Lebendig als Du
Familie ist vielfältig. Und der kirchliche Segen gilt verheirateten, unverheirateten, geschiedenen und homosexuellen Paaren, Patchworkfamilien - allen Menschen, die in verbindlichen Beziehungen zusammenleben, füreinander und für andere Verantwortung übernehmen. Er ist nicht auf die klassische heterosexuelle Ehe beschränkt. Denn das würde dem evangelischen Menschenbild widersprechen, das Menschen nicht auf biologische Merkmale, ihre Herkunft und ihr Geschlecht reduziert.
Nach biblischem Zeugnis und reformatorischer Tradition sind Verlässlichkeit, Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit und Vertrauen die entscheidenden Kriterien.
Das sind die zentralen Aussagen der Orientierungshilfe "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken", die der Rat der EKD im Juni veröffentlichte. Ein normatives Verständnis der Ehe als "göttliche Stiftung" und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus einer vermeintlichen "Schöpfungsordnung" entsprächen weder der Breite des biblischen Zeugnisses noch der protestantischen Theologie. Das sind starke, mutige Worte.
Selten hat mich eine EKD-Veröffentlichung persönlich so berührt. Denn sie bedeutet einen grundlegenden Wandel in der Wahrnehmung und Würdigung gesellschaftlicher Entwicklungen und der Lebenswirklichkeit der meisten evangelischen Christinnen und Christen - auch meiner eigenen.
Vor wenigen Jahren sah der kirchliche Blick auf Familie noch grundsätzlich anders aus. 1996 hatte der Rat der EKD die Orientierungshilfe "Mit Spannungen leben" veröffentlicht, die eine differenzierte Diskussion zum Thema Kirche und Homosexualität anregen wollte.
Dort wurde davon ausgegangen, dass aus Sicht des christlichen Glaubens Ehe und Familie die sozialen Leitbilder für das Zusammenleben von Menschen darstellen.
Unter Familie wurde explizit "das Zusammenleben von Frau und Mann (mit Kindern)" verstanden: "Für Menschen, die eindeutig und unveränderbar homosexuell geprägt sind, sagt das zunächst, dass Ehe und Familie nicht die Leitbilder sind, an denen sie sich persönlich ausrichten können." (Kapitel 3)
Daraus wurde die Konsequenz gezogen, dass es nicht vertretbar sei, das Pfarramt generell für homosexuell lebende Menschen zu öffnen. Wenn sie dennoch aufgenommen würden, werde von ihnen erwartet, "dass sie ein Verständnis der biblischen Aussagen zur Homosexualität gewonnen haben und vertreten können, aus dem hervorgeht, wie sie ihre eigene homosexuelle Form des Zusammenlebens mit der normativen Autorität der Bibel in Einklang bringen, d.h. in welcher Form sie die Begrenztheit der homosexuellen Form des Zusammenlebens anerkennen können" (Kapitel 5).
Repressiv interpretiert
Als lesbisch lebende Vikarin bedeutete das für mich den Verlust meiner angestrebten Berufsperspektive und damit auch meiner kirchlichen Heimat. Denn ich wollte mich nicht einem entwürdigenden Prüfverfahren unterziehen. Und als Neutestamentlerin erschütterte mich, wie die befreiende Botschaft des Evangeliums auf repressive Weise interpretiert wurde.
Aber nicht nur für homosexuell lebende Menschen bedeutet dieses Leitbild der bürgerlichen Kleinfamilie, dass sie sich in ihrer persönlichen Geschichte nicht geachtet fühlen. Eine gute Freundin von mir ist Witwe mit einem erwachsenen Sohn. Auch sie leidet unter einem Familienbild, in dem sie nicht vorkommt und ihre Lebensform bemitleidenswert und einsam erscheint. Geschiedene, in nichtehelicher Gemeinschaft Lebende und Alleinerziehende waren lange mit dem Makel belastet, im kirchlichen Sinne keine vollständige Familie zu sein. Für ihre Schmerz- und Trauererfahrungen hatten sie oft keinen Ort. Als Kind einer Scheidungsfamilie kann ich mich gut daran erinnern, wie es sich anfühlte, Weihnachten zu feiern, während rundherum die Idylle der heilen bürgerlichen Kleinfamilie beschworen wurde.
Die aktuelle Orientierungshilfe der EKD macht deutlich: Vielfalt ist nicht nur für heutige, sondern auch für Lebensformen in biblischer Zeit grundlegend. Dass dies nicht differenziert genug ausgeführt wurde, kann an Details zu Recht kritisiert werden. Aber die Grundlinien der Argumentation werden durch einen Blick auf aktuelle Entwicklungen in der internationalen Bibelwissenschaft bestätigt. Deren Vorstellungen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend geändert. Es hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass biblische Texte aus ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext heraus zu verstehen sind. Die Welt der Bibel darf dabei nicht zu schmal gedacht werden, als eine religiöse Welt neben dem menschlichen Alltag. In der Antike bildeten Religion, Politik und Alltagshandeln eine Einheit. Dieses Verständnis setzen die Aussagen der Orientierungshilfe voraus, wenn sie auf die Zeitbedingtheit der Aussagen zur Homosexualität und zur Rolle von Frauen, Kindern und Sklavinnen und Sklaven im patriarchalen Haushalt verweisen, die als Eigentum des Hausvaters galten.
Wer sich auf biblische Bilder von Ehe und Familie als Norm für heutiges Zusammenleben beruft, muss sich klarmachen: Für Ehevorstellungen, die von einem Miteinander gleichberechtigter Partnerinnen und Partner ausgehen, gibt es in der Bibel keine Belege. Ehe und Familie sind vielmehr in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebunden, die in biblischen Texten als gegeben vorausgesetzt werden, nicht aber als gottgegeben. Deshalb findet sich vor allem in den Paulusbriefen eine sehr kritische Haltung zur Ehe (vgl. 1. Korinther 7). Ihr werden nichthierarchische Lebensformen im Kontext der Gemeinde, des Leibes Christi, gegenübergestellt (1. Korinther 12,12-27; Römer 12, 1-9; Galater 3,28).
Die zweite große Veränderung in der Bibelauslegung ergibt sich aus der Einsicht in die Kontextualität der Aussagen: Die Sprache der Bibel will nicht Normen für alle Zeiten setzen. In ihr sprechen vielmehr Menschen von ihrer Gotteserfahrung und ihrer Hoffnung, die sie mit anderen teilen wollen. Und wer die Bibel auslegt, stellt sich in diese Tradition.
Während die Orientierungshilfe von 1996 noch davon ausging, dass es in der Bibel zeitlose normative Aussagen zu Ehe und Familie gibt, wird dieser Anspruch von der aktuellen Orientierungshilfe aufgegeben. Deshalb wird ihr vorgeworfen, Beliebigkeit zu vertreten. Doch dieser Vorwurf greift zu kurz. Statt normativer schöpfungstheologischer Begründungen von Ehe und Familie nennt sie ethische Kriterien: Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, Verlässlichkeit, Verantwortung und Fürsorge. Damit stellt sie sich in die biblische Tradition der Nächstenliebe und der Parteinahme für die gesellschaftlich Schwächeren, die Kinder und Hilfebedürftigen.
Autorität in Gemeinschaft
Aber welchen Stellenwert können biblische Aussagen in der aktuellen Diskussion noch haben, wenn sie kontextuell und nicht länger zeitlos normativ verstanden werden? Diese Frage steht implizit hinter vielen Anfragen an die EKD-Orientierungshilfe. Können sie noch Leitlinien für heutiges Zusammenleben aufzeigen? Ja, aber nicht durch institutionelle Vorgaben. Die Autorität der Schrift ist in biblischer Tradition unlösbar mit der Gemeinschaft verbunden, die sie trägt. Sie ist Autorität in Gemeinschaft und basiert auf Beziehungen in Gegenseitigkeit, Gerechtigkeit und Liebe zum Leben. Die Autorität der Bibel gibt Menschen Macht, aber dies ist eine Macht, die untereinander geteilt wird (Hannah Arendt). Sie orientiert sich am Leben und den Bedürfnissen derjenigen am unteren Rand der Gesellschaft, innerhalb der Gemeinschaft und weltweit.
Dieses Modell von Schriftauslegung hat seine Quelle in der Schrift selbst. Die große Veränderung, in der sich zurzeit die Bibelwissenschaften befinden, basiert auf den Erkenntnissen des jüdisch-christlichen Dialogs. Danach gehören das Alte und Neue Testament historisch und theologisch in die Geschichte des Judentums. In der jüdischen Tradition wird Gott aber nicht an die Spitze einer gesellschaftlichen Pyramide gestellt. Er wird vielmehr lebendig als Du der Betenden, Hoffenden und Verzweifelten.
Das Wir der Gemeinde, des Leibes Christi, ist die Grundlage der Bibellektüre der Menschen im Neuen Testament: "Alles, was einst aufgeschrieben wurde, wurde verfasst, damit wir daraus lernen und durch die Widerstandskraft und den Trost der Schriften Hoffnung haben" (Römer 15,4). Auslegung ist immer Auslegung in Gemeinschaft.
Die gemeinschaftliche Auslegung stellte sich den lebenszerstörenden gesellschaftlichen Strukturen entgegen, denen die Menschen im Imperium Romanum ausgesetzt waren. Und Macht und Sexualität waren in diesem Kontext eng verbunden.
Das zeigen gerade Statuen und Münzen, die die unterworfenen Völker und deren Unterlegenheit durch weibliche Attribute und sexualisierte Darstellungen betonten. Sie brachten die römische Ideologie der Überlegenheit auch in die Provinzen und machten deutlich: Römischer Friede entsteht durch Eroberung und Unterwerfung. Und das Geschlecht war das Mittel, um die Machtbeziehungen und Hierarchien verständlich zu machen. Käufliche Sexualität war neben öffentlichen Spielen ein wesentlicher Bestandteil der Aufrechterhaltung der Herrschaft.
In Pompeji, einer Stadt mit etwa 10.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, gab es rund 41 Bordelle, neun Thermen, Bäder und Theater, in denen Prostitution ausgeübt wurde und unzählige Tavernen mit Hinterzimmern dafür.
Lange wurde angenommen, Pompeji sei eine Ausnahme gewesen. Aber neuere historische Untersuchungen zeigen: Die dortige Situation stellte in der Mitte des ersten Jahrhunderts den Normalfall dar, den Paulus in den Städten vorfand, in denen er lebte. Gewaltförmige Sexualität war allgegenwärtig.
Das Subjekt von Sexualität ist nach antiken Vorstellungen der aktive freie Mann, der ein passives Gegenüber penetriert: freie Frauen, freie junge Männer, Sklavinnen und Sklaven. Zu den messianischen Gemeinden gehörten viele versklavte Menschen und solche mit einem Sklavenhintergrund. Sowohl in den Haushalten als auch in den Bordellen waren sie sexuell der Verfügungsgewalt ihrer Herrinnen und Herren ausgesetzt. Langfristige, stabile Familienbeziehungen waren dagegen nicht selbstverständlich. Kinder oder Partnerinnen und Partner konnten jederzeit verkauft oder durch armutsbedingte Arbeitsmigration gezwungen werden, ihre Familien zu verlassen. Die römische Ehegesetzgebung galt ausschließlich für die kleine Oberschicht und war dazu gedacht, legitime Erben hervorzubringen. Das lag im Interesse des Staates.
Alle anderen Lebensformen blieben ohne rechtlichen Schutz. Dies ist der Hintergrund für die neutestamentlichen Aussagen zu Ehe, Scheidung und Familie. Sie beschreiben Visionen gelingenden Lebens, indem sie Verbindlichkeit und Gegenseitigkeit als zentrale Werte nennen, die auch Frauen, alten Menschen und Kindern ein würdiges (Über-)Leben ermöglichen.
Aus bibelwissenschaftlicher Sicht ist es eine besondere Stärke der EKD-Orientierungshilfe, dass sie einen offenen Dialog über Gegenwart und Zukunft der Familie anregen will, der auf einer differenzierten Analyse gelebter Beziehungen im Kontext gesellschaftlicher Machtstrukturen basiert und bei der Frage nach biblischen Leitlinien auf normative Vorgaben verzichtet. Die Bibel kommt an entscheidender Stelle ins Spiel, wenn wir aus ihr lernen und durch die Widerstandskraft und den Trost der Schriften Hoffnung gewinnen.
Claudia Janssen
Claudia Janssen
Dr. Claudia Janssen ist seit 2016 Professorin für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Zuvor hat die 55-Jährige unter anderem als Studienleiterin im Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie und als theologische Referentin der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland gearbeitet. Seit 2011 lehrte sie als apl. Professorin an der Universität Marburg.