schon los, oder? Klar, reden wir anders, wenn wir unter uns sind, da gibt es einige Ausdrücke, die unter die Gürtellinie gehen. Doch bei einigen rutscht das ganz schnell ab in den Bereich verbale Gewalt, vor allem gibt es so viele sexuelle Anspielungen, das hasse ich. Die meisten sehen zu viel Reality-TV, wo so eine Sprache regelrecht kultiviert wird!

Jedenfalls bin ich froh, dass ich meinen Sport habe. Ich spiele Handball und bei uns wird extrem auf Fairness und auch auf faire Sprache geachtet. Allein damit kann man sich gut von anderen abgrenzen. Und das ist mir wichtig.

Ich denke, man muss wirklich aufpassen, mit wem man sich umgibt, damit nichts abfärbt und schauen, dass man in Situationen, die gefährlich werden könnten, ruhig bleibt und sich sofort nach Hilfe umschaut. Das habe ich auch meiner Mutter versprochen, sonst könnte die wohl nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich ausgehe.

Aufgezeichnet von Angelika Hornig

Widerspruch wirkt

Gerhard Isermann, 80, Pastor und langjähriger Pressedirektor der Hannoverschen Landeskirche, wohnt in Hannover.

Verrohung der Gesellschaft? Da gilt es zunächst einmal zu unterscheiden zwischen dem, was ich in der Zeitung lese und im Fernsehen sehe - und meinen eigenen Erfahrungen.

Was letztere angeht, so muss ich erst einmal von positiven sprechen: Ich gehe inzwischen wegen Knieschäden buchstäblich am Stock - und bekomme in der Straßenbahn sehr häufig einen Platz angeboten. Oft ist mir das gar nicht einmal recht, ich weiß, das Aufstehen am Ende der Fahrt wird mir schwerfallen. Aber ich nehme es doch mit Dank an. Sehr häufig sind es übrigens Jugendliche mit offensichtlichem so genanntem Migrationshintergrund, die sich zu dieser altmodischen Höflichkeit verstehen.

Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, so habe ich wirkliche Verrohung in einem ganz anderen Lebensabschnitt erlebt, nämlich in der Hitlerjugend. In ihr wurde vorsätzlich zur Gewalttätigkeit erzogen. Zum Beispiel wurden die einzelnen "Fähnlein" zum Kampf - will heißen: zur handfesten Prügelei - um die Fahne verpflichtet und aufgehetzt. Brutale Gewaltbereitschaft war damals staatlich gewolltes Erziehungsziel. Wenn ich daran zurückdenke, kann ich nur sagen, die Zeiten haben sich zum Guten verändert. Aber natürlich habe ich in den letzten Jahrzehnten auch eine ganze Reihe von Situationen erlebt, wo ich als Passant oder Mitfahrgast Zeuge von Gewalt oder eskalierenden Situationen geworden bin. Ich habe mich nie gescheut einzugreifen. So erinnere ich mich an einen Fall, in dem ein deutlich verängstigter Schwarzer von jemandem, der ihn lauthals beschimpfte, bis in die Straßenbahn verfolgt wurde. Ich forderte den Rüpel auf, damit aufzuhören - und oh Wunder, er setzte sich. Oder: Ein Glatzkopf wurde von einigen Jugendlichen mit Irokesenschnitt verfolgt und mit einer Fahrradkette geprügelt. Auch da habe ich interveniert - und weiß bis heute nicht, woran es lag, dass sie von ihrem Opfer abließen und sich verzogen: an mir oder daran, dass schließlich in der Nähe ein Martinshorn ertönte.

Ich könnte noch über eine Reihe von ähnlichen Vorfällen berichten, will es aber kurz machen. Im großen Ganzen kann ich sagen: Ich habe mit dem Sich-Einmischen gute Erfahrungen gemacht. Natürlich bin ich mir bewusst, dass die Sache auch schief gehen kann und dass vieles von den Umständen abhängt: ob es sich um eine Gruppe handelt, ob die Aggressoren betrunken sind, davon, wer sich in der Nähe aufhält, und so fort. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Bereitschaft, nach Möglichkeit einzugreifen, für den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig ist. Widerspruch wirkt, dies ist meine Botschaft an die Ängstlichen und an diejenigen, die mit einem "Hat ja doch keinen Zweck" reflexmäßig die Achseln zucken.

Aufgezeichnet von Helmut Kremers

Etwas hat sich verändert

Hiltrud Look, 56, ist seit dreißig Jahren Lehrerin an einer Förderschule Sprache in Mettmann bei Düsseldorf.

Ja, es hat sich schon etwas geändert in den letzten Jahrzehnten. So haben zum Beispiel Gewaltspiele auf dem Schulhof stark zugenommen. Oft ist es auf den ersten Blick schwer zu entscheiden, ob hier noch gespielt wird oder ob es sich schon um eine gewalttätige Auseinandersetzung handelt. Wenn man dazwischen geht, rufen die Kinder oft im Chor: "Wir spielen doch nur." Sage ich dann: "Aber es kann doch auch ziemlich unangenehm sein, wenn man im Spiel einen Tritt ins Gesicht bekommt," schauen sie betreten, aber doch eher verständnislos. Kommt es wirklich zu einer Prügelei, lässt sich schon ein Unterschied zu früher ausmachen: Heute wird häufiger weiter geprügelt - oder meistens: getreten -, wenn der andere am Boden liegt. Da lässt sich unschwer auf mediale Vorbilder schließen; die Kinder folgen den Mustern, die sie im Fernsehen und in ihren Computerspielen geliefert bekommen.

Ja, es hat sich atmosphärisch etwas geändert. Deutlich wird das daran, dass viele Kinder, wenn sie etwas angestellt haben, nicht bereit sind, dies zuzugeben, auch wenn sie längst überführt sind. Das muss man als Lehrerin erst einmal verstehen. Oft findet sich des Rätsels Lösung, wenn man mit den Eltern spricht. Immer häufiger sind Eltern nicht bereit, sich ruhig anzuhören, was man am Betragen ihres Kindes auszusetzen hat, stattdessen gehen sie gleich in die Offensive: Das seien ja wohl ungerechte Unterstellungen, und überhaupt habe die Lehrerin ja wohl viel zu wenig Verständnis für ihr Kind.

Nach meiner Wahrnehmung geht die Bereitschaft zu gesellschaftlicher Rücksichtnahme zurück. Auch die Einsicht, dass gewisse soziale Verhaltensweisen für den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig sind, ist keineswegs mehr sonderlich verbreitet und damit auch nicht die Bereitschaft, dies den Kindern zu vermitteln. Natürlich ist mir auch bekannt, dass das Familienleben heute in vielen Familien überwiegend vor dem Fernseher oder vor dem Computer stattfindet. Ich denke, wenn Kinder schon im Grundschulalter hunderte von Gewaltakten und Morden im Fernsehen gesehen haben, geht das nicht spurlos an ihnen vorüber. Wenn ich mich nicht täusche, wenn meine Wahrnehmung nicht einfach daran liegt, dass ich dreißig Jahre älter bin, dann hat sich wirklich etwas verändert in der Gesellschaft. Und wenn der Trend weiter in diese Richtung geht, verheißt das nichts Gutes.

Aufgezeichnet von Helmut Kremers

Widerwillig oder gar nicht

Heribert Werner, 67, ist Inhaber eines Handwerksbetriebes in der Baubranche in Friedrichsdorf bei Frankfurt am Main.

In meinem Beruf komme ich viel mit Menschen zusammen. Was mir auffällt, ist, dass sich der Umgangston in den letzten Jahrzehnten geändert hat, und zwar nicht zum Besseren. Oft bekomme ich vom Arbeitsamt Aushilfskräfte vermittelt. Viele von ihnen stammen aus den ehemaligen Ostblockländern, aber es sind auch Deutsche dabei. Schon immer habe ich Wert darauf gelegt, mit meinen Leuten auch privat ins Gespräch zu kommen, und dabei ist mir aufgefallen, dass der gängige Ton heute ziemlich aggressiv ist, als müssten die Leute ständig zeigen: Komm mir nicht krumm, ich schlage auch zu. Ob sie wirklich gewaltbereiter sind als früher, kann ich noch nicht einmal sagen, vielleicht ist es auch nur der "angesagte" Ton unter jüngeren Leuten. Jedenfalls bemerke ich das auch, wenn mein Sohn - der arbeitet als mein künftiger Nachfolger im Geschäft - schon einmal Freunde zur Aushilfe engagiert.

Eine andere Beobachtung: Ich komme jeden Morgen an einer Bushaltestelle vorbei, an der ein Pulk von Schülern wartet, vielleicht zwischen zehn und vierzehn Jahren alt. Die Hälfte von ihnen raucht und fühlt sich nicht im Mindesten veranlasst, das vor Erwachsenen zu verbergen. Eine Vierzehnjährige antwortete mir, als ich sie fragte, ob ihre Mutter davon wüsste: "Die kauft sie mir ja." Fordere ich die Jugendlichen auf, mir Platz zu machen, tun sie das widerwillig oder gar nicht, rufen mir auch schon einmal etwas hinterher. Manchmal spreche ich einen Jungen an, wenn der seinen Müll gleich neben dem Papierkorb zu Boden fallen lässt, und immerhin reagieren die meisten noch.

Unter meinen Kunden ist eine ganze Anzahl von Lehrern und Lehrerinnen, mit denen ich schon einmal ins Gespräch komme. Sie sagen mir: Wenn ich einem Schüler auf dem Schulhof das Rauchen verbiete, kriege ich am Nachmittag einen Anruf von den Eltern, in denen sie sich darüber beschweren, dass ich mich in Privatangelegenheiten ihres Sohnes einmische. Auch das bestätigt mir: Der Umgangston in der Gesellschaft ist ein anderer geworden. Soziale Kontrolle findet kaum noch statt. Als Erwachsener überlegt man es sich heute, ob man sich wirklich irgendwo einmischen will. Mein Fazit: Es gibt so etwas wie eine schleichende Verrohung. Ob das auch mit einer Zunahme der Gewalt verbunden ist, kann ich nicht beurteilen. Meiner Überzeugung nach erhöht aber die ständige Fernseh-Berieselung mit Gewaltszenen die reale Gewaltbereitschaft ebenso wie die von Jungen gern genutzten Ballerspiele im Internet.

Aufgezeichnet von Helmut Kremers

Es ist rauer geworden

Anna Kienbaum, 31, ist leitende Angestellte in einem Zürcher Pflegeheim.

Ich bin vor kurzem mit meinem Mann und meiner sechsjährigen Tochter aus dem Ruhrgebiet in ein Dorf in der Nähe von Zürich gezogen. Und ich stelle immer wieder fest: Hier geht man anders mit seinen Mitmenschen um. In meiner Heimatstadt kommt keiner auf die Idee, einen "Fremden" zu grüßen. Hier grüßt jeder jeden, und es tut gut, denn es schafft Nähe. Besonders überraschte mich, dass mich sogar fremde Kinder grüßten, einfach aus Höflichkeit, weil sie es gelernt haben. Auch Gruppen von Jugendlichen halten das so und rufen einem nicht etwa dumme Sprüche hinterher.

Angst davor, dass sie mich überfallen oder bei uns einbrechen, habe ich nicht. Ich fühle mich sicherer als in Deutschland. Die Jugendlichen leben ihr Leben und reifen, sie feiern bestimmt auch, aber sie tun nichts Verbotenes. Hier im Dorf gibt es einen kleinen Lebensmittelladen, der über Pfingsten drei Tage geschlossen hatte. Während der ganzen Zeit standen die Werbeschilder auf dem Bürgersteig. Keiner tritt dagegen, wirft sie um oder besprüht sie. Das mag in großen Städten in der Schweiz auch anders sein, aber hier auf dem Dorf geht es menschlicher und sozialer zu als in meiner Heimatstadt.

Dort hat uns zuletzt ja noch nicht mal eine Generation von den Jugendlichen getrennt, aber generell hatte ich schon den Eindruck, dass sie den Menschen und Dingen in ihrer Umgebung mit weniger Respekt und Wertgefühl gegenübertreten, als wir es getan haben. Werden sie anders erzogen? Wird ihnen das so vorgelebt? Viele Erwachsene schauen vor allem auf sich und ihren eigenen Vorteil, da ist kaum Platz für andere - vielleicht noch für die eigene Familie, aber sonst geht es meist um das eigene Wohl. Heute zählen Macht, Eigenständigkeit und Geld. Jeder will etwas Besonderes sein. Die Menschen binden sich stärker an materielle Güter und sehen weniger nach dem anderen Menschen als früher. Ja, ich finde schon, dass es rauer, steriler und materieller geworden ist in unserer Gesellschaft. Als würde der Einzelne weniger wert sein.

Das hat auch etwas mit dem zu tun, was wir jeden Tag in den Medien gezeigt bekommen. Gewalt und Kampf um Macht und Reichtum sind so normal geworden. Wer das täglich im Fernsehen sieht, verliert eher seine Hemmungen, sich auch so zu verhalten. Ihm werden Ideale vorgeführt, die wenig mit dem echten Leben zu tun haben. Alle wollen schön wie Models sein oder mächtig oder reich oder alles zusammen. Da haben sich Ideale und Maßstäbe ziemlich verschoben. Vielleicht verhärtet uns das, jede Generation ein wenig mehr. Wir machen uns selber so.

Aufgezeichnet von Stephan Kosch

Anonyme Brutalität

Manuela Grote ist 47 Jahre alt und arbeitet als Personalrecruiter, also in der Personalvermittlung, einer großen Software-Firma in München.

Der angebliche Verfall von Moral und Sitten ist sicher so alt wie die Menschheit. Klagen über zunehmenden Mord und Totschlag, Korruption, Betrug oder üble Nachrede kennt jede Generation, sie sind keine Erfindungen der Neuzeit. Ich selbst erlebe diese Klagen in Gesprächen mit meinen Eltern und früher auch mit den Großeltern, doch fällt es mir schwer, in sie einzustimmen. Rein statistisch gesehen gehen zumindest die Gewalttaten in Deutschland deutlich zurück. Was meiner Ansicht nach allerdings zunimmt, ist die Eindringlichkeit der Bilder von Gewalttaten. Überwachungskameras auf Plätzen und Bahnsteigen, auch Handykameras machen uns zu unmittelbaren Augenzeugen der Brutalität. Ob Ausmaß und Form der Gewalt so neu sind wie die Medien, kann ich nicht beurteilen.

Was mir allerdings auffällt, ist die wachsende Brutalität aus der Anonymität heraus. Und dafür ist das Internet verantwortlich, das inzwischen einen Großteil unserer gesellschaftlichen Kultur und unseres alltäglichen Berufslebens ausmacht. Früher mussten wir zum Telefonhörer greifen oder über den Flur gehen, um Aug in Aug oder zumindest am Hörer eine Angelegenheit zu klären. Heute verschicken wir Fakten, Termine und Entscheidungen an ein virtuelles Gegenüber.

Dadurch ist der Ton im Umgang schärfer geworden. Aus der Anonymität heraus ist es möglich, vom Zeitungsartikel über Produkttests bis hin zum Urlaubshotel und Arztbesuch alles zu kommentieren und zu bewerten. Niemand muss dazu mit seinem Namen einstehen: Das öffnet der Denunziation und der Verleumdung Tür und Tor. Die Individualisierung und die Liberalisierung unserer Gesellschaft, so viele gute Seiten sie auch haben mögen, leistet dem Vorschub. Es entsteht daraus die Mentalität des "jeder ist sich selbst der Nächste" - sie halte ich für das eigentliche gesellschaftliche Problem, was zu einer Veränderung - ist es eine Verrohung? - in allen Lebensbezügen quer durch alle Bevölkerungsschichten führt. Sei es, dass wir auf der Straße mehr Rempeln und Rüpeln oder im Geschäftsleben die Prinzipien des ehrbaren Kaufmanns aushöhlen. Das Unmaß moderner Möglichkeiten führt zu einer schleichenden Veränderung der Gesellschaft.

Aufgezeichnet von Kathrin Jütte

Es wird ungemütlicher

Miranti Sukanto, 35, Grafikdesignerin, lebt und arbeitet in Berlin.

Ich war drei Jahre in Singapur, vor einem Jahr bin ich zurück gekommen. Und ich muss schon sagen: Ich sehe meine Heimatstadt nun mit anderen Augen. Der ganze Umgangston in der Öffentlichkeit ist sehr viel unhöflicher und gröber, als ich es in Asien erlebt habe. Nun ließe sich natürlich sagen, das liegt daran, dass Singapur ein autoritärer Staat ist. Da ist etwas dran, die Strafen selbst für kleinere Vergehen sind dort drakonisch. Doch allein daran liegt es nicht, die ganze Kultur ist eine andere.

Hier in Berlin wurde ich schon früher immer mal wieder angepöbelt. Ich bin zwar geborene Berlinerin, aber mein Vater ist Indonesier, und das sieht man mir auch an. Mein Vater, der im DDR-Ostberlin studierte - auch er ist deutscher Staatsbürger -, ist heute Taxiunternehmer. Er sagt, er hatte vor Jahren häufiger Schwierigkeiten mit Fahrgästen als gegenwärtig. Ob es nun daran liegt, dass er heute vorsichtiger ist oder ob vielleicht doch die Gewaltbereitschaft zurückgegangen ist - wer weiß?

Ich glaube schon, dass man eine zunehmende Verwahrlosung in der Öffentlichkeit feststellen kann. Letztens kam ein junger Mann, wahrscheinlich betrunken, in die S-Bahn und kramte in seinen Taschen, um sich eine Kippe anzuzünden. Anstelle des Feuers fand er ein großes Messer, dass er zückte. Ich konnte förmlich spüren, wie die Fahrgäste erschraken und wie froh sie waren, als das Messer wieder verschwand.

Wenn ich mich in der Wilmersdorfer Straße, einer großen Einkaufsstraße, umschaue, dann fällt mir auf, wie viele Menschen mit Bierflaschen herumlungern, wie viele sich so geben, dass man ihnen abends nicht allein in der S-Bahn begegnen möchte. Wenn ich erst spät nach Hause komme - aber nicht nur dann - habe ich mein Pfefferspray dabei. Ob es mir im Ernstfall aus der Patsche helfen würde, da hab' ich meine Zweifel, aber es beruhigt wenigstens.

Irgendetwas hat sich verändert. Woran es liegt, darüber kann ich nur spekulieren. Daran, dass Arm und Reich in der Gesellschaft immer weiter auseinander driften, zweifelt ja wohl kaum noch jemand. Für mich entsteht zunehmend der Eindruck, als würde in vielen Familien die Vermittlung gewisser Werte, Sitten oder guten Benehmens vernachlässigt. Vielleicht orientieren sich Jugendliche mehr und mehr an den Vorbildern, die ihnen in den Medien präsentiert werden, die oft alles andere als vorbildlich erscheinen. Ob man das nun alles als eine Verrohung der Gesellschaft bezeichnen kann, bleibt unbeantwortet. Man kann nicht in die Zukunft schauen, wie sich die Gesellschaft weiterentwickelt. Es wird sicher noch ungemütlicher werden, davon bin ich überzeugt.

Aufgezeichnet von Helmut Kremers

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