Die Debatte um die Jerusalemausstellung des Jüdischen Museums Berlin, der neue Konflikt um das Werk des postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe (siehe Seite 8) sowie die Auseinandersetzung um das Konstrukt eines „israelbezogenen Antisemitismus“ verunsichern derzeit die Öffentlichkeit. Ist Kritik an Maßnahmen der israelischen Regierung bereits antisemitisch? Welche vernünftige, moralisch vertretbare Meinung können sich Menschen zu eigen machen, die dem christlichen Glauben angehören und aus ihm auch politische Konsequenzen ziehen? Und das, ohne irgendeiner Form von Antijudaismus oder Antisemitismus Vorschub zu leisten?
Pfarrer Rainer Stuhlmann, Jahrgang 1945, war fünf Jahre lang – von 2011 bis 2016 – Studienleiter im internationalen ökumenischen Dorf Nes Ammim in Israel und anschließend kommissarischer evangelischer Propst in Jerusalem. Seine soeben erschienenen Erinnerungen an diese Zeit sind der Form nach ein bestens und unterhaltsam lesbares, buntes Mosaik von Impressionen, tagebuchartigen Aufzeichnungen sowie Reflexionen, die es am Ende ermöglichen, für palästinensische Rechte einzutreten, ohne auch nur in den geringsten Verdacht zu geraten, antisemitisch zu argumentieren.
Tatsächlich: Ohne Zweifel weist sogar die israelische Innenpolitik – nicht in den besetzten Gebieten, sondern in den Grenzen von 1967 – Besonderheiten auf, die mindestens merkwürdig anmuten. So berichtet Stuhlmann zum Beispiel, dass in jedem Staat der Erde neugeborene Kinder eine Geburtsurkunde erhalten – mit Ausnahme Israels, was zumal für nichtjüdische Eltern, Bürger des Staates Israel, eine schwere Belastung darstellt. Gegen diese und ähnliche Maßgaben wehren sich neuerdings sogar im weitesten Sinne linksstehende evangelikale Christen, die sich alle zwei Jahre zu einer viertägigen theologischen Konferenz in Bethlehem unter dem Titel „Christus am Grenzkontrollpunkt“ versammeln. Die Teilnahme an diesem Konferenzzyklus gibt Stuhlmann zudem die Gelegenheit, sich eben auch kritisch mit dem „Christlichen Zionismus“ auseinanderzusetzen. Auffallend an dieser „linksevangelikalen“ Konferenz war hier die Offenheit der Teilnehmer für den in diesen Kreisen eher ungewöhnlichen interreligiösen Dialog mit Juden und Muslimen. Tatsächlich – so Stuhlmanns Erfahrung – beeindruckten in diesem Zusammenhang palästinensische Christen dadurch, dass sie sich weigern, Feinde zu sein und zudem eine Juden und Araber umgreifende Gedenkkultur entwickeln.
In diesem Zusammenhang kann ein christlicher Theologe wie Stuhlmann es nicht vermeiden, sich auch mit der Judenfeindschaft Martin Luthers auseinanderzusetzen. Indes: Seine wohlmeinende Überlegung, dass Luther, wäre er auch nur einmal in einer Synagoge gewesen, keine so antijüdische Lehre entwickelt hätte, zeugt von einer gewissen Unkenntnis: Waren es doch die Mitteilungen des jüdischen Konvertiten Anton Margarita, die Luthers Antisemitismus deutlich verschärften.
Abgesehen davon überzeugen Stuhlmanns weitere Reflexionen zum Thema Antisemitismus. Das führt zur Diskussion einer Frage, bei der der Autor damals noch nicht wissen konnte, wie heftig sie in der Öffentlichkeit seit den Angriffen auf Achille Mbembe und dessen Annahme, die israelische Besatzungspolitik in der Westbank gleiche der südafrikanischen Apartheid, diskutiert werden sollte. Stuhlmann behandelt dieses heikle Thema und stellt fest, dass das Unrecht in Palästina nicht kleiner sei als seinerzeit im südlichen Afrika, „aber“, so der Autor, „im Unterschied dazu gründet es nicht auf einer rassistischen Ideologie“. Insofern sei das Label „Apartheid“ irreführend, sei doch die Situation der Palästinenser [und zwar in den besetzten Gebieten, nicht im Staat Israel, M. B.] vergleichbar auch mit anderen Unrechtssituationen, zum Beispiel mit der der Kurden innerhalb und außerhalb der Türkei, ohne dass wir deren Situation Apartheid nennen.
Bei alledem bekennt sich Stuhlmann zu der Aussage, dass die Errichtung des Staates Israel vor nunmehr mehr als siebzig Jahren ein Zeichen der Treue Gottes sei, indes: „Ich verleihe ihm [dem Staat, M.B.] keinen göttlichen Glanz.“ Damit sind nun schwierigste Fragen einer Theologie der Geschichte angesprochen, die zu erörtern Stuhlmanns Buch eine ebenso überzeugende wie bestens lesbare Einleitung darstellt.
Micha Brumlik
Micha Brumlik ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft. Er lebt in Berlin.