Wahn der Wohlgeborenen

Wo sich auf dieser Welt die Ideologie der Eugenik durchsetzte, endete sie in übler Praxis
Je nach politischem Kontext fürchtete man um den Fortbestand der eigenen Klasse, der eigenen Rasse, der "Volksgesundheit", der Nation oder der weißen protestantischen Zivilisation. (oto: Lothar Nahler)
Je nach politischem Kontext fürchtete man um den Fortbestand der eigenen Klasse, der eigenen Rasse, der "Volksgesundheit", der Nation oder der weißen protestantischen Zivilisation. (oto: Lothar Nahler)
Thilo Sarrazin will eugenisches ­Gedankengut wieder salonfähig machen, indem er in seinem Buch einen Diskurs mit biologistischer Grundierung über die Unterschicht anstößt. Er steht damit in einer langen, zweifelhaften Tradition, die welt­weit und keineswegs nur von der politischen Rechten begründet und gepflegt wurde.

Wieder einmal hat Thilo Sarrazin mit Äußerungen über Einwanderer und die Unterschicht in Deutschland Aufmerksamkeit erregt. In seinem Buch Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen beschwört der Volkswirtschaftler ein nationales Untergangsszenario, das sich seiner Ansicht nach ergibt, wenn die geringe Geburtenrate bei der gebildeten Schicht anhält, die ungebildete Unterschicht sich dagegen weiterhin vermehrt (und zwar durch Nachwuchs, nicht durch wachsende Armut!) und die Gruppe muslimischer Einwanderer zahlenmäßig zunimmt. Seine Thesen haben die Fragen von Zuwanderung und Integration zwar nicht erst auf die mediale Tagesordnung gesetzt, aber den Debatten eine weitere Drehung hinzugefügt. Was dabei aber weniger intensiv diskutiert wurde, ist das eugenische Gedankengut, das er präsentiert.

Eugenik für viele oft nur mit dem Nationalsozialismus verbunden

Vielleicht liegt das daran, dass Sarrazins Polemiken gegen Arme und Migranten schneller zu erfassen sind, sich in bereits bekannten Bahnen bewegen und eher skandalisieren. Vielleicht fällt die Einordnung aber auch schwer, weil eugenische Theorien oft allein der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus zugeschrieben werden und mit den Nürnberger Rassegesetzen, Zwangssterilisationen, Menschenexperimenten und den "Euthanasie"-Programmen zur "Ver­nichtung unwerten Lebens" in Verbindung gebracht werden. Von solchen Ideologien ist Sarrazin tatsächlich weit entfernt.

Wer sich aber nicht nur die deutsche, sondern die europäische und globale Geschichte anschaut, erkennt schnell, dass die Eugenik kein sektiererisches Phänomen rechtsextremer Gruppierungen war und keinesfalls nur Produkt nationalsozialistischen Rassenwahns. Vielmehr muss man die Eugenik als eine bedeutende internationale soziale Bewegung verstehen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihren Anfang in Großbritannien nahm und in den folgenden Jahrzehnten dort, in den USA und in Deutschland eine große Anhängerschaft in einem heterogenen politischen Spektrum fand.

Auch in Finnland, Schweden, Dänemark und Norwegen, in Estland, Litauen und Island, in Lateinamerika sowie Teilen der Schweiz wurden eugenische Ideologien populär und entsprechende Maßnahmen umgesetzt; ähnliches gilt für die Sowjetunion, nach dem Zweiten Weltkrieg auch für Japan und China.

Die Verbrechen des Dritten Reiches führten zwar zu einer weitgehenden Diskreditierung der Eugenik, institutionelle und personelle Kontinuitäten aber und eugenische Praktiken sind vielerorts bis in die Siebzigerjahre nachzuweisen. Eugenische Ideologien sind gar bis heute zu finden - wenn auch in Deutschland selten so explizit wie nun bei Sarrazin.

"Kampf ums Dasein"

Was aber versteht man nun unter Eugenik? Der Begriff stammt vom griechischen eugenes ("wohlgeboren") und bezeichnet die Anwendung humangenetischer Erkenntnisse auf menschliche Populationen in der Absicht, deren genetische Anlagen zu verbessern. Als ihr Gründervater gilt der Brite Francis Galton (1822-1911), ein Cousin Charles Darwins. Wie viele seiner Zeit war er inspiriert von der Evolutionstheorie und der Idee der "natürlichen Auslese", die im Zuge sozialdarwinistischer Theorien auf menschliche Gesellschaften übertragen wurde. Danach galten Unterschiede zwischen Menschen als genetisch bedingt; soziale Spaltungen wurden zum Ergebnis natürlicher Selektionsprozesse im "Kampf ums Dasein" erklärt.

Francis Galton trieb die Sorge, dass zivilisatorische Errungenschaften und staat­liche Fürsorge das natürliche "Über­leben des Tüchtigsten" ("survival of the fittest", Herbert Spencer, 1820-1903) außer Kraft setze und somit zu einer Degeneration einer menschlichen Population führe. Diese Furcht vor "Degeneration" teilten viele. Die enormen sozialen Umbrüche durch die Industrielle Revolution, das Anwachsen der Städte, der Slums und der Armut sowie die großen Migrationsbewegungen führten zu einer massiven Verunsicherung der Mittelschicht. Je nach politischem Kontext fürchtete man um den Fortbestand der eigenen Klasse, der eigenen Rasse, der "Volksgesundheit", der Nation oder der weißen, protestantischen Zivilisation.

Mit Sorge nahm man wahr, dass die Bevölkerungsgruppe, der man angehörte, und der man selbstverständlich das stärkste eugenische Potenzial zusprach, sich am wenigsten fortpflanzte: Die vielen Kinder bekamen immer die anderen. Sarrazins Schreckensbild des "stillen Untergangs" der deutschen Nation und Kultur und die "Übernahme" (259) durch Migranten und die Unterschicht ist ein Echo dieser Furcht.

Neben der Angst um den eigenen Status befeuerte aber auch der neue Glaube an die Naturwissenschaften und an den technischen Fortschritt die Popularität eugenischer Theorien. Den Vorstellungen von der biologisch-technokratischen Verbesserung des Menschen und der Gesellschaft wohnte ein ungeheures utopisches Potenzial in­ne, das Konservative und Liberale, Frauenrechtlerinnen und Sozialisten gleichermaßen ansprach.

Biologisch-technokratische Verbesserung des Menschen

Galton und seine Mitstreiter setzten sich also die genetische Verbesserung der "menschlichen Rasse" zum Ziel. Entscheidend war dabei nicht das Schicksal des Individuums, sondern die angenommene Belastung und der Nutzen für die Gesellschaft und zukünftige Generationen.

Bedeutsam ist hierbei die auf Galton zurückgehende Vorstellung, dass charakterliche und geistige Fähigkeiten in gleicher Weise auf Vererbung beruhten und weitergegeben würden wie körperliche Eigenschaften. Mehr noch: Zwischen körperlichen, charakterlichen und geistigen Merkmalen nahm man einen inneren Zusammenhang an. So verwundert es nicht, dass die Eugeniker nicht nur die Vermeidung (vermeintlich) vererbbarer Krankheiten im Visier hatten. Auch Verhaltensweisen, die von sozialen Normen, insbesondere den sexuellen Moralvorstellungen, der Mittelschicht ab­wichen, wurden kurzerhand als "krankhaft" bezeichnet und als "vererbbar" kategorisiert. Taubheit, "Schwachsinnigkeit", Epilepsie, Kriminalität, "Geis­teskrankheit", Alkoholismus, Promiskuität, ja, sogar selbst Armut: all das galt unterschiedslos als genetisch bedingte - und für das Individuum unabänderliche und von der Umwelt unabhängige - Eigenschaften, deren Ausbreitung einzudämmen war. Die eugenische Debatte wurde schließlich ethnisiert und in rassistischen Kategorien geführt.

Sarrazin äußert ein nicht unähnliches Verständnis von Armut, allerdings indirekt. Zunächst stellt er fest, dass es in Deutschland keine wirkliche Armut gebe, sondern dass es sich um einen "po­litischen Kampfbegriff" handele. Wer aber der Unterschicht angehöre, sei dies aus Gründen, die der grundsätzlichen Unterschiedlichkeit der Menschen entspringen: "Während die Tüchtigen aufsteigen und die Unterschicht oder untere Mittelschicht verlassen, wurden und werden in einer arbeitsorientierten Leistungsgesellschaft nach 'unten' vor allem jene abgegeben, die weniger tüchtig, weniger robust oder ganz schlicht ein bisschen dümmer und fauler sind." (79/80)

Sozialer Status als Widerspiegelung biologischer Voraussetzungen

Ausschlaggebend in der eugenischen Bewegung war die Behauptung, dass der soziale Status lediglich biologische Voraussetzungen spiegele. Zum Kernbestand wurde deshalb nicht zufällig die Messung von "Intelligenz" - vorgestellt als einer genetisch bedingten, fixen Eigenschaft eines Menschen oder einer bestimmten Menschengruppe. Die Entwicklung und Durchführung von Intelligenztests gehört entscheidend zur Geschichte der Eugenik. Von ihren Messergebnissen hingen "medizinische", soziale und politische Maßnahmen ab.

Zweifelhafte IQ-Tests, die - so lautet bis heute die Kritik - überwiegend Fähigkeiten abfragten, die in bestimmten Gruppen erlernt und kultiviert waren, dienten dazu, ganze Bevölkerungsgruppen zu stigmatisieren, ih­nen das Potenzial für Weiterentwicklung abzusprechen, Menschen auszusondern und schließlich Gewalt gegen sie zu rechtfertigen. Mit ihrer Hilfe erhielt gesellschaftliche Verachtung ein "wissenschaftliches" Alibi.

Auch Sarrazin scheint zu glauben, dass die soziale Struktur in Deutschland zum größten Teil biologisch festgelegt und damit legimitiert ist, denn sie hänge an der Intelligenz, die, so behauptet er, "zu 50 bis 80 Prozent erblich" sei (91): "Belegt ist auch, dass zwischen Schichtzugehörigkeit und Intelligenz ein recht enger Zusammenhang besteht." (93) Kinder aus der Unterschicht seien nicht nur durch die Bildungsferne ihrer Eltern benachteiligt, sondern auch dadurch, dass sie "gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern (erben)" (175).

Mehr Kinder von den Klugen?

Folgt man eugenischen Pfaden, dann schafft man das Schichtenproblem, konkreter: die Armut, am einfachsten mit den Armen selbst ab. Und wenn sich Armut biologisch vererbt, dann macht es Sinn, die Vermehrung der Armen wenigstens die vermeintlichen Anreize zu nehmen, wie Sarrazin vorschlägt. Denn "ein schichtabhängiges unterschiedliches generatives Verhalten (bedeutet) auch, dass sich das vererbte intellektuelle Potenzial der Bevölkerung kontinuierlich verdünnt. Dieser qualitative Effekt wirkt sich langfristig entscheidend auf die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft aus". (91/92) Stattdessen plädiert er für "fühlbare Anreize" in oberen Schichten und dafür, "bei abgeschlossenem Studium für jedes Kind, das vor Vollendung des 30. Lebensjahres der Mutter geboren wird, eine staatliche Prämie von 50.000 Euro" auszusetzen (389): "Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist". (331)

Auch die Eugeniker des 19. und 20. Jahrhunderts debattierten entsprechende Maßnahmen und engagierten sich auf allen gesellschaftlichen und kulturellen Ebenen für die Verbreitung ihrer Ideen. Im Zuge einer "positiven Eugenik" gab es vor allem finanzielle und steuerliche Anreize für die Eltern erwünschter Nachkommenschaft. Verbreitet waren auch Wettbewerbe für die eugenisch "fitteste" Familie. In Schulen, Universitäten, Kirchen und Vereinen fand entsprechende eugenische Aufklärung statt.

Mehr und mehr Bedeutung gewann aber schließlich die "negative Eugenik", die unerwünschte Erbanteile in der Bevölkerung zurückdrängen sollte. Verhütungsmittel führten nicht weiter, da sie vor allem in den Schichten verwendet wurde, die sich eigentlich vermehren sollten. Eine erfolgreichere Methode war die Heimeinweisung Kranker und Behinderter, womit die Möglichkeit der Fortpflanzung mit "gesunden" Menschen verhindert werden sollte. Hinzu kamen Heiratsverbote für genetisch Kranke und Behinderte oder Angehörige unterschiedlicher Rassen. Einen weitere Maßnahme waren Immigrationsverbote für Bevölkerungsgruppen, die als genetisch minderwertig und unnütze Belastung angesehen wurden.

Verhütungsmittel, Heimeinweisung, Immigrationsverbote, Sterilisationen

Die wichtigste Methode stellten jedoch über Jahrzehnte Sterilisationen dar. Wurde in der Anfangszeit der Eugenik noch die freiwillige Zustimmung der Beteiligten vorausgesetzt, wurden Vasektomien bei den betroffenen Männern und Frauen zunehmend unter Zwang durchgeführt.

Die USA waren Vorreiter dieser Praxis und das erste Land weltweit, das solche Eingriffe erlaubte. Noch bis in die Siebzigerjahre hinein wurden allein in North Carolina knapp 8.000 solcher Zwangssterilisationen durchgeführt - gegen den Willen der Betroffenen, oft unter Erpressung oder in deren Unkenntnis. Als Grund für die Zwangssterilisation wurde meist "Schwachsinnigkeit" - eine völlig diffuse und vorurteilsbehaftete Kategorie - angegeben; die Op­fer waren überwiegend Frauen, über­wiegend arm, überwiegend schwarz.

Ähnliches ist von Schweden zu berichten: Auch hier wurden bis Mitte der Siebzigerjahre unter sozialdemokratischer Verantwortung bis zu 30 000 Menschen zwangssterilisiert. Der Ökonom und Sozialdemokrat Gunnar Myrdal - einer der Autoren, die Sarrazin zitiert - gehörte zu denen, die sich für ein solches eugenisches Programm stark gemacht hatten.

Die Veröffentlichung seines Buches hatte, wie bekannt, für Thilo Sarrazin unerfreuliche Folgen. Nach massivem Druck musste er um seine Entlassung aus dem Vorstand der Deutschen Bundesbank bitten; seine Partei, die SPD, prüft derzeit die Möglichkeit eines Ausschlusses gegen ihn. Wie das ausgehen wird, ist unklar, vor allem, wenn man bedenkt, dass eugenische Ideen eben auch in der Geschichte der Sozialdemokratie wichtige Fürsprecher und Unterstützer fanden. Es mag notwendig sein, dass sich die Partei deswegen zunächst kritisch mit ihrer eigenen Tradition befasst. Nein, man kann Sarrazin nicht einfach vorwerfen, er vertrete nationalsozialistische Theorien. Und man muss ihm auch nicht unterstellen, er wolle es so weit treiben wie Eugeniker vor ihm.

Den Kontext verschwiegen

Aber er weiß, wen er mit Francis Galton, Julian Huxley und Gunnar Myrdal zitiert. Er bekennt sich bewusst zu eugenischen Überzeugungen, wenn er im Zusammenhang demographischer und gesellschaftlicher Entwicklungen von "dysgenischen Wirkungen" spricht, von "Evolution" und "negativer Auslese" - selbst wenn er das Wort "Eugenik" zu vermeiden weiß. So nennt Sarrazin die Namen - aber er verschweigt ihren politischen, ideengeschichtlichen und sozialen Kontext.

Sarrazin heizt die Kontroversen um muslimische Einwanderer an, um in ihrem Windschatten eugenisches Gedankengut in die Debatten zu schmuggeln. Das Buch muss als entsprechender Versuchsballon gewertet werden, zu testen, wie salonfähig eugenische Ideen heute sind. Hoffen wir, dass es statt dessen den Anstoß dazu bietet, sich mit den Ideen der Eugenik kritisch auseinander zu setzen.

Natascha Gillenberg

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Natascha Gillenberg

Natascha Gillenberg ist Theologin und Journalistin. Sie ist Alumna und Vorstand des Freundes- und Förderkreises der EJS.


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