„Doch nicht Friede“

Wu-Lus CD „Loggerhead”

Die Außenmauern sirren vor Hitze. Luftalarm in der ganzen Ukraine. Auch den Klimawandel hält ein Nachbar für Fakenews. Mein Freund ist mit einer Patriot-Raketen-Einheit nun vorn in Sliač, Slowakei. Ein Tag im Juli mit Lähmung und Kriegsphantasien. Wie wird der Sommer gewesen sein? Leben mit dem, was ist. In der CD-Schublade rotiert Loggerhead: düster, nachdenklich, hart, auch noisy – und heimelig, fast wie Zuversicht.

Das Album von Miles Romans-Hopcraft aus South London, der sich nach dem amharischen Wort für Wasser Wu-Lu nennt, hat einen seltsamen Reiz. Er entsteht daraus, wie der Produzent und Sänger mit Bass-Vorliebe Raumerlebnisse überblendet: nächtliche Straßenszenen, paradoxe Kreuzgang-Stille, frivol-aggressive Dichte eines Clubkonzerts oder Kubricks Odyssee im Weltraum etwa. Gebaut ist es zwischen angedeutetem HipHop und Postpunk-Gitarren, Crossover aber nicht. Das Album sprengt die Genregrenzen, arbeitet mit Drum’n’Bass-Patterns, lässt an die frühen Gorillaz denken, hat bestechende Streicherarrangements, Dub-Elemente und die dunkel-schwere Wucht von 80er-Factory-Gitarren mit ihrer eleganten Funktendenz. So erinnert Broken Homes etwa mit quietschenden Gitarren und auf den Punkt tickenden Drums an Winter Hill von den frühen A Certain Ratio. Das ist Newest Wave mit starkem Tanzflächensog. Wu-Lu singt dazu mitreißend tief.

Die Songthemen sind geläufig (zerbrechende Beziehungen, Orientierung im Leben, soziale Kämpfe), und sie sind lebenssatt: Der in einer Musikerfamilie groß Gewordene kommt aus der Sozialarbeit. South, das schon als Single im Vorjahr Furore machte, handelt von Gentrifizierung und deren Folgen. Nach einleitendem Gitarrengeschrammel wird dieser Track dann richtig schwer, mit manischer Basslinie, Halleffekten, Metall, haltlosen Schreien. Dann kommt die wunderbare Rapperin Lex Amor mit einem Flow hinzu, der Tränen in die Augen treibt. South London eben, wo Kooperation über Szenegrenzen hinweg üblich ist.

Die Abfolge suggeriert ein Konzeptalbum, doch das ist Loggerhead nicht. Wu-Lu hat schlicht großartiges Gespür für Kontraste, Widerhall und Dynamik. Seine facettenreiche Collage ist opak, schafft aber gerade so starke Sichtachsen, als sei das Album eine bergende, viel besuchte Kathedrale, die tiefem Selbstgespräch, Beten, Fluchen und Verwirrung ebenso Raum bietet wie dem Gänsemarsch von glotzenden Touristen. Leben mit dem, was ist. „I don’t want to see your mental health go to waste/when you’re trying so hard to speak of the dead“, lautet das Mantra des verhaltenen Calo Paste, das auf South folgt. Insgesamt zwölf Tracks als zugleich donnernder wie hauchzarter Stationenweg, der befreiend viel Luft zum Atmen gibt. Und immer wieder auch Lust zum Tanzen macht. Erstaunlich.

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