Hunger der Spekulanten

Wie an Warenterminbörsen mit Lebensmitteln gezockt wird
Reiche Ernte: Die hohen Nahrungsmittelpreise kommen vor allem der industrialisierten Landwirtschaft zugute. Foto: dpa/ Roberto Pera
Reiche Ernte: Die hohen Nahrungsmittelpreise kommen vor allem der industrialisierten Landwirtschaft zugute. Foto: dpa/ Roberto Pera
Die Preise für Nahrungsmittel sind in den vergangenen Monaten auf ein Rekordniveau gestiegen. Das hat vor allem für die ärmsten Länder dramatische Konsequenzen. Experten schätzen, dass die hohen Preise mehr als 40 Millionen Menschen zusätzlich in den Hunger getrieben haben.

Wer zum Kontor 24 geht, hört seine Schritte hallen. Quer durch die leeren Handelssäle der Hamburger Börse führt der Weg, unter den Galerien hindurch, vorbei an den steinernen Säulen, jede einzelne mit einer Nummer versehen. Um die Säulen herum schmiegen sich Bänke aus dunklem Holz, schlicht und gediegen, wie es sich für hanseatische Kaufleute gehört. Namensschildchen aus Messing weisen jedem seinen Platz zu. Hier saßen sie noch bis in die Sechzigerjahre hinein, begutachteten Getreideproben, telefonierten in den schalldichten Wandschränken der Kontore, kauften, verkauften und legten so die Preise für Weizen, Roggen oder Gerste fest.

Alles Geschichte. Was vom Getreidehandel an der Hamburger Börse übrig geblieben ist, passt in einen mittelgroßen Konferenzraum innerhalb des Kontors, in dem sich jeden Dienstag die so genannte Notierungskommission trifft. Die Getreidehändler, Verarbeiter und Makler bewerten Angebot und Nachfrage und legen die Großhandelspreise für Getreide, Raps und Futtermittel fest. An fünfzehn Börsen treffen sich solche Kommissionen. Ihre Notierungen werden veröffentlicht und gelten als Richtpreise für den Handel. Und überall ist der Trend eindeutig: Die Preise steigen. Auch wenn in den vergangenen Wochen die Spitzenwerte des Sommers nicht mehr erreicht wurden, bleiben die Preise auf Rekordniveau.

Brötchen und Käse teurer

Die FAO, die Organisation, die bei den Vereinten Nationen für Ernährung und Landwirtschaft zuständig ist, ermittelt monatlich einen Preisindex für verschiedene Nahrungsmittel. Danach ist Getreide von 2000 bis November 2011 um rund 150 Prozent teurer geworden. Und bei Milch und Fleisch ist der Trend ähnlich, der Gesamtindex für Nahrungsmittel stieg von 93,1 Punkten im Jahr 2000 auf 202,5 Punkte in diesem Jahr.

Für die Landwirte in Europa ist das eine gute Nachricht, denn sie bekommen mehr Geld für ihre Ware. Aber diese bezahlt am Ende natürlich der Verbraucher. So kosten Brötchen oder Käse in Deutschland derzeit gut 20 Prozent mehr als vor fünf Jahren. Weil wir jedoch nur etwa 15 Prozent unseres gesamten Budgets für Essen ausgeben, merken wir die Preissteigerungen zwar, können sie aber vergleichsweise problemlos verdauen.

Dramatische Folgen

Anders ist die Lage in den Ländern, die sowieso schon von Armut und Hunger betroffen sind. Eine Milliarde Menschen hungern derzeit auf der Welt, über die Hälfte davon lebt in Asien, etwa ein Drittel in Afrika.

In diesen Regionen geben viele Haushalte bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel aus, jede Preissteigerung kann dramatische Folgen haben und den Hunger wachsen lassen. Der letzte steile Preisanstieg bei Nahrungsmitteln in den Jahren 2007 und 2008 hat der FAO zufolge 115 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut gestoßen, Hungeraufstände in Ägypten, Haiti oder Mexiko, wo die steigenden Maispreise zur so genannten Tortilla-Krise führten, waren die Folge. Und die Weltbank schätzt, dass die derzeitige Preisrallye bis zum vergangenen April mindestens 44 Millionen Menschen zusätzlich in den Hunger getrieben hat.

Im Kontor 24, hinter den eleganten Säulenhallen der Hamburger Börse, sitzt einer, dem diese ganz andere Welt nicht fremd ist. Christof Buchholz ist ausgebildeter Agrarökonom und war mehrere Jahre Entwicklungshelfer in Afrika. Heute ist er Geschäftsführer des Vereins der Getreidehändler der Hamburger Börse (VDG), der auch der Dachverband für die deutschen Getreidehändler ist. 140 davon sind beim VDG organisiert, die größten unter ihnen sind die deutschen Zweige der weltweit tätigen Agrarhandelskonzerne wie Cargill, adm oder Bunge. Sie alle profitieren von den steigenden Preisen, zumal auch aus Deutschland ein nicht unerheblicher Teil des Getreides vor allem nach Afrika exportiert wird.

Hohe Preise helfen

Für Buchholz gibt es vor allem einen entscheidenden Grund, warum die Nahrungsmittelpreise so hoch liegen: Eine gestiegene Nachfrage. Mehr Wohlstand in den Schwellenländern führt zu steigendem Fleischkonsum, und damit klettern auch die Preise für Tierfutter. Für jedes Kilo Fleisch müssen sieben Kilo Getreide oder Soja verfüttert werden. Hinzu kommt die weltweit wachsende Produktion von Agrartreibstoff und Ernteausfälle durch Dürre, Flut oder sonstige saisonale Ereignisse. Diese extremen Wetterereignisse werden durch den Klimawandel zunehmen, der vor allem die Regionen betrifft, die schon jetzt besonders unter Hunger leiden und die immer mehr Menschen ernähren müssen. Sieben Milliarden Menschen leben seit diesem Herbst auf der Erde, und im nächsten Jahrzehnt dürfte die Schwelle zur nächsten Milliarde überstiegen werden. Und auch hier gilt: Den Großteil des Bevölkerungszuwachses müssen die Länder des Südens schultern.

Buchholz sitzt in seinem zweckmäßig eingerichteten Büro im Kontor 24 an einem sehr aufgeräumten Schreibtisch und weiß das alles. Und er hat einen klaren ökonomischen Lösungsansatz, den dramatischen Folgen dieses Preisanstieges zu begegnen. "Wir müssen mehr produzieren, um die von Hunger betroffenen Länder versorgen zu können."

Dabei würden hohe Preise helfen, denn durch diese rechnen sich Investitionen in Landwirtschaft, zum Beispiel auch in Ländern, in denen die Produktionskosten wegen der klimatischen Bedingungen oder dem geringen Einsatz von Maschinen vergleichsweise hoch sind.

Investoren angelockt

Für einen kühl rechnenden Finanzexperten zeigen die steigenden Preise für Nahrungsmittel vor allem eines: Es lohnt sich, sein Geld hier anzulegen. Denn alle fundamentalen Daten sprechen dafür, dass Nahrungsmittel auch in Zukunft teuer bleiben. Ebenso wie andere Rohstoffe, Edelmetalle, Öl oder die "Seltenen Erden", die für die Produktion von Flachbildschirmen, Energiesparlampen oder Hybridmotoren benötigt werden. Die Nachfrage wächst, das Angebot ist begrenzt, solche Wachstumsstorys ziehen das Geld an.

Bis zum Beginn dieses Jahrtausends war der Handel an den Warenterminbörsen allerdings noch vergleichsweise streng reguliert, was große Investoren wie Pensionsfonds, Versicherungen oder Banken abschreckte. Doch die Politik lockerte nach und nach die Gesetze. Die Folge: Ein riesiger Geldstrom floss in einen bis dahin überschaubaren Markt. Der Aktienexperte und Buchautor Dirk Müller hat in einem Report für das katholische Hilfswerk Misereor festgestellt, dass allein zwischen 2003 und 2008 die Investitionen in die beiden größten Rohstoffindex-Fonds um 2300 (!) Prozent auf 317 Milliarden US-Dollar gestiegen sind. Hinzu kommen noch die so genannten Over-the-counter-Geschäfte (OTC), die nicht über die offiziellen Börsen laufen, sondern direkt zwischen den Marktteilnehmern per Telefon und in Dark-Pools ausgehandelt werden. Auf den Rohstoffhandel sollen dabei rund drei Billionen Dollar entfallen.

Wer treibt wen?

Das bleibt nicht ohne Folgen. Der Handel an den Warenterminbörsen ist schwankender geworden, die Kurse steigen schneller und höher, fallen gleichzeitig aber auch umso dramatischer wieder ab - und das alles in viel kürzeren Intervallen als früher. Das ist unstrittig. Gerungen wird in Expertenkreisen aber derzeit um die Frage, ob die Warenterminbörsen die Entwicklung im realen Handel mit Nahrungsmitteln nur abbilden oder ob gerade die Spekulation auf steigende Preise nicht selbst ein weiterer Preistreiber ist. Dass das so ist, sagen zum Beispiel große Organisationen wie die Weltbank oder die UN-Handelsorganisation unctad, aber auch der durch seine Währungsspekulationen berüchtigte Milliardär George Soros. Doch die Gegenseite hat ebenfalls gewichtige Vertreter, wie zum Beispiel den Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der ansonsten eher im linken Lager der Ökonomen zu finden ist.

Einig sind sich zunächst alle, dass der Mechanismus, der der Spekulation zu Grunde liegt, grundsätzlich sinnvoll ist. Denn er sorgt für Planungssicherheit bei Käufern und Verkäufern von Getreide und anderen Nahrungsmitteln. Das Werkzeug dazu, das schon im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, sind die so genannten Futures, also Kaufverträge, die in der Gegenwart festlegen, zu welchem Preis der Käufer vom Hersteller oder Händler an einem bestimmten Tag in der Zukunft zum Beispiel 500 Tonnen Weizen erwirbt. So wissen die Bauern schon im Voraus, wie viel Geld ihnen das Getreide bringt, das gerade oder im kommenden Jahr auf ihren Feldern wächst. Und die Mühle, die das Getreide kauft, kann ebenfalls längerfristig kalkulieren. Den Vertrag schließen beide Seiten aber nicht direkt miteinander, sondern über eine Warenterminbörse, wo früher ein Händler und heute in der Regel ein Computer An- und Verkaufsgebote miteinander vergleicht und die passenden zusammenführt.

Ein virtueller Handel

Allerdings wechselt am Fälligkeitstermin der geschlossenen Verträge nur in 2 Prozent der Kontrakte tatsächlich Weizen, Gerste oder Mais den Besitzer. Stattdessen gibt es am Fälligkeitstag eine Art virtuelle Übergabe, die Kontrakte werden "glattgestellt". Das bedeutet: Der Händler, der über einen Future 500 Tonnen Weizen verkauft hat, muss an diesem Tag Kontrakte über die gleiche Menge Weizen kaufen, allerdings zum dann gültigen aktuellen Preis. Liegt dieser unter dem im Future-Handel vereinbarten Verkaufspreis, macht er einen Gewinn, den ihm die Börse auszahlt, ist der Preis mittlerweile höher als angenommen, einen Verlust, den die Börse kassiert.

Futures haben also eher den Charakter von Wetten auf die Entwicklung der Preise. Und weil kein Korn tatsächlich den Besitzer wechseln muss, kann die (virtuelle) Menge des gehandelten Getreides an den Warenterminbörsen die des auf den Feldern oder in den Lagerhäusern tatsächlich vorhandene oft um ein Vielfaches übertreffen. Der Journalist Harald Schumann, der im Auftrage der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch dem Einfluss von Spekulation auf die Nahrungsmittelpreise nachgegangen ist, beschreibt dies am Beispiel der Weizensorte Soft Red Winter. Im März 2011 seien davon an der Börse in Chicago Kontrakte über ein Volumen von 76 Millionen Tonnen gezeichnet worden. Die gesamte Jahresernte liegt jedoch nur bei neun Millionen Tonnen.

Verzerrtes Marktgeschehen

Macht doch nichts, sagen die Einen. Genau das zeige, dass die Warenterminbörsen keine Preistreiber sein können. Die Spekulanten orientieren sich an den geltenden Preisen, die in Hamburg oder anderswo festgelegt werden und wetten. Dabei mögen sie manchmal übertreiben und das Marktgeschehen verzerrt darstellen, aber sie können den realen Preis nicht beeinflussen. Können sie wohl, sagen die anderen und zwar um bis zu 50 Prozent. Denn so sauber getrennt seien die beiden Welten nicht. Auch, weil die großen Getreidehändler über eigene Investmentbanken an der Warenterminbörse mitmischen und so entscheiden können, ob sie das Getreide in den Lagern, über deren genaue Menge nur sie Bescheid wissen, zurückhalten oder nicht, je nachdem ob sie auf steigende oder fallende Kurse gesetzt haben. Auch, weil der Future-Preis, den jeder Landwirt über das Handy oder seinen Computer abrufen kann, eben doch sehr häufig zumindest als ein Richtwert für Verkaufsverhandlungen genutzt wird.

Wer glaubt, dass die Spekulation an den Warenterminbörsen einer der Preistreiber ist, muss dort ansetzen, wenn er das Problem lösen will.

Das will die Politik, zumindest nach eigenem Bekunden auch tun. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hatte den Kampf gegen Nahrungsmittelspekulation zu einem der Kernthemen seiner Präsidentschaft im Rahmen der G-20, also der wichtigsten Industrie- und Schwellenstaaten, in diesem Jahr erklärt. Doch beim Abschlussgipfel in Cannes vor einigen Wochen gab es in diesem Punkt keine konkreten Festlegungen.

Neue Regeln

Immerhin: Die zuständige US-Aufsichtsbehörde hat einen neuen Regulierungsentwurf für den Rohstoffhandel vorgelegt. Danach sollen ab 2013 unter anderem künftig so genannte Positionslimits gelten und ein Händler nicht mehr als 25 Prozent des tatsächlichen physischen Angebots mit kurzfristiger Fälligkeit halten dürfen. Und auch die EU-Kommission hat im Oktober eine neue Richtlinie vorgestellt, mit der sie die Finanzmärkte insgesamt zähmen will. Auch diese sieht Positionslimits vor, zudem sollen künftig auch die otc-Geschäfte, die nicht über die Börse abgeschlossen werden, reguliert werden. Allerdings gibt es hier noch viele Ausnahmen. Deshalb sieht zum Beispiel der zuständige Abgeordnete der Grünen-Fraktion im Europaparlament, Reinhard Bütikofer, den Entwurf nur als ein zartes Schrittchen nach vorn.

Christof Buchholz, dem Vertreter der deutschen Getreidehändler, geht das alles zu weit. Zu viele Eingriffe in den Future-Markt schwächen ihn als Instrument der Absicherung, sagt er. Er findet zwar auch, dass der Börsenhandel transparenter werden muss und klar sein muss, welcher Akteur mit welchen Interessen handelt. Und dass die Börse bei zu starken Preisausschlägen den Handel schließen sollte, sei für ihn auch noch akzeptabel. Den OTC-Handel hingegen sollte die Politik so lassen, wie er ist. Hier geht es auch um Betriebsgeheimnisse. Zudem befürchtet er einen immensen Verwaltungsaufwand, wenn jeder Getreidehandel zunächst von einer Behörde abgesegnet werden muss.

Noch hat sein Verband Zeit für politische Lobbyarbeit. Der Vorschlag der Kommission wird derzeit im Europaparlament diskutiert, das sich in der jüngsten Vergangenheit grundsätzlich für strengere Regulierung ausgesprochen hat. Gleichzeitig ist die Lobbymacht der Finanzbranche gerade in Brüssel groß (siehe zz 10/2011). Es wird also noch einige Zeit vergehen, bis die Nahrungsmittelpreise an den Börsen strenger reguliert werden. Und wer darauf wettet, dass sie bis dahin weiter steigen, hat gute Aussichten zu gewinnen.

Stephan Kosch

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