Widerspruch wird zur Pflicht

Seit Monaten hat sich die Flüchtlingspolitik in der EU radikal verschärft - wo bleibt der Protest?
Seenotrettung im Januar 2018 vor der libyschen Küste. Foto: dpa/ Laurin Schmid
Seenotrettung im Januar 2018 vor der libyschen Küste. Foto: dpa/ Laurin Schmid
Die großen christlichen Kirchen sind innerhalb der Zivilgesellschaft die lauteste Stimme für eine humanitäre Flüchtlingspolitik. Aber faktisch wurde das Recht, in Europa um Asyl zu bitten, beendet, analysiert der bündnisgrüne EU-Parlamentarier Sven Giegold, der zugleich Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags ist.

Über 100.000 Bürgerinnen und Bürger haben im Internet mitten in der Sommerpause eine Online-Petition unterschrieben, die eine christliche, menschenrechtliche und solidarische Flüchtlingspolitik in Europa fordert. Unter der Überschrift „Erst stirbt das Recht, dann der Mensch!“ verlangt der Aufruf von den Regierungen der EU-Staaten wie von den Kirchenleitungen eine humanitäre Flüchtlingspolitik. Damit ist der Text schon jetzt eine der größten Petitionen in sozialen Medien, die sich an die Kirchen direkt wendet und noch dazu ausdrücklich von Christinnen und Christen stammt.

Doch wozu fordern drei Mitglieder des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentags die Kirchenleitungen zu stärkeren, kräftigeren und mutigeren Worten auf? Sind es nicht EKD und Deutsche Bischofskonferenz samt ihren Spitzenvertretern, die seit Jahren klare Worte für Geflüchtete finden? Sind es nicht die Gemeinden, die sich unermüdlich für Flüchtlinge einsetzen? Sicher sind die großen christlichen Kirchen innerhalb der Zivilgesellschaft die lauteste Stimme für eine humanitäre Flüchtlingspolitik. Trotzdem hat sich die öffentliche Diskussion über Flüchtlinge, Migration und Grenzen in den letzten Monaten dramatisch verschärft. Dabei geht es nicht nur um den Ton der Debatte, sondern genauso um die Substanz der Politik. Der enthumanisierte Ton der Rede vom Asyltourismus oder von Seehofers 69 Abschiebungen zum 69. Geburtstag wurde vielfach kritisiert. Doch viel weitreichender sind die Veränderungen in der Substanz der Flüchtlingspolitik. Unter dem brachialen politischen Druck der CSU innerhalb der Großen Koalition in Berlin setzte die Bundesregierung einen Beschluss des Gipfels der EU-Staats- und Regierungschefs am 28. Juni 2018 durch, der faktisch das Recht, in Europa um Asyl nachzusuchen, beenden würde.

Vom Grundgesetz abgewendet

Dabei ist das Verbot der pauschalen Zurückweisung von Flüchtlingen eine der Grundlagen des internationalen und europäischen Flüchtlingsrechts. Die systematische Schließung aller Flüchtlingsrouten durch eine europäisch koordinierte Politik von Grenzschließungskooperationen mit den Anrainerstaaten ist faktisch nichts anderes als eine pauschale Zurückweisung. Wer nicht mehr um Schutz nachsuchen kann, muss auch nicht mehr zurückgewiesen werden. Wer nicht anklopfen kann, dem muss man auch nicht die Türe vor der Nase zuschlagen.

Damit hat sich Europa von der Substanz der UN-Konventionen wie der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der EU-Grundrechtecharta, dem Europäischen Asylrecht und dem Grundgesetz abgewendet. Denn selbst politisches Asyl kann nur genießen, wer es beantragen kann. Was hier vorbereitet wird, ist nichts anderes als ein massiver Rückschritt für Grund- und Menschenrechte. Etwa zur gleichen Zeit erstellte der CSU-Parteivorsitzende Horst Seehofer, zugleich amtierender Bundesinnenminister, seinen „Masterplan Migration“. Viele Abschnitte des sogenannten Masterplans hätten sich noch vor nicht allzu langer Zeit wohl nur in rechtsextremen Verlautbarungen gefunden. Dabei geht es nicht nur um den Mangel an Empathie mit den in Not Geratenen. Es geht auch nicht nur um den Mangel an Humanität. Vielmehr haben die EU-Regierungschefs und die flüchtlingspolitischen Vorschläge Seehofers einen weiteren Schritt der Verschärfung unternommen: Den Bruch der Substanz des Völkerrechts und des Europarechts. Denn zahlreiche Vorschläge des Masterplans widersprechen nicht nur dem Geist, sondern auch dem Buchstaben europäischen Rechts. Daher ist die Zuspitzung in der Petition vollauf berechtigt: „Erst stirbt das Recht, dann der Mensch!“

Hier kommen die Kirchen ins Spiel: Die Serie von geforderten Rechtsverstößen durch die EU-Staaten und den CSU -Parteivorsitzenden hätte zu einem Aufschrei unserer Kirchen führen müssen! Doch dieser Aufschrei blieb aus. Die Presseerklärung der EKD zum Gipfelergebnis war voller Einerseits und Andererseits. Die Deutsche Bischofskonferenz sagte wenig zum EU-Gipfel-Beschluss. Eine lebendige, kräftige und scharfe Aussage sieht wahrlich anders aus. Gleichzeitig blieben die beiden Spitzen von EKD und Bischofskonferenz öffentlich erstaunlich schweigsam in all den Wochen der flüchtlingspolitischen Eskalation der Spitzen der CSU, obwohl sie doch beide in Bayern kirchenleitend sind. Lediglich der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, fand klare Worte zu den Ergebnissen des EU-Gipfels.

Das ermutigte Beatrice von Weizsäcker, Ansgar Gilster und mich, als Mitglieder des Präsidiums dem Vorstand des Deutschen Evangelischen Kirchentags eine ebenso klare Kommentierung vorzuschlagen. Nachdem dies - zumindest kurzfristig - keine Unterstützung fand, entschlossen wir uns, öffentlich für unser Anliegen zu mobilisieren. Mit der großen Unterstützung von Christinnen und Christen, die wir nun erhalten haben, hatten wir allerdings nicht gerechnet!

Ein absolutes Zukunftsthema

Seitdem ist viel passiert - ob nun durch die Petition oder unabhängig davon: Die EKD und der rheinische Präses Manfred Rekowski engagieren sich für die zivile Seenotrettung und finden klare Worte für die humanitäre Katastrophe auf dem Mittelmeer. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Marx gab in Die Zeit ein scharfes Interview gegen die Verrohung in der Flüchtlingspolitik und kritisierte darin auch die CSU. Wir wollen unsere Petition auch „ganz klassisch“ dem Rat der EKD und den Kirchleitungen der Landeskirchen sowie den Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz übergeben. Wir wollen ins Gespräch kommen, die Kritik auch gerne konkretisieren.

Denn klar ist: Flucht, Migration und Integration sind ein absolutes Zukunftsthema. Mit ein paar Projektförderungen ist es da nicht getan. Es ist auch nicht innerhalb weniger Jahre zu bearbeiten, sondern muss langfristig aufgestellt werden. Entsprechend brauchen vorbildliche Einrichtungen wie der „Fluchtpunkt Hamburg“, die „Flüchtlingskirche“ in Berlin, die „BAG Asyl in der Kirche“ oder das vorzügliche Exiljournalistenprojekt „Amal Berlin“ eine Unterstützung, die angemessen ist und auf die sich die Mitarbeitenden verlassen können.

Nötig ist aber auch: Die Kirchen sollten sich klarer, mutiger und unmissverständlich - ohne auf die Politik Rücksicht zu nehmen - zur Verrohung und Mangel an Humanität in der europäischen Flüchtlingspolitik äußern. Verletzungen des Völkerrechts wie des EU-Rechts müssen zu scharfem Widerspruch führen. In Brüssel, Berlin und den Landeshauptstädten braucht es den Mut und die Ressourcen für ein deutliches Engagement der Kirchen. Denn schriftliche Verlautbarungen kommen nur bei den Verantwortlichen an, wenn sie auch in persönlichen Gesprächen vertreten werden.

Inzwischen haben sich die ersten leitenden Geistlichen unserem Aufruf angeschlossen: Präses Manfred Rekowski, Ilse Junkermann, Bischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, und Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, sind bereits dabei. Das ist umso erstaunlicher, als sie ja zu unseren Adressaten gehören. Es zeigt, dass sie sich angesprochen fühlen, sich in der Pflicht sehen. Das freut uns, wir sagen aber auch: Die Liste darf gerne noch länger werden.

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Online-Petition

Flüchtlingspolitik in Europa: Erst stirbt das Recht, dann der Mensch!

Für eine christliche, menschenrechtliche und solidarische Flüchtlingspolitik in Europa!

Als Christinnen und Christen, als Bürgerinnen und Bürger, fordern wir die Regierungen in der EU auf, den Flüchtlingsschutz nicht weiter zu gefährden. Von unseren Kirchen in Europa erwarten wir die Verteidigung der Menschenwürde ohne politische Rücksichtnahme.

Kriege, Unterdrückung und Ungerechtigkeit sind zentrale Gründe dafür, dass Menschen ihr Zuhause verlassen. Für Staaten und Gesellschaften ist diese Not eine Herausforderung. Viele Menschen in Europa sehen das Problem jedoch in den Flüchtlingen und Migranten und fordern Abschottung. Die Politik folgt dieser Logik immer mehr. Es ist höchste Zeit, dies zu ändern und die Folgen dieser Entwicklung klar zu benennen.

Die Regierungen in Europa dürfen sich nicht aus der Verantwortung stehlen, indem sie Grenzen schließen und Menschen in Not abwehren. Die Europäische Union braucht Humanität und Ordnung in der Flüchtlingspolitik, nicht Härte und Auslagerung. Es ist richtig, über gemeinsame Grenzkontrollen festzustellen, wer nach Europa einreist, und für eine faire Verteilung der Flüchtlinge zu sorgen. Aber es ist völkerrechtswidrig, Menschen in Seenot nicht zu retten. Es ist unverantwortlich, Menschen monatelang in Lagern festzuhalten, andere Staaten für die Abwehr von Flüchtlingen zu bezahlen und gefährliche Herkunftsstaaten für sicher zu erklären. Diese Abschottung schreitet seit Jahren voran und höhlt das internationale und europäische Flüchtlingsrecht aus. Dabei wissen wir aus der Geschichte: Erst stirbt das Recht, dann stirbt der Mensch.

Diese Flüchtlingspolitik hat keine gute Zukunft. Diese Politik bedroht nicht nur die Flüchtlinge, sie setzt auch unsere eigene Humanität und Würde aufs Spiel. Die Kampagnen gegen jene, die sich für Flüchtlinge einsetzen - insbesondere die zivile Seenotrettung -, zeigen: Moral wird verunglimpft und Menschlichkeit kriminalisiert.

Wir lassen uns durch diese Politik nicht zum Schweigen bringen. Wir werden weiter für Mitmenschlichkeit einstehen und Zeugnis in unserer Zeit ablegen. Unsere Kirchen und Häuser müssen Zufluchtsorte für alle Menschen bleiben, die Hilfe, Schutz und Hoffnung suchen. Nicht nur, weil wir als Christinnen und Christen eine Gemeinschaft aus verschiedenen Ländern sind. Sondern auch, weil unser Glaube uns dazu herausfordert: In Jesus Christus erkennen wir den Notleidenden, den Flüchtling, den Mitmenschen.

Wir fordern von den Regierungen in der Europäischen Union: Finden Sie Lösungen und eine Sprache, die von Humanität geleitet sind. Bekämpfen Sie Fluchtursachen, nicht die Flüchtlinge. Wahren Sie internationales Recht, statt es durch Abschottung auszuhöhlen. Entscheiden Sie sich für eine Politik der Mitmenschlichkeit und Solidarität, damit Europa seine Würde behält.

Wir fordern von den Kirchenleitungen in Europa:

Setzen Sie sich für Flüchtlinge ein. Äußern Sie sich mutiger, klarer und unmissverständlich. Nehmen Sie keine Rücksicht auf die Politik, sondern nur und ausschließlich auf die Menschen in Not. Setzen Sie sich in dieser historischen Situation für Flüchtlingsschutz und Humanität ein: Weisen Sie alle politischen Vorschläge zurück, denen nicht Liebe und Mitmenschlichkeit zugrunde liegen. Besuchen Sie die schutzsuchenden Menschen in ihren Unterkünften. Sprechen Sie mit den Helferinnen und Helfern, die aus Verzweiflung resignieren. Stärken Sie die Einrichtungen, die sich für Flüchtlinge einsetzen.

„Gib Rat, sprich Recht, mach deinen Schatten am Mittag wie die Nacht; verbirg die Verjagten, und verrate die Flüchtigen nicht!“ (Jesaja 16,3)

Initiiert von den Mitgliedern des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentags Beatrice von Weizsäcker, Sven Giegold und Ansgar Gilster.

Weiter zur Petitionsplattform change.org

Sven Giegold

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Foto: Dominik Butzmann

Sven Giegold

Sven Giegold (geboren 1969), ist als studierter Wirtschaftswissenschaftler und Politiker von Bündnis 90/Die Grünen seit über zwanzig Jahren in sozialen und ökologischen Bewegungen aktiv. Seit 2009 ist er Europaabgeordneter und Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament. Giegold gehört dem Präsidium
des Deutschen Evangelischen Kirchentags an. Er ist Mitglied der EKD-Kammer für nachhaltige  Entwicklung und Vorstandsvorsitzender der European Christian Convention (ECC).


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