Soviel Ende war nie. Die Abdankung des Kaisers, die Abschaffung des landesherrlichen Kirchenregiments, der Kontrollverlust über Religionsunterricht und Schule - das alles manifestierte im Bewusstsein weiter kirchlicher Kreise die Folgen der Kriegsniederlage 1918 und des Zusammenbruchs der Ordnung. Misstrauen gegen Demokratie, Republik und die Weimarer Verfassung wurden auch dadurch geschürt, dass diese auf eine religiöse Legitimation staatlicher Gewalt verzichtete und das Bündnis von Thron und Altar, von politscher Herrschaft und Gottesglaube aufkündigte. Im langen neunzehnten Jahrhundert hatte es an untergründigen Verschiebungen im Ordnungsgefüge gewiss nicht gefehlt, aber erst mit dem Kriegsende und dem Übergang in die Republik erreichte der Säkularisierungsschock die Kirchen mit ganzer Wucht. Das Grundgefühl eines verlässlichen inneren Zusammenhangs von Recht und Religion konnte sich nicht mehr auf den wenigen unversehrt gebliebenen Stützen der alten Ordnung aufbauen. Seitdem kennt man nur noch Restbestände des Sakralen im säkularen Recht.
Gefühlslagen können auch dann nachhaltig sein, wenn sie mehr über die Subjekte, die sie teilen, als über die faktische Lage verraten. Ob das gerade in Erinnerung gerufene Bild alternativlos zutrifft, wurde gar nicht erst gefragt. Wer Prozesse der Säkularisierung ausschließlich als Verluste bucht und Veränderungen fürchtet, dessen Gesamtbilanz kündet vom Abbau der Reserven, vom Ausverkauf des Eingemachten. Blickt man von der Weimarer Verfassung auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das wir ohne neue Obrigkeitslust und Sentimentalitäten ‚unsere Verfassung’ nennen dürfen, so scheint die Liste religiöser Restposten relativ kurz. Die Präambel des Grundgesetzes erinnert an die „Verantwortung vor Gott“, die Grundrechtsartikel kennen nicht nur Religionen, sondern auch „die Freiheit des Glaubens“ - als hätten sie ursprünglich reformatorische Forderungen noch im Ohr. Das Grundgesetz hält am Religionsunterricht als ordentlichem Fach an öffentlichen Schulen fest und verlangt von den für die Aufsicht verantwortlichen staatlichen Stellen und den Lehrkräften einen Verzicht auf inhaltliche Eingriffe, wo immer die Grundsätze der Religionsgemeinschaften berührt sind. Die „religiöse Beteuerung: ‚So wahr mir Gott helfe’“ wird festgehalten, aber jedem, der einen Amtseid leistet, freigestellt. Sonntage und andere religiöse Feiertage bleiben gesetzlich geschützt, Militär-, Krankenhaus- oder Gefängnisseelsorge werden genauso zugelassen wie Gottesdienstfeiern an den einschlägigen Orten. Vor allem aber gilt die Feststellung der unantastbaren Würde des Menschen, verbunden mit dem Personbegriff des Grundgesetzes als eine Art Schwelle, auf der sich vorstaatlich Religiöses und rechtlich Positiviertes verschränken oder jedenfalls nicht so sauber trennen lassen, wie es die alte Losung ‚Religion ist Privatsache’ wollte. Es wundert daher die Selbstverständlichkeit nicht, mit der im Artikel 1 Grundgesetz eine „Sakralität der Person“ (Hans Joas) wiedererkannt wird, gleichsam als der ins säkulare Recht des religionsneutralen Staates hineinragende Felsen, auf dem auch die christlichen Kirchen gebaut sind.
Religiöse Anmutungsqualität
Anderes fällt weniger auf oder kaum ins Gewicht. Zum Beispiel die sogenannte „Ewigkeitsklausel“, die insbesondere die in den Artikeln 1 bis 20 niedergelegten Grundsätze vor Aufweichung oder Abschaffung auf dem Weg der Verfassungsänderung bewahrt und sie damit auf Dauer stellt. Hier dürfte sich die religiöse Anmutungsqualität freilich alleine der Bezeichnung verdanken (zumal diese Formel nicht aus der Verfassung, sondern aus ihrer juristischen Interpretation stammt). Beim Schutz der Ehe, beim Gewissensbegriff, beim Asyl, bei der Rede von ‚Unantastbarkeit’ oder vom ‚natürlichen Recht’ bedarf es eines Senkbleis der Erinnerungsarbeit, um in der Tiefe der Bedeutungsschichten den religiösen Kontext auszuloten. Denn man kann alle diese Begriffe sinnvoll gebrauchen (sie juristisch operationalisieren), ohne sich für ihre historischen Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition zu interessieren.
Weil das möglich ist, tobt um die sogenannten Restbestände der (christlichen) Religion im Recht ein nicht enden wollender Streit der Interpretationen und Säkularisierungstheorien. Wer die Sache ‚cool’ betrachten will, rechnet Anklänge an Vor- und Außerrechtliches zur Verfassungslyrik. Deren erhabener Ton mag zur Akzeptanz im Volke, im frommen zumal, beitragen, aber fürs Recht selbst, seine Institutionen und Verfahren sei er unerheblich. Mit den sakralen Resten im Recht verhalte es sich darum so ähnlich wie mit den Krokodilen, welche die Erinnerung an längst ausgestorbene Dinosaurier noch nicht gänzlich verblassen lassen, aber die zum Glück nur noch an eingehegten Orten vorkommen, während die Lebenswelten der Rechtsbefolgung und -anwendung vor gefährlichen Atavismen gesichert sind. Andere begreifen solche Erinnerungsposten im säkularen Recht als ebenso viele Hinweise auf das, was nicht vergessen werden darf, soll der Rechtsstaat seine eigenen Voraussetzungen nicht unterhöhlen. In diesem Streit sortieren sich die unterschiedlichen Lager übrigens nicht nach ihrer Nähe oder Ferne zur Kirche. Die Sache ist komplexer, und Christenmenschen finden sich sowohl hier wie dort.
Das liegt vor allem an dem Bild, das man sich von Bedeutungswandel, von Autonomie und öffentlicher Verantwortung politischer Freiheit macht. Verfallstheoretiker sehen überall Reste schwinden, Ressourcen versanden oder das Sinnreservoir versickern. Für sie kommt es darauf an, weitere Sinn-Entleerung aufzuhalten und also auch einer in den Kirchen um sich greifenden Selbstsäkularisierung entgegenzutreten. Weil der Rechtsstaat von Quellen lebt, die er nicht selbst sichern oder gar erneuern kann (Ernst-Wolfgang Böckenförde), muss er schonend mit dem umgehen, was er der jüdisch-christlichen Religion verdankt. Seine weltanschauliche Neutralität präsentiere sich zwar effektvoll als Gleichbehandlung und Antidiskriminierung, sie neige aber in Wahrheit zur Neutralisierung der eigenen Wurzeln, was den Technokraten der Rechtsverwaltung und der Vergesslichkeit der Oberflächlichen in die Hände spiele. Das Verstummen der religiösen Quellen befördere die wechselseitige Entkopplung von Recht und Moral, von Rechtsnorm und ethischen Prinzipien. Vor allem aber würden der Grund des Rechts und die Autorität des Gesetzgebers nicht länger im Recht repräsentiert, wenn Religion nur noch als ein Regelungsbereich unter anderen, nicht länger als Platzhalter ursprünglich-bindender Kraft erscheint.
Ohne Horizonte der Gerechtigkeit (in konkreter Christlichkeit gesprochen: ohne Erinnerung an den in Gesetz und Evangelium redenden Gott) bleibe das Recht ein nach Belieben manipulierbares Instrument gesellschaftlichen Interessenausgleichs. Die sakralen Reste im Recht seien insofern Zeichen und Symbole für alles das, was das bloße Funktionieren der juristischen Maschinerie überschreitet. Nur wer noch nach Gerechtigkeit hungert und dürstet, lässt seine Hoffnung nicht durch Reformen und Novellen abspeisen. Solange die Töchter und Söhne der Moderne sich das wahren, was Habermas den „Sinn für das, was fehlt“ nannte, werden sie die ‚Religion im Recht’ nicht als altväterliches Rest- oder antiquarisch zu behandelndes Schrumpfphänomen abtun.
Aber man kann die Erfahrung mit dem säkularen Recht und der Geschichte der Weimarer Verfassung auch anders summieren und deuten. Die ihr verweigerte Akzeptanz kann als Ausdruck überzogener Erwartungen an Recht und Politik gelesen werden, gegenüber denen Ernüchterung und Enttäuschungsresistenz nötig gewesen wäre. Nicht religiöse Grundierung, sondern mehr Entzauberung sei angesagt. Staat, Gesellschaft und positives Recht „leben ja von der durch Feldpredigerelan und feierlichen Humbug aller Art immer wieder zu nährenden Gläubigkeit der Menschen“, behauptete Karl Barth in seiner zeitgenössischen Römerbriefauslegung und forderte: „Nehmt ihnen das Pathos, so hungert Ihr sie am gewissesten aus!“ Aus diesem Blickwinkel ist die rechtlich-politische Ordnung nie säkular genug, überernährt durch Zugriff auf fremde Fleischtöpfe, ausstaffiert mit religiösen Polstern, in denen die rechtstaatliche Ordnung den Glanz quasi-göttlicher Macht zelebriert.
Und in der Tat: Es waren Souveränitätsansprüche jenseits und oberhalb der parlamentarischen Verfahren, Konkurrenzen zwischen demokratischer und präsidialer Repräsentation, die zur Aushöhlung der Weimarer Verfassung führten. Im Zeichen des Höheren oder Höchsten, des Unbedingten und Letztgültigen wurde solange ‚Wider die Ächtung der Autorität’ (Friedrich Gogarten) polemisiert, bis die religiösen Stimmen den Führer herbeigeredet hatten, der das Recht nicht nur schaffen sollte, sondern auch abschaffen oder zumindest sistieren konnte. Sind die Reste der Religion im Recht mithin nicht auch Brutstätten eines Irrationalismus, der durch gesteigerte Selbstbeschreibung und durch ‚feierlichen Humbug’ die pragmatisch gemäßigte, erfahrungsgesättigte Rationalität des Rechts an den Tropf einer Übervernunft hängt, die keinen Frieden bringt? ‚Bloß keine rückwärtsgewandte Romantik im Politischen, sondern von der richtigen Säkularisierung mehr!’ lautet dann der Rat an die Kirchen.
Worauf also verweist die Präsenz der Religion im Recht? Leugnen lässt sie sich gewiss nicht. Aber wozu fordert sie heraus? Zu einem Werte-Recycling, um verlorenen Boden wieder gut zu machen, oder zu konsequenterer „Ent-Sorgung“ angesichts der Angst, der Vorrat an Gemeinsamkeiten sei aufgebraucht?
Prekäre Balancen wahrnehmen
Man wäre schlecht beraten, wollte man solche Alternativen nach Maßgabe parteipolitischer Optionen oder entlang von Konfessions- und Weltanschauungsgrenzen entscheiden. Naheliegender ist es, sie als Ambivalenzen im Umgang mit dem Recht ernst- und also die prekären Balancen wahrzunehmen, die zur demokratischen Rechtsordnung gehören. Sie darf man weder religiös übersteuern noch antiklerikal unterbieten. Das moderne Recht ist nicht einfach auf dem Boden gelebter christlicher Sittlichkeit naturwüchsig entstanden und darum auch nicht daran zu messen, wieviel es an Traditionen, an biblischen Glaubensvorstellungen oder an christlicher Substanz noch enthält. Es beruht auf Entscheidungen, die Freiheit sichern wollen und darum auch Korrekturen bereithalten, wo diese nicht hinreichend zum Zuge kommt. Mut zur Gestaltung, Aufmerksamkeit für die Plastizität der rechtlichen Ordnung und Nüchternheit in der Wahrnehmung der Probleme sind die Tugenden, die Christenmenschen ihm schulden. Auch Offenheit für andere Begründungen der Menschenwürde (Wolfgang Huber, Wolfgang Vögele), die noch nie das Monopol der Kirchen war, tut not. Denn ihre rechtliche Funktion wird geschwächt, wenn man sie ausschließlich als moralisch-religiösen Höchstwert betrachtet. Inflationierung bedroht nicht nur das Geld, sondern auch die Werte, die wir teilen.
Hundert Jahre nach der Weimarer Verfassung sollte die Beobachtung des Rechts daher von einer rückwärtsgewandten Debatte um De- und Resakralisierungen entlastet werden. Der christliche Sinn für das weltliche Recht bedarf keiner Rosinenpickerei eines religiösen Bewusstseins, das sich mit dem Recht soweit identifiziert, wie es religiöse Gehalte in ihm findet. Stattdessen ist nötig: Gläubiger Realismus im Umgang mit dem Recht, Sinn für Rechtsverfahren (nicht als Sonderkompetenz von Kirchenjuristen, sondern als pastoraler Gemeingeist) und schließlich eine Kultur von Engagement und Geduld. Begegnet die Christenheit dem Recht in diesem Sinne, dann sucht sie das Beste der Polis und nicht nur Reste des Corpus Christianum.
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Michael Moxter