Die Nacht war vorgedrungen
Berlin, Anfang Dezember 1942: Ihr Haus im Villenvorort Nikolassee haben sie noch einmal adventlich geschmückt. Doch ihre Nerven sind zermürbt von dem Druck, der seit zehn Jahren auf ihnen lastet. Jetzt geht es um Leben oder Tod: Dem 39-jährigen Jochen Klepper und seiner Ehefrau Hanni droht die Zwangsscheidung. Hanni, die getaufte Jüdin, und ihre Tochter Reni, die seit einem Jahr den gelben Stern tragen und in einer Fabrik Zwangsarbeit leisten müssen, sollen in den Osten deportiert werden. Die kleine Familie ist entschlossen, sich eher gemeinsam das Leben zu nehmen, als das zu erdulden. Doch noch gibt es einen letzten Funken Hoffnung: Das neutrale Schweden hat endlich eine Einreisegenehmigung für Reni erteilt. Nun kommt alles auf den Ausreisestempel an, den SS-Führer Adolf Eichmann in Aussicht gestellt hat.
Dass Jochen Klepper, der Sohn einer deutschnationalen Pastorenfamilie, einmal vor solch einem Konflikt stehen würde, war ihm nicht in die Wiege gelegt. 1903 im oberschlesischen Beuthen an der Oder geboren, wuchs er auf in einem für den damaligen Protestantismus typischen Milieu: gut lutherisch, stolz auf Preußen und seine Hohenzollern, mit dem Deutschtum "auf Gedeih und Verderb" verbunden. Diese Kindheitsprägungen bewahrte sich Klepper bis ans Lebensende. Doch durch die Heirat mit Hanni war er seit Beginn der Naziherrschaft gezwungen, sich mit dem Schicksal der Juden zu identifizieren. Bis zu ihrer Eheschließung 1929 war es allerdings ein weiter Weg gewesen. In den Jahren davor hatte der junge Klepper eine tiefe Persönlichkeitskrise durchlitten. Mit 23 Jahren war er dem Suizid schon einmal sehr nahe gewesen.
Geliebtes Sorgenkind
Breslau, 1926: Der Theologiestudent Jochen Klepper gilt unter seinen Kommilitonen als "allzu elegant": immer im Anzug, das Einstecktuch parfümiert, die Studentenbude sehr geschmackvoll eingerichtet - Porzellandöschen inklusive. Ein etwas manierierter, "ästhetischer Jüngling", der Gedichte schreibt und für Stummfilmstars schwärmt. Den Kunstsinn verdankt er der Mutter. Wegen seiner andauernden Kränklichkeit bleibt er ihr geliebtes Sorgenkind. Der Vater, ein jovialer, aber gestrenger Pfarrherr, der Marschmusik liebt, hat ihm herrnhutischen Pietismus und Respekt vor der Obrigkeit eingeimpft. Eine heikle Mischung. Hin und her gerissen zwischen Künstlerleben und bürgerlich geordneter Pfarrlaufbahn gerät der junge Klepper in schlimme neurotische Zustände.
Und noch etwas wühlt ihn auf: Als Schüler hatte er fern vom Elternhaus bei einem jungen Lehrer namens Fromm gewohnt, der ihn nicht nur ins Reich der klassischen Kultur einweihte, sondern wohl auch eine homoerotische Beziehung mit ihm begann. Kleppers Biografin Rita Thalmann deutet sexuelle Erfahrungen und daraus entstandene Schuldgefühle an. In seiner Jugendschrift "Der eigentliche Mensch" (1926) lässt Klepper selbst, kaum verhüllt, Neigungen zu Masochismus und Transvestismus durchklingen. Doch sich auszuleben - wie es in dieser Zeit etwa der Altersgenosse Klaus Mann tut - erlauben ihm weder sein Umfeld noch seine innere Disposition. Klepper sieht sich in dieser tiefen Krise vielmehr gezwungen, sich eine strenge, bürgerliche "Verfassung" zu geben - wie etwa Thomas Mann eine Generation vor ihm - um gesellschaftlich und psychisch nicht zu Grunde zu gehen.
Strikter Tagesablauf
Dabei hilft ihm der Gedankenaustausch mit dem Kommilitonen Harald Poelchau, der später Gefängnisseelsorger in Tegel und Mitglied der bürgerlichen Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis werden sollte. Klepper bricht daraufhin endgültig mit dem eifersüchtigen Fromm. Er verordnet sich einen strikt geregelten Tagesablauf. Die unvollendete Abschlussarbeit über den Pietismus gibt er auf und verlässt die theologische Fakultät. Denn er hat sich gegen den Pfarrberuf und für eine journalistisch-literarische Laufbahn entschieden. Seine erste Stelle findet er 1927 beim Evangelischen Presseverband in Breslau. Vom bunten Großstadtleben schirmt er sich jedoch, so gut es geht, ab, um kreativ tätig zu sein und sein inneres Leben zu pflegen. Trost gewinnt er aus der Bibel und aus Luthers Schriften.
Schlussstein von Kleppers Selbst-konsolidierung wird die Verbindung mit der mütterlichen Freundin Hanni Stein, dreizehn Jahre älter als er, die zwei Töchter mitbringt. Aus einer jüdischen Modedynastie stammend und Witwe eines Anwalts, umgibt sie ihn mit finanzieller Sicherheit und einem geschmackvollen Ambiente, wie er es aus seiner Kindheit kennt. Hanni ermutigt ihn, sich hauptsächlich künstlerischen Themen zu widmen. Es wird eine glückliche Ehe - auch wenn der junge Klepper bedauert, keine eigenen Kinder zu haben. Schlaflosigkeit und Nervenleiden werden ihn bis an sein Lebensende quälen. In Berlin baut er sich mit Hanni und den beiden Mädchen eine neue Heimat auf - in ausreichender Distanz zu den Eltern in Schlesien. Denn diese missbilligen seine Ehe mit einer Jüdin.
Nach einigen Jahren der Ruhe und der journalistischen Produktion verdüstert sich sein Leben wieder: Die 1933 beginnende Hitlerdiktatur beschert ihm die Entlassung aus dem Rundfunk. Es beginnen jahrelange Verhandlungen mit der kafkaesken Bürokratie des NS-Staates, um wenigstens ein geringes Einkommen zu erhalten und publizieren zu dürfen. Die zunehmenden Schikanen gegen "jüdisch versippte" Familien gehen auch an den Kleppers nicht vorbei. Jochen hält sie jedoch für eine gottgewollte Prüfung der Juden. Er ist fest überzeugt, dass sie sich zu Christus bekehren müssen, sollen sie gerettet werden. Umso glücklicher ist er, als Hanni sich im Dezember 1938 taufen lässt - aus freien Stücken und wohl wissend, dass ihr dieser Schritt angesichts der antisemitischen Politik der Nazis nichts nützen wird.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich zumindest Kleppers finanzielle Lage gebessert. Denn mit seinem 1937 erschienenen Roman "Der Vater" über den preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. erringt er einen nachhaltigen Erfolg. Am Beispiel des gestrengen Landesvaters, der in der Verantwortung vor Gott sein Land saniert, will Klepper dem gottlosen "Dritten Reich" diskret den Spiegel vorhalten. Zugleich verarbeitet er im Konflikt des Königs mit seinem flamboyanten Sohn, dem späteren Friedrich dem Großen, den eigenen Vaterkonflikt. Doch die wenigsten registrieren die Botschaft zwischen den Zeilen. Der Roman wird Pflichtlektüre für die Offiziere der "Wehrmacht". Klepper erhält begeisterte Zuschriften. Auch der frühere Kaiser sendet Dankesworte aus dem Exil.
Suspekte Aktivisten
Die meisten von Kleppers Bekannten und Freunden - darunter der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider, ein sensibler Humanist - hoffen, wie Klepper selbst, auf die Rückkehr einer christlichen Monarchie. Ihr Vorbild ist England. Das aktuelle Personal der Hohenzollern stellt sie allerdings wenig zufrieden. Mit Blick auf die evangelische Kirche wollen sie das Überschwappen der "deutschchristlichen" Ideologie verhindert wissen, halten die "Bekennende Kirche" aber für zu politisch und zu aktivistisch. Dankenswerterweise erlaube die Hitlerregierung ja weiterhin die christliche Religionsausübung, meint Klepper. Er wünscht sich eine "Volkskirche", die Einfluss beim Staat behält, damit die Deutschen nicht noch mehr fremden Göttern anheimfallen.
Aktivisten des Kirchenkampfes, wie Martin Niemöller, sind ihm suspekt: "Sie wissen ja gar nicht, was unentrinnbares, von Gott her notwendiges Leiden ist. Sie haben den Blick für Volk und Gemeinde verloren. Sie richten Mauern auf, und über allem kämpferischen Bekenntnis schweigt die Verkündigung der Botschaft der Liebe", schreibt Jochen Klepper in sein Tagebuch. Er übersieht die Widersprüchlichkeit seiner Gedanken - wenn er etwa 1941 einen Akt der Nächstenliebe, nämlich den beherzten Aufruf seiner früheren Breslauer Kommilitonin Katharina Staritz zugunsten der "Judenchristen", als "Eingreifen in Gottes Führung" verurteilt: "Dies ist nicht Gottes Weg, uns zu Bekennern und Märtyrern zu machen. Für uns heißt es schweigen, tragen, warten." Seine Passivität und "Obrigkeitsmystik" äußert sich auch in beflissenem Gehorsam gegenüber seinem Aufseher im Propagandaministerium. Tagebuchnotizen wie "Selten habe ich mich zu einem Menschen so hingezogen gefühlt wie nun gerade zu dem, der mich plötzlich überwacht" erinnern an seltsam getönte Gedichte aus seinen zwanziger Jahren:
Sebastian ist der Heilige der Dichter,
der - wie der Leuchter Zions sieben Lichter -
an seinem Körper tiefe Pfeile trägt
und, obgleich ganz erfüllt von seinen Wunden,
dem Peiniger zutiefst und still verbunden,
die Macht sucht, die bestimmt, dass er ihn schlägt.
Sicher: Aufsässiger auftreten kann der introvertierte Klepper, schon mit Rücksicht auf seine Familie, kaum. Aber er hätte mit Hanni und Tochter Reni rechtzeitig ins Ausland gehen können - etwa gemeinsam mit Renis älterer Schwester Brigitte, die im Mai 1939 nach England auswanderte. Doch der Gedanke, von Deutschland getrennt, entwurzelt zu sein, ängstigt ihn. Seit Kriegsausbruch ist eine Flucht nahezu unmöglich.
Und nun, am 10. Dezember 1942, die letzte kleine Chance für Reni und Hanni: die Hoffnung auf Schweden. Doch Adolf Eichmann lehnt die Ausreisegenehmigung ab. Für Jochen Klepper und die Seinen ist es das Ende. Ihr Dienstmädchen findet am nächsten Morgen einen Zettel an der Küchentür: "Vorsicht Gas!" Die Toten liegen auf einer Decke am Boden. Die beiden Frauen halten sich umarmt. Die Augen Jochen Kleppers sind offen geblieben und drücken ein großes Erstaunen aus.
In jeder Nacht, die mich umfängt,
darf ich in deine Arme fallen,
und du, der nichts als Liebe denkt,
wachst über mir, wachst über allen.
Du birgst mich in der Finsternis.
Dein Wort bleibt noch im Tod gewiss.
Informationen
Ralph Ludwig: Jochen Klepper. Wichern Verlag, Berlin 2012, 144 Seiten, Euro 14,95.
Martin Rothe