Stolperfallen auf dem Dritten Weg
Ja, es gibt sie: Menschen, die ihren Beruf danach wählen, ob und wie viel Sinn er ihrem Leben gibt. Oder auch ihren Arbeitgeber. Oder noch besser beide. Die Erzieherin Sabrina H. ist so jemand, der Architekt Heiko S. und auch der Gemeindereferent Jan W. Sie sind direkt bei der Evangelischen Kirche oder der Diakonie beschäftigt und haben sich das bewusst so ausgesucht. "Ich möchte christliche Werte vermitteln", sagt H. Miteinander, Solidarität, Nächstenliebe, fallen ihr da ein. "Und ich möchte, dass Kinder kirchliche Traditionen und Feste in ihrem ursprünglichen Sinn begreifen." H., dessen Schwerpunkt in der Arbeit mit Jugendlichen liegt, hilft es, "wenn sie mir komisch kommen, dass ich weiß, ich bin nicht allein. Gott und die Kirche stehen hinter mir". S. ist Spezialist für Denkmalschutz und findet in und an alten Kirchen "viel Bedenkenswertes, das man in der heutigen Zeit so gar nicht mehr kennt". Die drei sehen sich zwar "nicht unbedingt in vorderster Front im missionarischen Auftrag", wie S. sagt. Aber doch "dem Glauben verbunden".
Allerdings gibt es auch immer mehr Beschäftigte, die vor allem die karitativen Einrichtungen der Diakonie keineswegs für besonders gute und sinnstiftende Arbeitgeber halten. "Das ist wirklich der schlimmste Arbeitgeber, den es gibt", sagt ein ehemaliger Pflegehelfer der Diakonischen Altenhilfe in Lilienthal bei Bremen, dem "der kirchliche Auftrag eigentlich auch sehr wichtig" ist. "Unser Idealismus wird ausgebeutet." Wie Anfang des Jahres bekannt wurde, hat die Einrichtung die Löhne mit Hilfe der diakonieeigenen Zeitarbeitsfirma Dia Logistics über viele Jahre systematisch gedrückt - um bis zu 30 Prozent. Die Diakonie in Niedersachsen hat mittlerweile reagiert. Diakonie-Direktor Christoph Künkel drohte jüngst: Wenn sich bis Jahresende nichts ändere, werde der Verband diese Einrichtung aus der Diakonie ausschließen.
Mehr Mitarbeiter als Siemens
Ende 2009 arbeiteten 216.000 Menschen bei den evangelischen Landeskirchen, darunter knapp 23.000 Pfarrerinnen und Pfarrer, 2000 hauptberufliche und 17.000 nebenberufliche Organistinnen und Chorleiter. In der Diakonie gibt es knapp 224.000 Voll- und 212.000 Teilzeitstellen. Damit kann aus der privaten Wirtschaft niemand mithalten. Nur zum Vergleich: Selbst der größte deutsche Industriekonzern Siemens kommt nur auf rund 400.000 Beschäftigte - weltweit. Mit dem Rückzug des Staats haben die kirchlichen Verbände immer mehr gesellschaftliche Aufgaben übernommen: Altenpflege, Integration von Menschen mit hohem Assistenzbedarf, Schuldnerberatung - und zunehmend werden auch Angebote im Bildungsbereich nachgefragt.
Dieser Markt, wenn man ihn denn als solchen begreifen und sich seine Prinzipien zu eigen machen will - was vor allem die Diakonischen Werke explizit tun - , ist allerdings auch nicht einfach. Seit in den Neunzigerjahren das Prinzip abgeschafft wurde, soziale und medizinische Leistungen von der öffentlichen Hand komplett zu refinanzieren, und immer mehr freie Träger antraten, gibt es einen knallharten Wettbewerb. "Der Markt drückt die Preise. Die Pflegekassen richten sich mit dem, was sie erstatten, immer nach dem billigsten Anbieter", sagte die ehemalige ekd-Ratsvorsitzende Margot Käßmann kürzlich in einem Interview mit der zeit. Die Konsequenz? "Wir brauchen dringend eine gesellschaftliche Diskussion, was uns Pflege wert ist."
Der Einsatz von Leiharbeit wie in Lilienthal ist kein Einzelfall. Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, geht davon aus, dass rund 35.000 Mitarbeiter der Diakonie ausgelagert oder über Zeitarbeitsfirmen beschäftigt sind. Nach Schätzungen von Mitarbeitervertretern sind es mehr als doppelt so viele.
Kulturelle Scheu
Dass die Diakonie nun prüft, ob sie die Lilienthaler Einrichtung und einige andere aus dem Netzwerk ausschließt, ist für ihre Kritiker aber keine ausreichende Lösung: "Die Kritik ist strukturell", sagt Georg Güttner-Mayer, der bei der Gewerkschaft ver.di für die Beschäftigten bei den Kirchen und ihren Einrichtungen zuständig ist. Ihm fallen noch andere Beispiele ein, wie die Diakonie die Arbeitskosten drückt. So würden viele Stellen als flexible Teilzeitstellen vergeben, auf denen die Beschäftigten jederzeit einspringen können müssen. Ein Zweitjob, der bei einem Stunden- lohn von zehn Euro und einer Zwanzig-Stunden-Woche notwendig wäre, um die Existenz zu sichern, ist da nicht möglich.
Für die Gewerkschaft sind die Kirchen und ihre Sozialeinrichtungen ein schwieriges Feld. Nicht allein, dass die wenigsten Beschäftigten dort gewerkschaftlich organisiert sind, weil es "da eine gewisse kulturelle Scheu" gibt. Immer wieder geben Kirchenleute wie Günter Barenhoff, Vorstandssprecher des Diakonischen Werkes Rheinland-Westfalen-Lippe, die Linie vor: "Gott kann man nicht bestrei-ken."
Tatsächlich gibt es für ver.di und Co auch eine rechtliche Hürde: In Deutschland haben die Kirchen einen verfassungsrechtlich verankerten Sonderstatus. Artikel 140 des Grundgesetzes sichert Religionsgesellschaften unter anderem zu, dass sie ihre Angelegenheiten "in den Schranken der für alle geltenden Gesetze" selbst regeln können. In der praktischen Anwendung bedeutet das heute: Die christlichen Kirchen und deren Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie haben ein eigenständiges kollektives Arbeitsrecht geschaffen, sie regeln ihre Tarife und ihre Mitbestimmung allein. Nach ihrer Auffassung gibt es kein Streikrecht. Die Begründung: Wer in der Kirche mitarbeite, verrichte keine gewöhnliche Arbeit, hier gebe es keinen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, sondern einen gemeinsamen "Dienst am Nächsten". Auch strittige Fragen müssten deshalb gemeinschaftlich geregelt werden.
Deshalb haben sie vor rund dreißig Jahren den so genannten Dritten Weg eingeschlagen - in Abgrenzung zu der einseitigen Arbeitsvertragsgestaltung durch die Arbeitgeber im Ersten und den Tarifabschlüssen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften im Zweiten Weg: Paritätisch besetzte Arbeitsrechtliche Kommissionen (ARK) entscheiden heute über Lohn- und Gehaltstabellen sowie Arbeitszeit und -bedingungen. Sollten sich beide Seiten nicht einigen, geht es in ein Schlichtungsverfahren mit einem unabhängigen Vorsitzenden.
Dienst am Nächsten im Wettbewerb
Johannes Stockmeier, seit drei Monaten Präsident des Diakonischen Werkes der EKD, unterstrich vor der Presse vor kurzem in Berlin noch einmal die Bedeutung des Dritten Wegs für die Diakonie: "Für uns ist der Dritte Weg essentiell, er ist eine Rahmenbedingung der Diakonie, der wir viel zutrauen und lässt sich aus dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland ableiten."
Doch für den "Dienst am Nächsten" gelten mittlerweile marktwirtschaftliche Kriterien. Der Verband diakonischer Dienstgeber Deutschland, der auch Mitglied der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände ist, hat sich zum Ziel gesetzt, die Diakonischen Werke fit zu machen für den Markt der sozialen Dienstleistungen. "Die alle Lebensrisiken umfassende Fürsorge als Leitmotiv sozialstaatlichen Handelns ist abgelöst worden, der Staat setzt verstärkt auf Eigenverantwortung, auf bürgerschaftliches Engagement und auf die Gesetze des Wettbewerbs”, formuliert der Verband auf seiner Website. Qualität und Preis würden darüber entscheiden, "ob ein diakonischer Dienst auch künftig wettbewerbsfähig ist".
Der Druck wächst
Der Druck auf die Beschäftigten wächst also, und dabei agieren in den ARK die Vertreter der Kirchen oder der Werke und die der Beschäftigten keineswegs auf Augenhöhe. Denn wer die Mitglieder benennen darf, regeln die Synoden beziehungsweise die entsprechenden Gremien der Diakonie. Auch die Verhandlungs- und Abstimmungsbedingungen in den ARK geben die kirchlichen Leitungsinstanzen vor - anders als bei der Katholischen Kirche und der Caritas, wo die Mitarbeitendenvertreter per Urwahl oder über Wahlmänner und -frauen gewählt werden. So kann es passieren, dass missliebige Mitarbeiter über eine Änderung des Verfahrens von Kommissionsbesetzungen ausgeschlossen oder Konflikte durch geänderte Abstimmungsquoten entschieden werden. Nachdem sich im vergangenen Jahr bundesweit elf von dreizehn Arbeitsgemeinschaften der diakonischen Mitarbeitervertretungen - die 90 Prozent der Beschäftigten repräsentieren - für Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften aussprachen, beschloss die Diakonische Konferenz im Juni 2010, dass diese "Arbeitsgemeinschaften der Mitarbeitervertretungen kein Recht zur Benennung für die Amtsperiode von 2010 bis 2013 haben".
Allerdings gibt es auch Beispiele, in denen einzelne Landeskirchen und Diakonieverbände einen anderen Weg gegangen sind. So haben sowohl die Landeskirchen Nordelbien und Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz als auch der Diakonische Verband Nordelbien bereits seit den Siebzigerjahren Tarifverträge mit der Gewerkschaft ÖTV beziehungsweise ver.di abgeschlossen, in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz in Tarifeinheit mit der Gewerkschaft GEW und der Gewerkschaft Kirche und Diakonie, mit der Besonderheit, dass die Gewerkschaften weiterhin auf Streiks verzichten.
Streit um Streiks
Die Hoheit der Kirchen über die Interpretation ihres Sonderrechts bröckelt trotzdem weiter. Im September 2010 scheiterte die Evangelische Kirche Nordelbien mit einer Klage gegen einen Streik, zu dem der Marburger Bund seine Mitglieder aufgerufen hatte. Im Januar kassierte das Landesarbeitsgericht Hamm in der Berufungsverhandlung ein Urteil des Arbeitsgerichts Bielefeld vom März vergangenen Jahres. Die Evangelische Kirche von Westfalen und das Diakonische Werk Rheinland-Westfalen-Lippe hatten gegen die Teilnahme von Diakoniebeschäftigten an ver.di-Warnstreiks für die ersten Lohnerhöhungen seit 2004 geklagt und in der ersten Instanz verloren. Die Richter erklärten, Ausgründungen und Leiharbeitsfirmen seien ein Indiz dafür, dass nicht alle Beschäftigen in den kirchlichen Organisationen einen christlich verstandenen "Dienst am Nächsten" verrichteten. Also könne auch nicht für alle das Streikverbot gelten.
Die Kläger wollen wiederum in Berufung gehen. Ver.di-Kirchenexperte Güttner-Mayer geht davon aus, dass die letzte Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht liegen wird. Auch der Tübinger Sozialwissenschaftler Hermann Lührs, der selbst Mitglied der Arbeitsrechtlichen Kommission der Evangelischen Kirche Deutschland ist, hält die Legitimation der kirchlichen Sonderstellung beim Arbeitsrecht zumindest für fragwürdig: Die Artikel 136ff der Weimarer Verfassung, die der Artikel 140 GG übernimmt, dienten dazu, die Trennung von Staat und Kirche zu regeln und das Selbstordnungsrecht der Religionsgemeinschaften zu schützen, aber auch gleichzeitg zu begrenzen. Nach dem Betriebsrätegesetz von 1921 wurden Arbeitnehmer, die bei der Kirche beschäftigt waren, aber wie Beschäftigte in anderen Tendenzbetrieben behandelt - mit eingeschränkten, aber durchaus vorhandenen Mitbestimmungsrechten.
So manifestierte sich die Sonderstellung der Kirchen konkret erst im Betriebsverfassungsgesetz, das die Mitbestimmung in Betrieben regelt. "Zunächst war vorgesehen, die Kirche weiter als Tendenzbetrieb einzuordnen", so Lührs. Dagegen intervenierten allerdings die Bischöfe. Ihr ausschlaggebendes Argument soll gewesen sein, dass die DDR in ihrem Betriebsverfassungsrecht die Kirche ausgenommen habe - hinter dem säkularisierten Arbeiter- und Bauernstaat wollte man nicht zurückstehen.
Für die Löhne und Gehälter spielte die Sonderstellung noch länger keine besondere Rolle, weil die Landeskirchen und Diakonischen Werke jahrzehntelang die Tarifverträge des Öffentlichen Dienstes übernahmen. Die Aufgabe der ARKen bestand vor allem darin, die Zigtausende rechtlich eigenständigen Einrichtungen in Diakonie und Caritas zu sichern und die Regelungen auch für im öffentlichen Dienst nicht übliche kirchliche Berufe anzupassen.
Die Logik des Marktes
Problematisch wurde es laut Lührs, "als die ARK Ende der Neunzigerjahre zum Verhandlungsort von Lohntabellen und Arbeitszeitregelungen wurden". Anlass dafür war der Wandel bei der Finanzierung des Sozialstaates, der seit 1998 schleichend einsetzte. Das Selbstkostendeckungsprinzip wurde mehr und mehr durch Marktlogik ersetzt.
Besonders die Diakonie wollte die Tarifverträge des Öffentlichen Dienstes nicht mehr übernehmen, sondern eigene Systeme aushandeln. Der Konflikt war da: Die Arbeitgeber spürten den Druck des Wettbewerbs, die Arbeitnehmer wollten weiter ihre Miete bezahlen können. "Dafür gibt es keine richtige Lösung", sagt Lührs. "Es gibt nur Lösungen, die in der jeweiligen Situation von gegebenen Kräfteverhältnissen bestimmt werden. Und die entstehen durch das Zusammenwirken von inneren und äußeren Machtfaktoren."
In einem normalen Tarifkonflikt bedeutet das: Die Tarifkommissionen verhandeln gleichberechtigt und unter einem gewisssen Druck von außen: Die Konjunktur spielt eine Rolle, der Wettbewerb, die soziale Situation, die Inflation, aber auch die öffentliche Stimmung und Protestaktionen bis hin zu Streiks. Lührs: "Diese Möglichkeiten gibt es in den ARKen nicht. Der Dritte Weg benachteiligt deshalb die Arbeitnehmerseite."
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Beate Willms