Statistisch nicht seriös

Ein kritischer Rückblick auf die ForuM-Studie und die kirchliche Kommunikation darüber
Die Studie des Forschungsverbunds „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ bei der Vorstellung in Hannover am 25. Januar.
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Die Studie des Forschungsverbunds „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ bei der Vorstellung in Hannover am 25. Januar.

Über sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche wird seit der Präsentation der ForuM-Studie im Januar anders gesprochen. Der Religionssoziologe Detlef Pollack wirft in der Oktoberausgabe von "zeitzeichen" einen kritischen Blick auf die Studie und die Kommunikation der Kirche. Seiner Ansicht nach ist die ForuM-Studie in Teilen nicht seriös. Hier seine Einschätzung vorab.

Die Veröffentlichung der ForuM-Studie und ihre öffentliche Präsentation am 25. Januar dieses Jahres hat viele in den evangelischen Kirchen entsetzt, Gemeindeglieder ebenso wie Pfarrerinnen und Pfarrer. Erschüttert waren sie, weil das Problem sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in der evangelischen Kirche offenbar ebenso groß ist wie in der katholischen Kirche. Irritiert und verärgert reagierten sie aber auch darauf, dass es den Kirchenleitungen offenbar nicht gelungen war, die Personalakten für die wissenschaftliche Auswertung umfassend zur Verfügung zu stellen, und die Zahl der Beschuldigten daher nur auf der Grundlage einer Hochrechnung ermittelt werden konnte. Es entstand der Eindruck, die evangelischen Kirchen hätten, anders als die katholische Kirche bei der MHG-Studie von 2018, nicht ausreichend kooperiert, dem Forscherteam nur schleppend zugearbeitet, ja vielleicht sogar gemauert.

Das stand in scharfem Gegensatz zu dem erklärten Willen der Kirchenrepräsentanten, für eine umfassende Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zu sorgen und dabei so viel Transparenz wie möglich herzustellen. In bewegenden Worten hatte die amtierende Ratsvorsitzende der EKD, Kirsten Fehrs, in ihren einleitenden Bemerkungen auf der Pressekonferenz am 25. Januar erklärt, die Missbrauchsfälle rührten an die Grundfesten der Kirche, die Kirche habe sich schuldig gemacht, sie wolle diese Studie, viel müsse sich ändern, die Kirche sei zu den nötigen Schritten bereit.

Überforderte Ämter

Aufgrund der bereits auf der Pressekonferenz zutage getretenen defizitären Datengrundlage war die Glaubwürdigkeit dieser Bekundungen von Schuld, Umkehrbereitschaft und Aufarbeitungswille allerdings von Vornherein entwertet. Viele sahen ihr Bild von der evangelischen Kirche als der im Vergleich zur katholischen Kirche liberaleren und transparenteren Institution in Frage gestellt und konnten ihr Kirchenbild nur schwer mit dem entstandenen Eindruck in Einklang bringen.

Den Machern der ForuM-Studie ging es nicht nur um eine möglichst exakte Erfassung der Zahl der Täter, sondern auch um eine Analyse des Tatkontexts, missbrauchsbegünstigender Kirchenstrukturen, systemischer Risikofaktoren und typischer Handlungsmechanismen. Die Studie hat unser Wissen über Kontextbedingungen sexualisierter Gewalt erweitert. Nicht nur hierarchische Machtverhältnisse spielen eine Rolle, sondern auch Unklarheiten im kirchlichen Amtsverständnis, geschwisterliche Vertrauensverhältnisse und deren Ausnutzung sowie die Verwischung zwischen rollenbedingtem Abstand und personaler Nähe. Ins Visier kam dabei auch das evangelische Pfarrhaus, das mit seinen explizit gelebten egalitären und vertrauensvollen Sozialbeziehungen der Verdeckung von ausnutzbaren Abhängigkeitsverhältnissen Vorschub leisten kann. Diese und andere Einsichten sind wertvolle Fortschritte in der Aufarbeitung von Mechanismen und Kontextbedingungen des sexualisierten Machtmissbrauchs von Kindern und Jugendlichen. Ihre Überzeugungskraft hängt aber natürlich an der Frage, inwieweit sie auf soliden empirischen Grundlagen beruhen.

In Bezug auf die Solidität der ForuM-Studie stellen sich vor allem zwei Fragen. Einmal die Frage, wie valide die vorgenommene Hochrechnung ist. Auf dieser Rechnung fußt ja die Aussage, dass das Problem der sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche ähnlich groß sei wie in der katholischen Kirche, wenn es vielleicht auch auf anders geartete Konstellationen zurückzuführen ist. Was waren die statistischen Grundlagen der angestellten Hochrechnung? Als wie seriös ist sie einzuschätzen? Zum andern stellt sich die Frage, woran es lag, dass die Personalakten im Unterschied zur MHG-Studie nicht ausgewertet und daher keine repräsentativen Aussagen über die Zahl der Beschuldigten getroffen werden konnten? Gab es eine kirchliche Verweigerung, eine Überforderung der kirchlichen Ämter, ein Missverständnis zwischen den Forschenden und der Kirchenleitung oder ein Versäumnis der Forschenden? Was war zwischen der Kirche und dem Forscherteam bezüglich der Aktendurchsicht überhaupt vereinbart worden?

Fragwürdige Hochrechnung

Die vom Forscherteam angestellte Hochrechnung beruht auf der Durchsicht der Personalakten einer einzigen Landeskirche unter den 20 Kirchen, die der EKD angehören. Sie wurde notwendig, da die im Teilprojekt E angestrebte Personalaktenanalyse in allen Landeskirchen „während der Projektlaufzeit nicht realisiert werden konnte“ (Abschlussbericht, Seite 632). Da in den Landeskirchen nur die Disziplinarakten von Pfarrpersonen systematisch durchgesehen wurden, sollten mithilfe der Analyse der Personalakten zusätzliche Fälle sexualisierter Gewalt identifiziert werden, die bei der Durchsicht der Disziplinar-, Sach- und Handakten nicht ermittelt worden waren. Aus der Differenz zwischen der Zahl der aus den Disziplinarakten bekannten Fälle und der Gesamtzahl der Fälle, die in den Personalakten gefunden wurden, lässt sich eine Quote berechnen, die das Maß der Unterschätzung der in den Disziplinarakten ermittelten Fallzahlen ausweist.

Die Forschergruppe im Teilprojekt E um den forensischen Psychiater Harald Dreßing, der auch schon an der MHG-Studie in verantwortlicher Position mitgearbeitet hatte, ermittelte im Zeitraum zwischen 1946 und 2020 in der Evangelisch-reformierten Kirche – das war die Kirche, in der die Durchsicht der Personalakten durchgeführt wurde – insgesamt 14 Fälle sexualisierter Gewalt. Von diesen waren aufgrund früherer Meldungen und der Durchsicht der Disziplinarakten sechs Fälle bereits vorher bekannt gewesen. Die Unterschätzungsquote betrug also 57,1 Prozent (Abschlussbericht, S. 640). Die in den Disziplinarakten aller Landeskirchen ermittelte Zahl beschuldigter Pfarrpersonen belief sich auf 511 Fälle. Bei Anwendung der Unterschätzungsquote auf die Zahl der beschuldigten Pfarrpersonen ergab sich also eine Gesamtzahl von 1191 Fällen. Hinzu kamen nach Auskunft des Abschlussberichts (ebenda) weitere 211 beschuldigte Pfarrpersonen, für die bei der Durchsicht der Disziplinarakten kein Erfassungsbogen angelegt worden war, von denen aber das Forscherteam Kenntnis erlangt hatte (auf welche Weise, bleibt unklar). Insgesamt kamen die Forschenden damit auf eine Gesamtzahl von 1 402 beschuldigten Pfarrpersonen.

Diese Zahl bildete die Grundlage für die in der Pressekonferenz getroffene und in der Öffentlichkeit breit verhandelte Aussage, dass der Missbrauch unter Geistlichen in der evangelischen Kirche in etwa das gleiche Ausmaß habe wie in der katholischen. Die MHG-Studie, die den Zeitraum zwischen 1946 und 2012 untersucht hat, kam auf der Basis von 38 000 ausgewerteten Personalakten auf 1 670 beschuldigte Kleriker. Nur die Zahl der Geistlichen lässt konfessionsspezifische Vergleiche zu. Die ForuM-Studie versuchte zwar – zumindest anfangs –, alle beschuldigten Personen zu erfassen, „die haupt- oder ehrenamtlich in den Landeskirchen und Diakonischen Werken tätig waren“ (632), in die MHG-Untersuchung der katholischen Kirche waren aber nur Kleriker einbezogen.

Statistisch nicht vertretbar

Ist die auf diese Weise angestellte Hochrechnung seriös? Unter statistischen Gesichtspunkten muss diese Frage mit Nein beantwortet werden. Eine Hochrechnung, die Aussagen über eine Grundgesamtheit von Zehntausenden von Personalakten treffen will, auf 14 Fälle zu gründen, ist statistisch nicht vertretbar. Wenn Harald Dreßing von einer Unterschätzungsquote von 57,1 Prozent spricht, dann verwendet er in dieser Angabe die Zahl hundert (per cent) – eine Zahl, die mit den erfassten Fällen nicht entfernt erreicht wird. Die Statistik geht davon aus, dass Hochrechnungen nur auf der Grundlage einer repräsentativen Stichprobe zulässig sind. Das ermittelte Sample ist aber nicht nur zu klein, es stammt zudem nur aus einer einzigen Landeskirche, von der man nicht weiß, wie typisch sie ist. Das Sample lässt sich also nicht mit Stichproben aus anderen Landeskirchen vergleichen und kann daher auch nicht gewichtet werden. Darüber hinaus handelt es sich um eine sehr kleine Landeskirche, die gerade einmal 0,8 Prozent der Mitglieder der in der EKD zusammengeschlossenen evangelischen Kirchen umfasst. Hinzu kommt, dass selbst die erhobenen 14 Fälle umstritten sind. Nach Auskunft der Evangelisch-reformierten Kirche fanden vier der 14 in der Statistik berücksichtigten Fälle zwar in den kirchlichen Personalakten Erwähnung. Im untersuchten Zeitraum unterstanden aber nicht mehr alle 14 der Evangelisch-reformierten Kirche, vier hatten einen anderen Dienstherren. Berücksichtigt man diese Tatsache, reduziert sich die Zahl der ermittelten Fälle von 14 auf zehn.

Das mag auf den ersten Blick eine geringe Differenz sein. Beachtet man allerdings, welch weitreichende Schlussfolgerungen aus dieser geringen Fallzahl gezogen wurden, ist der kleine Unterschied nicht trivial. Mit jedem einzelnen Fall erhöht oder verringert sich der Unterschätzungsquotient um 7,1 Prozentpunkte. Handelt es sich nur um zehn Missbrauchsfälle, verringert sich die Unterschätzungsquote von 57,1 Prozent auf 40 Prozent. Nicht 1 191, sondern 852 Pfarrpersonen wären dann zu beschuldigen. Dabei wissen wir noch nicht einmal, ob sich die Größenverhältnisse überhaupt zwischen 6 zu 14 und 6 zu 10 bewegen oder ob wir es bei den Zahlenverhältnissen in der Reformierten Kirche nicht mit einem Ausreißer zu tun haben. Auf die limitierte Aussagekraft der Hochrechnung hat Harald Dreßing sowohl im Abschlussbericht (Seite 633) als auch in Interviews selbst hingewiesen.

Doch wie ist es zu der dubiösen Hochrechnung überhaupt gekommen? In einem ersten Teilschritt des Projektes E hatten die Landeskirchen die Aufgabe, die ihnen bekannten Missbrauchsfälle aufzulisten. In einem zweiten Teilschritt trat dann die systematische Auswertung der Disziplinarakten hinzu (= 1. Unterteilschritt des zweiten Teilschritts). Von einer Gesamterhebung der Personalakten, mit der der zweite Teilschritt weitergeführt werden sollte, war nach Auskunft mehrerer Verantwortlicher in den Landeskirchenämtern nie die Rede. Die Forschergruppe wollte sehr wohl Zugriff auf die Personalakten haben (= 2. Unterteilschritt des zweiten Teilschritts), aber nicht auf alle. Der Abschlussbericht (Seite 632) spricht dann auch explizit davon, dass zur Realisierung dieses Unterteilschritts „aus den einzelnen Verwaltungsebenen der Landeskirchen Stichproben an Personalakten gezogen werden“ sollten. Eine Erfassung des gesamten Bestands an Personalakten wäre aufgrund seines Umfangs auch gar nicht möglich gewesen, da nicht nur die Akten von Pfarrpersonen, sondern auch die der kirchlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Landeskirchen und im Diakonischen Werk hätten aufgearbeitet werden müssen.

Verheerender Eindruck

Das Forscherteam machte zeitlichen Verzug bei der Bearbeitung des ersten Teilschritts und unzureichende personale Ressourcen der Landeskirchenämter dafür verantwortlich, dass die umfassende Personalaktenanalyse nicht durchgeführt werden konnte, und stellte zugleich heraus: „Auf die Notwendigkeit der Bereitstellung dieser personellen Ressourcen war freilich von den Verantwortlichen des Teilprojektes E ab Beginn des Gesamtprojektes fortlaufend hingewiesen worden“ (Seite 633). Die von mir zu Rate gezogenen Vertreter der Landeskirchenämter wiesen darauf hin, dass der von den Forschenden ausgegebene Erhebungsbogen viel zu umfangreich war, unklare Fragen enthielt, darunter auch Fragen, die darauf hindeuteten, dass die Forschenden mit den spezifischen Verhältnissen in den evangelischen Kirchen nicht vertraut waren. Oft hätten sie nicht genau sagen können, was sie an Zuarbeit wirklich benötigten. Man habe sich darauf verständigt, die Durchsicht zunächst einmal mit den Disziplinarakten zu beginnen. Eine Gesamterhebung der Personalakten sei zu keinem Zeitpunkt geplant gewesen. In der Pressekonferenz am 25. Januar bestritt Harald Dreßing, dass es bei den Kirchen eine Verweigerungshaltung gegeben habe, beklagte aber, dass die Zuarbeit nur schleppend vorangegangen sei.

Nach meinen Gesprächen in den Landeskirchen und der Lektüre des Abschlussberichts ergibt sich insgesamt das Bild, dass sich beide Seiten mehr vorgenommen hatten, als sie verwirklichen konnten, dass manche Absprachen unklar blieben und dass sich eine mangelnde Kooperationsbereitschaft der Kirchen und Landeskirchenämter kaum konstatieren lässt. Vielmehr war es offenbar das Zusammenspiel von nicht zu Ende gedachten Vereinbarungen und verwaltungstechnischer Überforderung, das dazu geführt hat, dass es nicht zu einer gründlichen Erfassung der landeskirchlichen Personalakten gekommen ist. Harald Dreßing hat für die entstandenen Defizite der Studie die Landeskirchen verantwortlich gemacht. Die Diözesen der katholischen Kirche hätten „deutlich besser mitgearbeitet und waren besser vorbereitet“. Offenbar habe die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle bei den Landeskirchen „nicht auf Top eins der Prioritätenliste“ gestanden. 

Auf der Pressekonferenz am 25. Januar verzichtete die amtierende Ratsvorsitzende der EKD Kirsten Fehrs darauf, der Kritik der Forschenden zu widersprechen. Aus den Landeskirchen ist zwar zu hören, dass die Ämter, soweit möglich, durchaus bereit gewesen wären, die Personalakten durchzusehen, doch die Argumentationslinie der evangelischen Kirchen insgesamt bleibt bis heute defensiv und zurückhaltend. Den Eindruck, der so von der kirchlichen Bereitschaft und Fähigkeit zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Öffentlichkeit entstanden ist, muss man als verheerend bezeichnen. 

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Foto: epd-bild / Brigitte Heeke

Detlef Pollack

Dr. Detlef Pollack ist Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster und Sprecher des dortigen Exzellenzclsuters "Religion und Politik".


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