Als 1990 das profunde "Lehr- und Studienbuch" zur Friedensethik als Gemeinschaftswerk von Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter erschien, war die damalige weltpolitische Konstellation gerade in Auflösung begriffen. Eine - freilich etwas verkürzte - These dieses Buches lautete: Frieden muss durch Recht geschaffen und gesichert werden. In den folgenden zwei Dekaden ist Reuter beiden Elementen dieser These unter den sich ändernden politischen Konstellationen weiter auf der Spur geblieben und hat dabei diese Ausgangsposition durch gründliche Recherchen und Reflexionen erhärtet. Seine an verschiedenen Orten publizierten Aufsätze sind in diesem Band nicht chronologisch, sondern sachlich geordnet, so dass man beim Lesen von der Friedensethik über die kirchlichen Reaktionen und theologischen Reflexionen zu den Menschenrechten und der Rechtsethik bis zum Staatskirchenrecht geführt wird.
Die friedensethische und friedenspolitische Antwort auf die seit 1990 forciert einsetzende Globalisierung sind - wie Reuter ausführt - die universalen Menschenrechte einerseits und das internationale Recht andererseits. Für die Friedensethik lässt sich Reuter weiterhin von Kants zweihundert Jahre alten Einsichten leiten. Auch Luther hatte bereits gemeint, dass der Friede "das grosseste gut auff erden" sei und der Friede nicht um des Rechts willen, sondern das Recht "umbs frieden willen gemacht" sei. Nach der Verirrung des deutschen Protestantismus in den Bellizismus hat besonders Bonhoeffer die friedensethische Bedeutung der Ökumene wahrgenommen. Mit dem Völkerbund wird auch eine völkerrechtliche Internationalisierung der Politik eingeleitet. Doch die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich erst seit den Siebzigerjahren sowohl zu den Menschenrechten bekannt als auch die demokratische Staatsform ausdrücklich gewürdigt. Reuter unterzieht die Anerkennung der Abschreckungspolitik mit Nuklearwaffen als eine "heute noch mögliche christliche Handlungsweise" durch die EKD (1959) einer sorgfältigen Kritik und damit auch die Nato-Strategie (von 1992), die heute noch deren "kriegsverhütende Bedeutung" hervorhebt.
Das Gewaltverbot in der UNO-Charta ermöglicht eine völkerrechtliche Kontrolle der Konfliktregelung, obwohl Artikel 43 bis heute nicht ausgefüllt wurde. Deshalb war der Nato-Einsatz im Kosovo ohne Mandat des Sicherheitsrates, trotz der Behauptung einer "dynamischen Fortentwicklung des Völkerrechts", nicht rechtens. Er hat sich auch schon nach wenigen Wochen als "ungeeignetes Mittel" erwiesen, wie Reuter im Friedensgutachten 2000 geschrieben hat. Terroristische Gewalt biete erst recht "kein Einfallstor mehr für ein freies Kriegsführungsrecht im Sinne des ius ad bellum".
Die relativistische Kritik am Menschenrechtsuniversalismus - wie sie auf unterschiedliche Weise von Hans Magnus Enzensberger (1993) und Hannah Arendt (1949) geübt wurde - unterzieht Reuter einer einfühlsamen "Antikritik". Zur Verbindung des ethischen und des theologischen Verständnisses von "Versöhnung" vermag er ebenso Erhellendes beizutragen wie zur Ehrenrettung des Sühneopfergedankens in der Christologie angesichts gegenwärtiger Kritik in Theologie und Gesellschaft.
Als Mitglied der EKD-Kammer für öffentliche Verantwortung hat Reuter selbst dazu beigetragen, dass der deutsche Protestantismus seine friedensethische Lektion gelernt und mit der Denkschrift von 2007 zum Ausdruck gebracht hat. Der konziliare Prozess hat entscheidend dazu beigetragen, dass das Adjektiv "gerecht" nicht mehr mit "Krieg", sondern nur noch mit "Frieden" kombiniert wird. Viele zusätzliche Begründungen und Erläuterungen zu dieser Denkschrift finden sich in dem Band. Daneben sind profunde Übersichtsartikel zum Widerstandsrecht und zur Rechtsethik in der Neuzeit aus der Theologischen Realenzyklopädie wieder darin abgedruckt.
Reuter vermag einen Gedankengang so zu exemplifizieren, dass man wie von neuer Einsicht überrascht ist, selbst wenn man die Argumente und Sachverhalte schon zu kennen meinte. Wer sich von seiner Argumentation durch die Texte leiten lässt, wird zunehmend auch Freude an deren sprachlicher Gestalt finden und durch gelungene Formulierungen und stilistische Feinheiten für die gelegentliche Anstrengung des Denkens belohnt. Man wünschte diese Lektüre allen aktiven Politikern und Politikerinnen - aber auch Bischöfen und Pastorinnen, bevor sie sich in der Sache nach eigenem Gutdünken äußern.
Hans-Richard Reuter: Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2013, 316 Seiten, Euro 38, -.
Götz Planer-Friedrich