Es ist die alte Streitfrage, sowohl im persönlichen Umgang als auch in den internationalen Beziehungen: Soll man Gleiches mit Gleichem vergelten oder gebieten es die eigenen Werte, sich nicht auf das Niveau eines Gegenüber einzulassen? Auf die heutige Weltlage gemünzt: Müssten die westlichen Demokratien, um Schlimmeres zu verhüten, bereit sein, auf Terrorismus mit terroristischen Mitteln zu antworten, oder fordert die eigene Kultur differenziertere Reaktionen?
In einer Zeit der Emotionen, Ängste und Unsicherheiten fällt eine Antwort schwer. Der bulgarisch-französische Sozialwissenschaftler Tzvetan Todorov mahnt gleichwohl in seiner eindringlichen Analyse vor Überreaktionen: "Wenn im Kampf gegen den Terror 'alles erlaubt ist', wird derjenige, der den Terror bekämpft, dem Terroristen allmählich immer ähnlicher."
Der 1939 in Sofia geborene Autor lebt seit 1963 in Paris und ist seit langem französischer Staatsbürger. Vor allem in den romanischen und angelsächsischen Ländern ist er durch sprachwissenschaftliche Arbeiten bekannt geworden. Seine in den Siebzigerjahren erschienene Einführung in die fantastische Litaratur ist geradezu ein Klassiker geworden. Ebenso nachhaltig waren seine Studien über die USA und die Zukunft Europas. Immer ging es ihm um die Frage des menschlichen Verhaltens, wenn - wie nach der Entdeckung Amerikas - ganz unterschiedliche Zivilisationen aufeinanderprallen, und auf welche Weise die Vielfalt der Kulturen als Bereicherung für alle gesehen werden kann.
Todorov nimmt Samuel Huntingtons These vom "Kampf der Kulturen" zum Ausgangspunkt für ein völliges Gegenmodell. Ja, wir leben in unterschiedlichen Kulturen und fühlen uns auch in der jeweils eigenen zu Hause; gleichwohl waren, so der Autor, Kulturen, gerade die europäischen, immer Mischgebilde, die sich ständig weiterentwickelten und durch Vielfalt auszeichneten.
Gerade dieser Umstand mache die Stärke Europas aus. Die Länder Europas haben sich, sagt er, nach leidvoller Geschichte zu einer von Vielfalt, Toleranz und Pluralismus geprägten Gemeinschaft zusammengefunden: "Die Europäer von morgen werden nicht jene sein, die die gleiche Erinnerung haben, sondern jene, die - 'unaufgeregt', wie Diderot sagte, 'aber aus voller Überzeugung' - anzuerkennen vermögen, dass die Erinnerung des Nachbarn ebenso legitim ist wie die eigene."
Zugleich sieht Todorov die Europäer (und fast mehr noch die Amerikaner) in der Gefahr, angesichts der Konfrontation mit dem Islamismus jedes an den eigenen Werten orientierte Maß zu verlieren. "Islamismus", so sagt er dezidiert, "ist nicht gleich Islam", und was dort als Religion verbreitet werde, sei in Wahrheit fast immer politischer Natur, resultierend aus Ohnmacht, Neid und Hass gegenüber dem als überheblich empfundenen Westen. Sein Plädoyer lässt den Autor auch fragen, ob die umstrittenen dänischen Mohammed-Karrikaturen wirklich von der Meinungsfreiheit gedeckt sind und ob die holländisch-somalische Autorin Hirsi Ali mit ihrem harten antiislamischen Feldzug nicht doch auf dem Holzweg ist.
Todorovs Buch ist eine kritische, oft unbequeme, aber unbestreitbare Mahnung, bei aller Ahndung politisch motivierter, aber letztlich krimineller Verbrechen Maß und Augenmaß zu wahren. "Trennung und Abschottung der Kulturen weisen in Richtung Barbarei, während ihre wechselseitige Anerkennung einen Schritt hin zur Zivilisation darstellt." Komme man aus diesem Teufelskreis nicht heraus, "ist das Leben auf der Erde bedroht". Kann man dem widersprechen?
Tzvetan Todorov: Die Angst vor den Barbaren. Hamburger Edition, Hamburg 2010, 287 Seiten, Euro 22,00.
Dirk Klose