Ein Land der offenen Ränder
Im spätmittelalterlichen Paris waren der saufende sächsische und der buhlende böhmische Student ein „Engländer“. Das Neben-, Gegen-, Bei- und Ineinander von regionaler kultureller und politischer Vielfalt ist eine Grundsignatur der deutschen Geschichte. Der starke Nationalstaat vermag eine deutsche Identität auf Dauer nicht zu tragen, meint der Göttinger Theologe und Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann.
Fressen wie die Böhmen und Saufen wie die Deutschen.“ Ein Sprichwort wie dieses, greifbar etwa um 1500, fixierte nationale Identitäten in Gestalt eines Stereotyps: die verfressenen Böhmen, die versoffenen Deutschen, die verschlagenen Engländer, die skrupellosen Spanier, die sexuell verlotterten ‚Welschen‘ – womit bald Franzosen, bald Italiener, bald frankophone Schweizer gemeint sein konnten. Die meisten der im Spätmittelalter und in Früher Neuzeit entstandenen „Nationen“ – ein Begriff, der zunächst im Zusammenhang des Konstanzer Konzils (1414 – 1418) und an den Universitäten für die Bezeichnung der geographischen Herkunftsgebiete der Konzilsväter beziehungsweise der Studenten verwendet wurde – bildeten erst nach und nach in Stereotypen verdichtete Bilder ihrer selbst und der je anderen aus. Die Einteilung nach Nationen an den Universitäten war hingegen recht volatil und erfolgte gemäß der Himmelsrichtungen der Herkunftsregionen und nach Maßgabe der jeweiligen Menge an Studenten, unterschied sich also von Ort zu Ort. In Leipzig etwa gliederte man in eine meißnische, eine sächsische, eine bayrische und eine polnische Nation. In Paris unterschied man gleichfalls vier Nationen, nur waren es hier die englische, die normannische, die pikardische und die gallische; Nord- und Osteuropäer, auch die Deutschen, gehörten an der Seine allesamt der natio Anglica zu. Im spätmittelalterlichen Paris waren der saufende sächsische und der buhlende böhmische Student also ein ‚Engländer‘.
Identitätsmarker der deutschen Geschichte waren seit jeher, seit den Anfängen einer „deutschen Geschichte“ in der Zeit der ottonischen Kaiser, multipel und uneindeutig. Dies begann sich vor allem im Horizont der napoleonischen Herausforderungen zu ändern. Denn nun rückte die politisch formierte, wehrhafte nationalstaatliche Einheit in den Fokus des Sehnens und Handelns. In der Perspektive der langen Dauer stellt sich allerdings die flüchtige Veruneindeutigung eines deutschen Nationalbewusstseins, wie es in der Gegenwart dominiert, als Kontinuitäts-, der Nationalismus des 19. und früheren 20. Jahrhunderts hingegen als Diskontinuitätsmoment dar. Das Neben-, Gegen-, Bei- und Ineinander von regionaler kultureller und politischer Vielfalt und ‚so etwas‘ wie nationaler Identität kann als Grundsignatur der deutschen Geschichte gelten – und wohl auch als wesentliches Merkmal ihrer Unterschiedenheit von einigen anderen europäischen Nationen.
Durch die längeren Phasen seiner über tausendjährigen Geschichte hindurch hatte der Geschichtsraum Deutschland offene Ränder. Das Gebilde des seit dem späten 15. Jahrhundert sogenannten „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“ reichte nach dem Basler Kosmographen Sebastian Münster im Westen bis zur Maas, „ja auch darüber in Niderlandt / da es an Flandern reicht“, im Süden bis zu den „hohen Schneeberg“, im Osten „stoß[e] es an Ungern und Poland“ und im Norden „bleibt es am Meere“. Vielfältige „Regiment und Herrschaften“ bestimmten dieses auf Karten wie ein Flickenteppich dargestellte Gebilde „Reich“. Als einziges Identitätsmerkmal „Teutschlandts“ nannte Münster den Gebrauch „Teutscher Spraachen“.
Ohne Diversität und Vielfalt der regionalen Besonderheiten, der Mundarten, der Trink- und Ernährungsgewohnheiten, der ästhetischen Stile, der Mentalitäten und Traditionen, der politischen Strukturen lässt sich ein sinnvoller Begriff des Deutschen und ein adäquates Verständnis von deutscher Geschichte nicht bilden. In politischer Hinsicht ist dies bis heute unübersehbar: Die duale Struktur der Staatlichkeit, die noch die Bundesrepublik prägt, also die Kombination von Bundes- und Länderkompetenzen, hat als das identitätsbildende Kernelement aller politischen Systeme Deutschlands seit seinen Anfängen zu gelten. Denn im Grunde reicht es bis ins 10. Jahrhundert zurück. Die deutschen Kaiser, deren Herrscherwürde mit universalen Ansprüchen verbunden war, wurden von einem Konsortium mächtiger und berechtigter Fürsten gewählt; ihre Herrschaft basierte auf Anerkennung und Partizipation, der Konkurrenz und dem Arrangement mittelgroßer Mächte, von denen keine die anderen auf Dauer zu beherrschen und ein dynastisches Kaisertum zu etablieren vermochte, von denen aber auch keine den anderen definitiv unterlag.
Land der Pfalzen und Burgen
Die Dualität aus kaiserlich-reichischen und föderativen Momenten von Staatlichkeit hat aus Deutschland à la longue ein Land vieler Pfalzen und Burgen, zahlloser Residenzen, diverser wirtschaftlicher Innovations- und Prosperitätsinseln und einer stattlichen Zahl herausragender Museen, Theater und Bibliotheken, ungezählter Brauereien und disparater Befindlichkeiten gemacht. Noch in der Kakophonie der Coronaregeln unserer Tage schwingt nach, dass die Multiplizität der deutsche Normalfall ist. Die erdrückende Dominanz eines Teilstaates gegenüber dem Rest, das deutsche Kaiserreich unter Preußens Führung, war die eigentliche Anomalie der deutschen Geschichte. Das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ war ähnlich kriegsunwillig und -fähig gewesen, wie es die Bundesrepublik Deutschland ist. Die Bellizität des wilhelminischen Kaiserreichs und des verheerenden „Dritten Reichs“ haben diesen Charakter des „Alten Reichs“ völlig verdrängt und unsichtbar gemacht. Vor dem frühen 19. Jahrhundert hatten sich nationale Deutungsmuster vornehmlich reflexhaft, in Phasen drückender Unterlegenheit, gemeldet – im Schmalkaldischen Krieg gegen den ‚spanischen Kaiser‘ Karl V., im Dreißigjährigen Krieg gegen einige Besatzer von außen. Das frühneuzeitliche deutsche Nationalbewusstsein meldete sich als mentaler Abwehrmechanismus Bedrängter. Seit dem Kampf gegen Napoleon und den französischen Nationalismus verdichtete es sich zur toxischen Ideologie.
Die historisch tief verwurzelte Diversität freilich bleibt das vorherrschende Moment des Deutschen. Der Westen und der Osten, der Norden und der Süden – sie waren immer irgendwie anders und sind es geblieben. Je näher am Rhein, je näher zu Frankreich, zu Burgund, zu Italien, desto enger und stabiler waren die Verbindungen zur römischen Kultur. Der städtereiche Südwesten, die Region des Weinbaus, wurde seit dem hohen Mittelalter, auch in Anknüpfung an römische Siedlungen in Köln, Worms, Trier, Mainz, Straßburg oder Augsburg, zum kulturellen und ökonomischen Bewegungszentrum des Reichs. Der Weg von der Wein- zur Druckerpresse, von der Getreide- zur Papiermühle wurde in dieser Region gebahnt. Unter den ersten Universitäten im Reich (Prag 1347; Wien 1365; Erfurt 1379; Heidelberg 1385; Köln 1388) lag keine im städtearmen Norden. Im Zuge der Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts verstärkte sich der Vorsprung des Südwestens weiter (1454 Trier; 1457 Freiburg; 1459 Basel; 1476 Mainz und Tübingen). Dass auch hier Renaissance und Humanismus früher aufgenommen und tiefer angeeignet wurden, verwundert kaum. Im Norden, jenseits von Erfurt, sucht man Humanisten wie die Stecknadel im Heuhaufen.
Während sich in süddeutschen Städten kampfstarke Sodalitäten gelehrter, frecher Geister munter und weinselig zusammenrotteten, begegneten sich im Norden allenfalls versprengte, dem Bier ergebene, depressive Einzelkämpfer, die Schwierigkeiten hatten, an gedruckte Neuheiten zu gelangen. Wo im Süden und noch in Köln ganze Kompanien an Buchdruckern wahre Bibliotheken gelehrter und erbaulicher Werke produzierten, kämpften im Norden völlig isolierte Werkstätten zwei, drei Jahre in Bremen, drei, vier Jahre in Rostock, Hamburg oder Lübeck um ihr karges Überleben. Im Spiegel der longue durée folgt noch die finanzschwache Wissenschafts- und Bildungspolitik der gegenüber dem Süden weithin abgeschlagenen nördlichen Bundesländer unserer Tage einer bedrückenden Pfadabhängigkeit. Während man sich im reichsnahen Süden selbstbewusst anschickt, die Größe der eigenen Nation zu verklären, ja – dank der Erfindung des Buchdrucks – mit Frankreich und Italien gleichzuziehen, sind das Reich, der habsburgische Kaiser, der Reichstag und die osmanische Gefahr für den Norden ferne, unwirkliche Sachverhalte. Das Disparate, Zerstreute, regional Diverse und Vereinzelte, die Uneinheitlichkeit der Lebensverhältnisse, ist eine prägende Realität in Deutschland.
Infolge der Reformation wurde manches anders. Der von Wittenberg aus erschallende Appell „An den christlichen Adel deutscher Nation“ findet zwar im Süden weitaus größeres Gehör, erfasst den Norden aber dann doch auch und schließlich nachhaltig – ein eher katholischer Süden, ein eher evangelischer Norden sollten die Folge sein. Das Konfessionelle frisst sich tief in die Mentalitäten der ihm anheimgegebenen Menschen, eine Jahrhunderte währende Langzeithaft. Die Folgen reichen von der Namensgebung der Kinder (nach dem Heiligenkalender oder, protestantisch, nach der Bibel, später gerne auch nach germanischen Helden), über das Stillen der Mütter bis zur Technisierung des Haushalts, der Wahl der Ehepartner und der politischen Zugehörigkeiten. Das Divergente bleibt auch auf dem religiösen Feld prägend.
Von deutscher Identität kann heute niemand handeln, der jenen zwölf Jahren des tausendjährigen Alptraums die ihnen gebührende Aufmerksamkeit versagt. Das Wort des AfD-Politikers Gauland, das vom „Nationalsozialismus als Vogelschiss (oder war es ein Fliegenschiss?) in 1000 Jahren deutscher Geschichte“ sprach, ist aberwitzig falsch. Denn es verkennt, was wir alle, die wir Deutsche sind, und auch alle, die es werden, immerzu, beinahe täglich und häufig mehrmals am Tag erleben: In vielen politischen oder auch ethischen Debatten, in beinahe jeder Familiengeschichte, in unseren Städten, an unseren Küsten, in den Theatern, Bibliotheken, öffentlichen Gebäuden – ständig sind sie da: diese traumatischen zwölf Jahre. Geschichten von Gefallenen, durch Flucht und Vertreibung Traumatisierten, das Entschärfen und Wegräumen von Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg noch heute immerzu irgendwo in Deutschland, die wieder aufgebauten, grausam verschandelten Städte, unsere Strände mit angeschwemmtem, hochgiftigem und brandgefährlichem Bombenschrott, der sich millionentonnenweise in Nord- und Ostsee zersetzt, Theaterstücke verfemter Autoren, Museen mit Werken einstmals entarteter Künstler und mit Beständen aus mühsam rekonstruierten Provenienzen, Bibliotheken mit Kriegsverlusten und zugleich unrechtmäßig enteigneten Altbeständen, Stolpersteine, Mahnmale, Gedenktafeln, die jeder sieht, der nicht wegsieht, Erinnerungen an das unaussprechliche und doch immer wieder, immer neu anzusprechende Leiden der Opfer – der Juden zuerst, und all der anderen auch. Der Zivilisationsbruch menschheitsgeschichtlichen Ausmaßes, der mit diesen abgründigen zwölf Jahren verbunden ist, hat Deutschland und den Deutschen jenseits aller Diversität, Multiplizität und Disparität eine neue Identität aufgenötigt, die immer neu und immer wieder angeeignet werden will und muss: Nie wieder Krieg, nie wieder Hass, nie wieder Rassismus, nie wieder Antisemitismus dürfen bei uns Raum gewinnen und ungestraft in unserem Land, im Land der Deutschen, ihr Haupt erheben. Und auch für jeden, der zu uns kommt und bleiben will und einer von uns werden will, ein Deutscher, gilt dies. Nun, da die letzten Zeugen, die diese Zeit erlebt haben, allmählich gehen, ist es an uns, an den Nachgeborenen, den Kindern der Traumatisierten, dieses Vermächtnis weiterzutragen.
Diese zwölf Jahre, die alles verändert, Deutschland verheert, weite Teile der deutschen Geschichte missbraucht und entstellt haben und nach deren Ende eine neue deutsche Gesellschaft, eine demokratiefähige Bürgerschaft, entstand, haben auch die Sicht auf die deutsche Geschichte grundlegend gewandelt: Der starke Nationalstaat mag ein historisch relativ plausibles, vielleicht gar unüberwindliches Phänomen sein. Eine deutsche Identität vermag er auf Dauer nicht zu tragen und zu begründen, dazu reichen seine Wurzeln nicht tief genug. Auch „der Mannschaft“ ist dies, dem Vernehmen nach, in letzter Zeit nicht mehr recht gelungen. Hat der aus dem französischen Exil im traurigen Monat November einreisende Dichter Heinrich Heine vielleicht doch recht?
„Und als ich deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zu Mute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.“
Beheimatung in der Sprache; Identität in Verantwortung vor unserer Geschichte. So bin ich deutsch und werde es bleiben.
Thomas Kaufmann
Thomas Kaufmann ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen