Andersartig und fremd

Wie die Kirchen in den USA auf die Occupy-Bewegung reagieren
New York: „Protestpfarrer“ wollen die Demonstranten begleiten.
New York: „Protestpfarrer“ wollen die Demonstranten begleiten.
Nur wenige Geistliche und Kirchengemeinden engagieren sich im Protest gegen die Auswüchse des Kapitalismus. Warum das so ist, skizziert der deutsche US-Korrespondent Konrad Ege.

Die US-Kirchen haben Probleme mit der Occupy-Bewegung gegen die große Macht der Finanzmärkte. Und die christliche Rechte sowieso. Der konservative Familienforschungsrat rief gar zum Gebet auf: Möge Gott "den Zorn dieser traurigen Ansammlung zügeln". Aber auch die römisch-katholische Kirche, die klassischen protestantischen Kirchen des Mainstreams und afro-amerikanische Kirchen bleiben auf Distanz. Obwohl sie häufig ihre Stimmen für soziale Gerechtigkeit erheben und bei Occupy viele Kirchenmitglieder mitmachen, nach deren Ansicht Jesus mitbesetzen würde.

Mitte September fingen die Aktivisten mit dem Besetzen (occupy) öffentlicher Plätze an. Sie demonstrierten, blockierten und diskutieren. Wenn auch in vielen Städten die Zeltlager - oft gewaltsam - von der Polizei geräumt worden sind, der Winter das Besetzen schwer macht und Ermüdungserscheinungen auftreten: Occupy hat schon jetzt mehr erreicht als Expertenstudien und mahnende Worte von Kirchen.

In der Öffentlichkeit, in den Medien und auch in der Politik spricht man heute erstmals über die gravierenden - und in Deutschland so nicht vorstellbaren - Einkommensunterschiede in den USA. Darüber, dass Armut und Reichtum so dicht bei- und nebeneinander sind. Und über die Klage der Besetzer, der Kapitalismus habe "die Demokratie gefressen". Das Schlagwort der Occupy-Bewegung von den "99 Prozent gegen die Elite des einen Prozents" ist sogar in die Alltagssprache übergegangen.

Goldenes Kalb

Einige Geistliche demonstrieren und besetzen gelegentlich mit, manche durch das "Kollar", den Priesterkragen, erkennbar. Anfang Oktober ging das Foto eines fast lebensgroßen goldenen Kalbs aus Papiermaché durch die Medien, das Aktivisten bei einer Kundgebung in New York mitschleppten. Es soll symbolisieren: Im Finanzzentrum verehren die Banker das Geld wie seinerzeit die Israeliten das Goldene Kalb.

In mehreren Occupy-Camps haben Besetzer Meditationzelte aufgestellt. Und bei Kundgebungen in New York und Boston sind "Protestpfarrer" (Protest Chaplains) aufgetreten, Geistliche und Studierende der Theologie, die beten, mitdemonstrieren oder einfach nur da sind.

Er lasse die Besetzer in seiner Kirche übernachten, erzählt Ted Curtis, Pfarrer der anglikanischen Gnadenkirche (Grace Episcopal Church) in Chicago. Es seien "sehr höfliche, intelligente, beeindruckende junge Menschen". Ja, Occupy vertrete doch "zutiefst christliche Werte", meint Curtis. Seines Wissens sei Grace Episcopal aber die einzige Kirche in Chicago, die Besetzer aufnehme.

Partner in Deutschland

Auch in Manhattan öffneten nur wenige Kirchen ihre Räume für die Occupy-Aktivisten, nachdem die Polizei Mitte November das Zeltlager im Zuccotti-Park niedergerissen hatte. Eine ist die Judson-Gedächtnis-Kirche. Sie gehört zur liberalen Vereinigten Kirche Christi, die mit den unierten Landeskirchen Deutschlands eine Partnerschaft pflegt. Pfarrer Michael Ellick hofft, dass noch mehr Gemeinden dem Beispiel der Judson-Gemeinde folgen. "Kirchen betreiben oft eine ziemlich gute karitative Arbeit", sagte Ellick der Nachrichtenagentur Religious News Service. Nun sei man aber an einem Zeitpunkt angelangt, "wo karitative Arbeit zur Arbeit für Gerechtigkeit wird".

Jim Winkler leitet bei den Vereinigten Methodisten, der zweitgrößten evangelischen Kirche der USA, das "Büro für Kirche und Gesellschaft". Innerkirchlich ist Winkler die Stimme für soziales und politisches Engagement. Er ist überzeugt, dass Kirchengründer John Wesley (1703-1791) die Ziele der Occupy-Bewegung unterstützt und "gegen Habsucht und die Vernachlässigung der Armen protestiert" hätte. Aber Winkler versteht, warum viele Kirchen und Occupy nicht zueinander gefunden haben. Occupy empfinde der typische Kirchgänger wohl als zu konfrontativ. Wenn US-Kirchen für die Einkommensschwachen eintreten, was sie in den vergangenen Jahren ständig getan haben, wenden sich ihre Mitglieder an ihre Abgeordneten. Und auch durch Bevollmächtigte wie Jim Winkler betreiben die Kirchen Lobbyarbeit, dabei aber immer bemüht, überparteilich aufzutreten.

Abgesehen davon steht in den Ortsgemeinden die karitative Arbeit im Mittelpunkt, erzählt Winkler. Man verteile Lebensmittel, aber frage nicht, "warum die Menschen arm sind" und woher die Reichen ihr Geld hätten. Vor allem letztere Frage gelte als unhöflich. Außerdem habe zum Beispiel die Methodistenkirche Mitglieder unterschiedlichster politischer Überzeugungen. Ihr wohl bekanntestes ist Altpräsident George W. Bush.

Selber nicht ganz "sauber"

Aber die Kirche sei finanziell gesehen oft selber nicht ganz "sauber", meint der Chicagoer Pfarrer Curtis selbstkritisch. Seine anglikanische Gnadenkirche, 1851 gegründet, finanziere sich auch durch Zinsen der Guthaben, die in der Frühzeit der Kirche angehäuft wurden und möglicherweise durch den Sklavenhandel erwirtschaftet worden seien.

Im Lauf der Geschichte haben Kirchen in den sozialen Bewegungen Amerikas eine wichtige Rolle gespielt. So hätte es die Bürgerrechtsbewegung der Fünfziger- und Sechzigerjahre ohne Unterstützung einzelner Geistlicher nicht gegeben. Aus der Anti-Vietnam-Kriegsbewegung und der Friedensbewegung der Achtzigerjahre sind sie ebenfalls nicht wegzudenken. Auch wenn es nur eine Minderheit der Pfarrer war, Pfarrerinnen gab es damals so gut wie nicht, das Amt und das Charisma der Männer in Kollar und Talar verlieh den Bewegungen Energie und eine gewisse Respektabilität.

Occupy entsprang freilich einem gesellschaftlichen Spektrum, in dem die Kirchen nicht sonderlich präsent sind. Der Protest begann mit jungen, säkularen und autoritätsskeptischen Menschen, die von Präsident Barack Obama enttäuscht sind. Viele von ihnen, Collegestudierende aus Städten und gut vernetzt, sind Utopisten, die glauben wollen, ohne genau zu wissen, wie eine andere, bessere Welt möglich ist und möglich werden kann. "Das ist der Anfang des Anfangs", stand auf dem Pappschild einer Besetzerin in San Francisco.

Bunte Mischung

Glauben suchen und praktizieren junge Amerikanerinnen und Amerikaner zunehmend außerhalb des Christentums und der Kirchen. Das renommierte Pew Research Center ermittelte: 25 Prozent der 18- bis 29-Jährigen fühlt sich "keiner Religionsgruppe" zugehörig. In der Gesamtbevölkerung sind es 16 Prozent.

Der Aufruf zum "Besetzen der Wall Street" kam im Juli vom antikonsumistischen Magazin adbusters.org."Besetzt Wall Street, 17. September. Bringt Zelte", hieß es ganz einfach. Der Aufruf mit dem Bild einer Ballerina, die auf einem der Wall-Street-Bullen tanzt, wurde über soziale Medien, Twitter und reddit, und die neue Website OccupyWallSt.org. verbreitet. Die Aktivisten in New York, viele eher anarchistisch und basisdemokratisch orientiert, entschieden sich erst am 17. September für den Zuccotti-Platz, eine 3000 Quadratmeter große Steinfläche mit ein paar Bäumen und Blumenbeeten, unweit von Ground Zero und der Wall Street. Dort ließen sie sich nieder und verwiesen auf die Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo.

Auf dem Zuccotti-Platz begegnete man einer bunten Mischung von Menschen aller Altersgruppen, Gewerkschaftern, Studenten, Arbeitern und Angestellten, Alt-Achtundsechzigern, Veteranen der Kriege im Irak und in Afghanistan, Arbeits- und Obdachlosen. Viele Besetzer kamen, weil sie ganz persönlich unter dem "einen Prozent" leiden. Ihr Protest ist ein moralischer Aufschrei: Die ganz oben würden sich auf Kosten der großen Mehrheit bereichern, und das sei einfach nicht richtig.

Clevere Gewerkschaften

Etablierte Gruppen, auch die Kirchen, taten sich schwer mit einer Bewegung, die sich anders organisiert als Bewegungen in der Vergangenheit. Anführer sind schwer auszumachen, Arbeitsgruppen sind am Werk, die sozialen Medien verbinden das Projekt, man will total basisdemokratisch sein, auch wenn das die Entschlussfähigkeit schwächt - und offen für alle, die mitmachen wollen. Die Gewerkschaften haben das Potenzial der Bewegung schnell verstanden: Da hat sich eine neue Energie zusammengetan. Sie leisten praktische Hilfe, demonstrieren mit und verteidigen die Besetzer gegen den von Konservativen oft erhobenen Vorwurf, es handle sich um arbeitsscheue Hippies. So gewannen die Gewerkschaften Ansehen unter den Besetzern, auch weil sie keine Führungsrolle beanspruchten.

Die fehlende kirchliche Unterstützung von Occupy zeigt auch, dass es in den USA nicht besonders gut bestellt ist um die Organisationsfähigkeit der liberalen Christen. Aber selbst den afroamerikanischen Kirchen fällt zu Occupy wenig ein. Das mag auch mit einer Einschätzung zu tun haben, dass Occupy zu weiß und counterculture sei oder dass man meint, die Bewegung werde bald im Sand verlaufen. Es kommt aber auch von der Schwäche der traditionellen schwarzen Bürgerrechtsgruppen, die mit den afroamerikanischen Kirchen eng verbunden sind: Sie nehmen offenbar Rücksicht auf Geldgeber. Das im September in Washington eingeweihte Martin-Luther-King-Denkmal wurde hauptsächlich von Großkonzernen wie Goldman Sachs, Bank of America, ExxonMobil, BP, General Motors und Coca Cola finanziert.

Nationale Konferenz geplant

Noch ist unklar, wie und wohin sich die Occupy-Bewegung entwickeln wird. Das dürfte sich wohl von Stadt zu Stadt unterscheiden. Manche dürften sich im diesjährigen Präsidentschaftswahlkampf für Obama engagieren. Manche werden in ihren Camps bleiben. Manche werden Koordinationsbüros eröffnen, wie die Besetzer in Manhattan. Manche werden frustriert nach Hause gehen. Und manche werden andere Objekte besetzen, leerstehende Fabriken und von Zwangsräumung bedrohte Wohnhäuser. Für den Sommer ist eine nationale Konferenz im Gespräch, zeitgleich mit den Parteitagen, auf denen Demokraten und Republikaner ihre Präsidentschaftskandidaten bestimmen.

Trotz der Skeptiker, die behaupten, "die Ungewaschenen" würden bald das Interesse verlieren: Wenn sich die Zustände nicht ändern, die Occupy hervorgebracht haben, wird sich die Bewegung nicht in Luft auflösen. Noch könnten die Kirchen sich, wenn sie denn wollen, engagieren und mitgestalten.

Konrad Ege

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