Mindestens 1.400 Opfer bei den Orden

Die „Deutsche Ordensobernkonferenz“ deutet eine Befragung ihrer Mitglieder zum Thema sexueller Missbrauch
Die Befragung zum sexuellen Missbrauch in den Orden
Foto: Philipp Gessler

Bei insgesamt 100 von knapp 400 Ordensgemeinschaften in Deutschland haben sich Menschen gemeldet, die angaben, sexualisierte Gewalt durch Ordensleute erlitten zu haben. 1.412 Männer und Frauen beschuldigen insgesamt 654 Ordensmitglieder, Täter zu sein. Rund 80 Prozent der mutmaßlichen Verbrecher im Ordensgewand sind schon tot, aber 95 Beschuldigte sind noch im Orden.

Die Zahl ist deprimierend und wirkt eindeutig – aber klar ist sie nur auf dem ersten Blick: 1.412 Personen haben sich laut einer Befragung der „Deutschen Ordensobernkonferenz“ (DOK) bei insgesamt 100 Ordensgemeinschaften in Deutschland mit der Aussage gemeldet, sie seien Opfer sexueller Übergriffe geworden. Insgesamt wurden 654 Ordensmitglieder, Männer wie Frauen, beschuldigt, diese Übergriffe bis zur Vergewaltigung vorgenommen zu haben.

Ein Beispiel für die sexualisierte Gewalt hinter Klostermauern war über Jahrzehnte das Internat der Benediktinerabtei im bayerischen Ettal. Hier wurden über viele Jahre Schüler geschlagen und missbraucht. Dem Abschlussbericht eines Sonderermittlers zufolge erlitten die Kinder Prügel, Missbrauch und psychische Qualen. Etwa 100 Internatsschüler wurden sexuell missbraucht und körperlich misshandelt. Gegen 15 Benediktiner-Mönche gab es den Verdacht einer Täterschaft.

So eindeutig die Lage in Ettal ist, so sehr mangelt es jedoch an Eindeutigkeit bei der nun vorliegenden DOK-Befragung. Denn unklar ist etwa, in welchem Zeitraum diese Übergriffe vorgenommen wurden: von heute zurück bis 1945? Das würde in etwa den Zeitraum abdecken, die die so genannte MHG-Studie beleuchtete – mit ihr hatten die katholische Bischofskonferenz der Bundesrepublik 2018 den Missbrauch in ihren Bistümern untersuchen lassen. Tatsächlich aber können die Taten der Ordens-Befragung auch schon während des Zweiten Weltkriegs oder sogar davor vorgefallen sein, wie die Orden mitteilten.

Auch eine Quote von Missbrauchstätern (oder -täterinnen) lässt sich aus der Befragung kaum ermitteln. Denn es ist noch nicht einmal klar, wie viele Frauen und Männer hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten eigentlich in Orden waren. In den 1950-er Jahren gab es wohl um die 115.000 Menschen, die einem Orden angehörten – heute sind es rund 18.000 Männer und Frauen, nur noch gut ein Zehntel. Im Rahmen der MHG-Studie waren in den kirchlichen Akten der Jahre 1946 bis 2014 Hinweise auf bundesweit 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe ermittelt worden – und rund 1.670 Beschuldigte, darunter Priester und Diakone, aber auch schon Ordensleute, die im diözesanen Dienst standen. Schon die MHG-Fachleute hatten jedoch betont, dass die Dunkelziffer wahrscheinlich enorm sein werde.

Die DOK betont nun, dass die nun veröffentlichte Befragung „in keiner Weise“ mit der MHG-Studie vergleichbar sei, unter anderem weil sie eben nur auf einer schriftlichen Befragung der Ordensoberen beruhe – und nur drei Viertel der Befragten beantworteten die von der DOK versandten Fragebögen, die zudem keine Namensnennungen von Tätern oder Opfern enthalten sollten. Immerhin aber leben in diesen 75 Prozent der knapp 400 Ordensgemeinschaften fast 90 Prozent aller deutschen Ordensmitglieder. Das heißt, de facto hat man doch fast alle Ordensmitglieder zumindest indirekt erfasst.

Für eine wissenschaftlich valide Untersuchung der sexualisierten Gewalt durch Ordensmitglieder nach dem Vorbild der MHG-Studie fehle es aber schlicht an finanziellen und personellen Ressourcen, räumte die DOK ein. Das klingt plausibel, denn die Orden erhalten keine Kirchensteuern, höchstens indirekt über die Bistümer – und sie veralten, um nicht zu sagen vergreisen in der Bundesrepublik zusehends. Es gibt viele Orden, so hieß es, die beständen nur noch aus wenigen Ordensleuten. Drei Viertel der Gemeinschaften haben maximal 50 (meist sehr alte) Mitglieder. Alten-WGs sind passende Vergleiche für solche Gemeinschaften.

Trotz aller Unsicherheit gibt es in der DOK-Befragung jedoch Zahlen, die durchaus aussagekräftig sind - und die zusätzlich schockieren. So sind zwar fast 80 Prozent der beschuldigten Täter in den Orden bereits gestorben. Aber 95 der Beschuldigten leben noch und sind bis heute Mitglied der Ordensgemeinschaften. Das sind rechnerisch 0,5 Prozent aller Ordensmitglieder. 37 sind nicht mehr in der Gemeinschaft.

Bodenlos ist auch das Ergebnis, dass bei der sehr allgemein gestellten Frage, ob die Ordensleitung um Missbrauchserfahrungen unter den Schwestern und Brüdern wisse, mehr als ein Viertel der Antwortenden dies bejahten, und zwar bei 65 Frauen- und 14 Männergemeinschaften. Das legt nahe, dass Ordensmitglieder nicht nur Täter waren, sondern auch Opfer sexueller Übergriffe – ein Verbrechen und ein bröckelndes Tabu, das in den vergangenen Jahren in der katholischen Weltkirche immer wieder mal thematisiert wurde. Grob gesagt, werden Schwestern und Nonnen also auch Opfer von Ordensmännern oder Weltpriestern. Etwa 75 Prozent der deutschen Ordensmitglieder sind Frauen und 25 Prozent Männer.

Schließlich gibt es eine weitere deprimierende Aussicht für die Opfer von sexueller Gewalt durch Ordensmitglieder in Deutschland: Da die Orden, wie erwähnt, keine direkten Kirchensteuern erhalten, sind viele von ihnen bettelarm. Deshalb ist es so gut wie ausgeschlossen, dass die Orden aus eigener Kraft dazu in der Lage sind, den Opfern die Entschädigungszahlungen zu leisten, die seit circa einem Jahr in der Bischofskonferenz diskutiert werden – und schon diese Zahlungen sind an der untersten Grenze dessen, was Opfervertreter mit guten Gründen seit Jahren fordern. Würden etwa die Ordens-Opfer nur die diskutierten 20.000 Euro erhalten, die derzeit von den Bischöfen angedacht werden, müssten die Ordensgemeinschaften in den kommenden Jahren rund 30 Millionen Euro aufbringen - rechnet man damit, dass alle genannten 1.412 Personen einen solchen Betrag erhalten. Zwar haben die deutschen Bischöfe schon angekündigt, dass sie den Orden bei den Entschädigungen unter die Arme greifen werden. Wie viel diese Ankündigung aber wert ist und wie viel dann am Ende die Opfer erhalten, ist noch völlig ungewiss.

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