Engel am Steuer

Wie ein pensionierter Branddirektor nochmal zur Feuerwehr wird

Menschen, die in Berlin leben und dann sogar noch dort geboren sind, gelten nicht als besonders liebenswürdig. Um es sehr freundlich zu formulieren. Da ich selbst zwar in Berlin geboren und dort auch aufgewachsen bin, aber in einer aus Sachsen zugewanderten Blase lebte (Eltern, Grundschul- und Gymnasiallehrer, Freundschaften meiner Eltern), fiel mir das früh auf und ich wurde auch immer gern auf die etwas raubeinige Art der Einheimischen hingewiesen. Um mir klarzumachen, ein wie großer Kontrast zwischen Menschen aus Berlin und aus Dresden oder Leipzig besteht, wies mein Vater gern auf die Völkerschlacht bei Leipzig hin: Bekanntlich wechselte die sächsische Armee mitten während dieser blutigen Auseinandersetzung die Fronten. Aus diesem eher ungewöhnlichen Verhalten zog mein Vater den Schluss, Menschen aus Sachsen seien bis an die Grenze der Unehrlichkeit freundlich zu anderen, würden dann aber plötzlich ins Gegenteil fallen. Was man auch immer von solchen völkerpsychologischen Modellierungen halten mag (und ich persönlich halte nicht viel davon) – Freundlichkeit sogar bis an die Grenze der Unehrlichkeit prägt die Berliner Bevölkerung eher nicht. 

Als ich als Oberschüler einmal in einem Karstadt-Kaufhaus Fahrradflickzeug und eine Luftpumpe aus dem Regal nahm und an der Kasse diese Artikel mit den Worten „Ich würde gern diese zwei Dinge erstehen“ präsentierte, fuhr mich der Verkäufer an: „Willste wohl Professar werdn?“.  Offenbar fand er das im elterlichen Germanistenhaushalt verwendete Wort als antiquiert oder geschraubt und musste das dem, der es verwendet hatte, auch deutlich sagen. Damals wollte ich übrigens alles andere als den Beruf meines eigenen Vaters ergreifen und war ziemlich peinlich berührt vom Anfall durch den Verkäufer an der Karstadt-Kasse.

In höchster Not

Am vorvergangenen Sonntag haben sich meine Vorbehalte gegen solche schematisierten Beschreibungen des Charakters einer Menschengruppe wie den Eingeborenen der deutschen Hauptstadt allerdings nochmals deutlich verstärkt. Denn ich habe einen überaus freundlichen und hilfsbereiten Berliner kennengelernt, der mich aus einer sehr schwierigen Situation gerettet hat. Obwohl es sich um einen schon pensionierten Branddirektor der Berliner Feuerwehr handelte, spielte er in höchster Not Feuerwehr für mich. Doch der Reihe nach. Ich pflege seit vielen Jahren, wenn irgend möglich, eine halbe Stunde vor jedem Gottesdienst in der Sakristei zu sein. Letzte Absprachen, ein Blick auf die Mikrofone, ein Sakristei-Gebet der Mitwirkenden und natürlich die Gelegenheit, selbst noch etwas zur Ruhe zu kommen. Es gibt unter den vielen hunderten von Gottesdiensten, die ich bisher gefeiert habe, genau zwei, bei denen es knapp war, ich erinnere mich lebhaft und ebenfalls peinlich berührt an sie. 

Vorvergangenen Sonntag war es aber nicht knapp, sondern zum Verzweifeln. Ich begab mich vollkommen rechtzeitig zum Auto, um loszufahren – der Anlasser führte aber nur zu Klacken des Motors, nicht jedoch zu dessen Start. Die Batterie hatte offenbar den Geist aufgegeben. Ich griff zum Handy, betätigte eine App und bestellte ein Taxi. Meine App fand zunächst kein Taxi – Berlin-Marathon. Erst nach drei zeitraubenden Anfragen ein Taxi, weit entfernt in Moabit. „Dein Taxi ist in zehn Minuten bei Dir“ (meine App duzt mich, was ich etwas übergriffig finde). Freilich erneuerte sich alle Minute die Zeitangabe zehn Minuten, ohne jeden Fortschritt. Irgendwann eine sms des Fahrers: „Stau. Ich komme nicht voran“. Ich war inzwischen dem Taxi schon entgegengelaufen und überlegte kurz, zur Wohnung und damit zum Fahrrad zurückzulaufen. Man braucht von dort zum Berliner Dom am Lustgarten, in dem mein Gottesdienst stattfand, bei sehr schneller Fahrt dreißig Minuten. Und es gibt zwar an der Dom-Sakristei noch eine Dusche, aber dann wäre ich so ungefähr eine halbe Stunde nach Beginn des Gottesdienstes aufgetaucht. Panik bemächtigte sich meiner. Ich sah schon eine wartende Gemeinde in dem großen Gebäude, verzweifelte Mitwirkende, einen Organisten, der eine Fuge Bachs nach der anderen intonierte, ärgerliche Gottesdienstbesucher auf dem Weg nach Hause.

Schnell zum Einsatzort

In diesem Moment verfiel ich spontan auf den Einfall, einfach das nächste Auto, das vorbeifuhr, anzuhalten. Und wunderlicher Weise gelang mir das schon beim zweiten Auto, das die nicht viel befahrene Straße passierte, obwohl ich seit vielen Jahren kein Auto mehr angehalten hatte und eigentlich im Unterschied zu vielen meiner Mitstudierender auch nicht per Auto-Stopp verreiste. Ein älterer, freundlicher Herr öffnete die Türe. Ich sagte, vermutlich mit allen Zeichen der Panik: „Können Sie mich zum Dom mitnehmen? Ich muss da gleich Gottesdienst halten“. Der freundliche Herr wies auf den Beifahrersitz, sagte: „Das kann ich wohl machen“ und „Steigen Sie ein“. Kaum hatten wir die nächste größere Straße erreicht, verfolg der Optimismus, der mich bis dahin schon wieder ergriffen hatte. Stau. Vollkommenes Chaos. Hing das vielleicht mit dem Berlin-Marathon zusammen, der eigentlich längst zu Ende war? 

Mein Fahrer scherte aus der Spur aus, lenkte das Auto auf die leere Gegenfahrbahn und fuhr sehr zügig, aber nicht halsbrecherisch bis zu einer Brücke über den Landwehrkanal. Dort standen viele Polizeifahrzeuge und einige davon sperrten mit Blaulicht die Straße. Der Fahrer kurbelte die Scheibe der Tür herunter und sagte zu einem der Polizisten, auf mich deutend: „Wir müssen zum Dom. Er da drüben hat dort Gottesdienst zu halten“. Der Polizist war möglicherweise geborener Berliner, er antwortete nämlich: „Bombenfund. Hier ist alles weiträumig abgesperrt. Wenn sie da durch fahren, sind sie schneller im Himmel, als ihnen das im Dom je möglich wäre“. Mein Fahrer wendete und fuhr über Busspuren, Gegenfahrbahnen und Schleichwege einen weiten Umweg zum Dom – und das in einer höchst eleganten, sehr ruhigen, sportlichen Form hoher Fahrkunst. „Ich war bis vor kurzem Branddirektor der Berliner Feuerwehr“, wendete er sich an mich, „da lernt man, in bestimmten Fällen sehr schnell zu einem Einsatzort zu fahren“. 

Auf der Kirchenbank

Ich war daraufhin so ruhig geworden, dass ich sogar kurz vor Gottesdienstbeginn in der Sakristei anrufen und meine Verspätung ankündigen wie erklären konnte. Kurz gesagt: Nach rascher Fahrt um das gesperrte Stadtviertel herum erreichten wir das Humboldt Forum, wo ich ausstieg, den Schlüterhof des Gebäudes rasch durchquerte und die Stufen zum Dom hocheilte. Vorher hatte ich meinem Fahrer noch Geld angeboten, was der ganz brüsk ablehnte und sich freundlichst von mir verabschiedete. Im Vorraum zog ich meinen Talar an und schritt den großen Mittelgang der Kirche mit wehenden Rockschößen entlang, wo zu meiner großen Beruhigung die zufällig anwesende Dompredigerin das Eingangsgebet sprach. Als sie sich nach dem „Amen“ umwendete, hellte sich ihre etwas angestrengte Mine auf und wir tauschten die Plätze. Selten habe ich so erleichtert, so heiter und so fröhlich Gottesdienst gefeiert wie in der folgenden Dreiviertelstunde.

Am Ende eines Gottesdienstes im Berliner Dom durchschreitet man wieder den erwähnten langen Mittelgang, um sich am Ausgang von der Gemeinde zu verabschieden. Als ich nach Predigt, Lied, Gebet und Segen gegen Ende des Orgelnachspiels diesen Weg fast bis zum Ausgang abgeschritten war, fiel mein Blick auf einen älteren Herrn, der direkt am Ausgang auf einer der Kirchenbänke saß. Es war mein Fahrer. Und er sagte mir dann: „Als ich weiterfahren wollte, nachdem Sie ausgestiegen waren, sah ich, dass wieder alles vollkommen verstopft war. Da habe ich das Auto abgestellt und bin zu Ihnen in den Dom gekommen. Sie müssen ja auch irgendwie wieder zurückkommen“. Nachdem ich die Gemeinde verabschiedet hatte und den Talar deutlich ruhiger ausgezogen hatte als ich ihn anzog, wanderte ich mit dem pensionierten Branddirektor durch das Humboldt Forum zum Parkplatz seines Autos. Und erfuhr, dass mein Fahrer eigentlich seinen Sohn zum Bahnhof gebracht hatte, auf dem Weg nach Hause war, als ich ihn anhielt und mir den Gefallen getan hatte, mir einen ganzen Teil seines Sonntags zu schenken. „Wenn Dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei“, heißt es in der Bergpredigt (Matthäus 5,41).

An dem Sonntag, an dem mir diese Geschichte passiert ist, ging es eigentlich im Gottesdienst nach der liturgischen Ordnung um Engel. In den Lesungen, in den Liedern – Sonntag Michaelis, der Tag des Erzengels Michael und aller Engel. Ich wollte eigentlich in meiner Predigt über die allgemeine Erfahrung reden, dass einem gelegentlich andere Menschen und sogar selbst Tiere (wie „Bileams Esel“, die kluge Eselin des vollkommen mit Blindheit geschlagenen Propheten Bileam aus dem Predigttext des Sonntags: 4. Mose 22,31-35) zu Gottes Engel werden können. Wie hätte ich beim Nachdenken über Predigt und Gottesdienst am Samstag ahnen können, dass mir die Wahrheit dieses theologischen Satzes so unmittelbar im Leben direkt vor dem Gottesdienst aufgehen würde? Ein Engel Gottes in Gestalt eines pensionierten Branddirektors, der für mich die Feuerwehr spielte. Und Gott kann sich nicht nur mit einer Eselin behelfen, sondern auch mit einem waschechten Berliner Autofahrer, der einfach nur am Sonntag nach Hause will. Allerdings nur, wenn man nicht glaubt, dass ein bestimmter Menschenschlag einem unter keinen Umständen zum Engel werden kann. Auch unter Berlinerinnen und Berlinern finden sich Engel. Ich habe es vor kurzem wieder erlebt.

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