Erst Tradition, dann Brauchtum

Die 54. Internationale Karl-Barth-Tagung zum Thema „Spiegelungen von Humanität – Christliche Existenz heute“
Collage Karl Barth
Collage Karl Barth á la Andy Warhol (2018)

Mitte Juli findet traditionell die Internationale Karl-Barth-Tagung statt. 2023 tagte sie umständehalber an neuer Stätte, in diesem Jahr hatte man sich in St.Chrischona schon gut eingewöhnt. Impressionen von der 54. Auflage des Treffens im Zeichen des Jahrhunderttheologen Karl Barth (1886 – 1968).

„Beim ersten Mal haben wir es ausprobiert, beim zweiten Mal ist es schon Tradition und beim dritten Mal Brauchtum!“ So lautet eine kölsche Redensart. Zumindest im Stadium der Tradition, was ihre neue Heimat angeht, scheint die Internationale Karl-Barth-Tagung in diesem Jahr angekommen zu sein, denn zum zweiten Mal hintereinander traf man sich in der Tagungsstätte St. Chrischona in Basel-Bettingen. Diese liegt etwa 20 Kilometer nordwestlich vom sagenumwobenen Leuenberg, wo die Tagungen eineinhalb Jahre nach dem Tod des Namensgebers Karl Barth im Sommer 1970 begonnen hatten. 2019, zum 50. Jubiläum, tagte man das letzte Mal hier, dann sorgte Corona für eine zweijährige Zwangspause: 2020 fiel die Tagung ganz aus, und die 51. Tagung fand erst 2021 statt – per Zoom. 2022 hatte sich die Seuche verzogen, und man hoffte auf Anknüpfung an frühere Jahre, doch kurz vor Tagungsbeginn 2022 ging das Leuenberg-Hotel in Konkurs, und so fand auch die 52. Tagung nur via Zoom und dezentralen Präsenzseminaren statt. 

Insofern war die 53. Tagung im vergangenen Jahr ein Neustart, denn sie fand erstmals seit 2019 wieder in gewohnter Weise in Präsenz statt, aber eben in Chrischona, nur wenige hundert Meter Luftlinie von der deutschen Grenze entfernt. Nun also das zweite Mal der Tagungsort Chrischona als Leuenberg-Nachfolge, und um dies gleich vorwegzunehmen: Auch die Tagung 2025 soll wieder dort stattfinden. Es sieht also so aus, als würde die Tradition zum Brauchtum werden …

Das Thema der 54.Tagung 2024 hieß „Spiegelungen von Humanität – Christliche Existenz heute“. Dabei muss man wissen, dass die Themen der Barth-Tagung nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern daraufhin gesucht und profiliert werden, dass ihnen ein bestimmter Basistext Karl Barths, meist aus dessen Kirchlicher Dogmatik (KD) zugrunde liegt. Ob und inwiefern für 2024 erst die Henne (der Abschnitt aus Barths KD) oder das Ei (die Themenformulierung) da war, weiß der Vorbereitungskreis allein. Interessant ist auf jeden Fall immer gleich zu Beginn die Vorstellung des Themas, die diesmal dem Zürcher Theologieprofessor Matthias Wüthrich oblag, der in einer knappen Viertelstunde sehr profund einführte.

Auf früheren Tagungen „kaum studiert“

Als Basistext in diesem Jahr diente die knappe Hälfte des § 18 aus dem ersten Band der Kirchlichen Dogmatik – haptisch und in Zahlen ausgedrückt aus dem zweiten Halbband, also KD I,2.[1] Dieser Text, so Matthias Wüthrich in seiner Einleitung, habe bisher „nicht allzu viel Aufmerksamkeit“ bekommen, auch auf früheren Tagungen habe man ihn „kaum studiert“. Das solle nun anders werden, denn es lohne sich, da außerordentlich viele Themen dort Erwähnung und Behandlung finden. Wüthrich nennt „Offenbarung, Liebe, Gotteslob, Gebet, Evangelium, Zeugnis, christliches Leben, Diakonie und Ethik. Demnach habe der § 18 aus KD I,2 eine hohe „theologische Sachidentität“ und das mache es nicht leicht, einen „Themenfokus“ zu finden. Man sei schließlich auf den Titel „Spiegelungen von Humanität“ gekommen, weil der Begriff der Humanität hohes Potenzial verspreche, weil sich in unserer Zeit seine hohe Problemträchtigkeit erwiesen habe. Landläufig verstehe man ja unter Humanität „Idealvorstellungen von Normen und Praktiken der Menschenfreundlichkeit“ und zwar Praktiken, die durch „Erziehung und Bildung“ komprimiert werden. Aber umstritten sei doch, worin genau die sogenannte Humanität des Menschen bestehen soll. Ja es sei ja heutzutage sehr viel schwieriger als früher, überhaupt eine tragfähige Definition von Humanität zu finden.

Rein deskriptiv ergeben sich so „erhebliche Abgrenzungsprobleme“ gegenüber Natur und Technik, denn naturwissenschaftlich verstanden, so Wüthrich, sei der Unterschied zwischen Mensch und Tier „nur gradueller und nicht kategorialer Art“. Die moderne evolutionstheoretische Verflüssigung der Grenzbestimmung zwischen Mensch und Tier spiegele sich beispielsweise populär in den „Diskursen um Tierrechte“ oder in den „Debatten um Vegetarismus oder Veganismus“ wider. 

Ähnliches gelte auch in der Verhältnisbestimmung zwischen Mensch und Technik: Dort lasse sich eine „zunehmende Verflüssigung der Grenzbestimmung“ beobachten, „Amalgamierungen“, die sich Zuge der Digitalisierung intensiviert haben. Wüthrich: „Nicht nur starren wir dauernd auf unser Handy, sondern die Technik rückt uns buchstäblich auf den Leib, sie geht uns unter die Haut: Bei medizinischen Operationen, bei Befruchtungstechniken oder neuerdings bei digitalen Hirnimplantaten.“ Deshalb verwundere es ihn nicht, dass „fiktionale Visionen des Trans- oder Posthumanismus“ begönnen, sich immer mehr in unsere Wirklichkeitsverständnisse einzunisten. „So sehr, dass wir nicht einmal mehr merken, dass die Rede von Artificial Intelligence metaphorischen Charakter hat!“. Also, so das erste Fazit des Zürcher Theologen: „Wer aus einer empirischen, deskriptiven Sicht versucht zu definieren, was der Mensch ist, gerät unweigerlich in Abgrenzungsprobleme.“ 

Essentialistische Festschreibung

Diese Probleme ließen sich umgehen, wenn man ein bestimmtes „Wesen des Menschen“ voraussetze. Wer eine solche Wesensdefinition des Menschen vornimmt, frage dann aber in einem normativen Sinne, wer oder was der Mensch ist. Zwar habe man mit einer normativen Wesensdefinition des Menschen kein Problem mehr, „den Menschen vom Affen oder von einer Motte zu unterscheiden“, doch eine solche Wesensdefinition provoziere auf jeden Fall neue und kritische Rückfragen. Zum Beispiel die, ob nicht so einer „alten Metaphysik“ gefrönt werde, die das Wesen und die Eigenschaften des Menschen „essentialistisch“ festschreibe und zu einer „doktrinalen Einhegung“ führe. Zudem müsse eine solche Wesensbestimmung des Menschen mit dem Vorwurf leben, einem „ökologisch längst angezählten Anthropozentrismus“ Vorschub zu leisten, ja, einem „Speziesismus“, der Tiere aufgrund ihres Nicht-Menschseins diskriminiere. 

Der vielleicht schärfste Vorwurf aber, so Wüthrich, betreffe die Frage der Deutehoheit: Wer könne, ja, dürfe sich anmaßen, zu definieren, was das Wesen des Menschen sei? Schließlich gebe es nicht nur einen technologischen Posthumanismus, sondern auch den philosophischen Ansatz des kritischen Posthumanismus, der sich überhaupt gegen die Voraussetzungen eines Humanismus‘ wendet und geltend macht, dass jede Sicht auf den Menschen kulturell und kontextuell überformt sei und postkoloniale und gendertheoretische Gründe gegen eine Wesensbestimmung des Menschen hervorbringe. Aus dieser Sicht erscheine so etwas wie ein androzentrischer und eurozentrischer Bemächtigungsversuch und eine Wesensdefinition des Menschen letztlich nicht diversitätstauglich.

Was also tun? Geht es auch ohne irgendeine Wesensdefinition des Menschen? Müsse man nicht zumindest für die wissenschaftliche Betrachtung, also im „heuristischen Sinne“, irgendein Wesen oder eine Natur des Menschen voraussetzen? Müsste man das nicht gerade aus ethischen Gründen tun, denn wie könne man sonst von Menschenwürde, Menschenrechten oder Humanität reden? „Nicht die Humanität als solche, sondern schon das Bild des Menschen, auf das hin von Humanität gesprochen werden kann“, sei umstritten. Wüthrichs Fazit: „Wer in diesem hohen Ton vom Menschen spricht, lädt sich etliche Schwierigkeiten auf.“

Nur Nächste und Brüder?

Was tun? Könnte Karl Barth helfen? Ausgerechnet Karl Barth, „dessen zeitbedingt patriarchaler Sprachgestus in § 18 nur männliche Nächste und Brüder kennt und so schon in der Performanz der Darstellung Diversität unterlaufe“? Wüthrich konzediert, dass es Barths Schreibstil einem heute nicht leicht mache, aber: „Was er in KD I,2 § 18 zum Humanitätsgedanken sachlich ausführt, verdient Beachtung.“ Denn Barth akzeptiere eben gerade keine Wesensdefinition des Menschen und seiner Menschlichkeit. Für Barth gebe es keine „in sich selbst begründete Humanität“. Zwar vertrete er durchaus einen „christlichen Humanitätsgedanken“, aber dieser basiere nicht auf „irgendwelchen universalen Wesenseigenschaften des Menschen oder der Menschlichkeit“, sondern er ergebe sich aus dem Begriff des Nächsten. 

Barth allerdings weigere sich, den Nächsten – beziehungsweise wie Wüthrich ihn posthum genderte: „die Nächste“ –, zu definieren. „Die Nächste“ sei nicht einfach „jeder Mensch der Menschheit“, sondern vielmehr ein „ganz spezifisches, situatives, zwischenmenschliches Ereignis“, das „je und je geschenkt“ werde. Für Barth basiere christliche Humanität auf dem „über Jesus Christus vermittelten und in ihm begründeten Ereignis des konkreten Werden des Nächsten“. Dies könne und werde immer wieder geschehen … – Alles klar? – „Eine sehr steile christologische Reformierung des Humanitätsgedanken“, gibt auch Wüthrich zu. Aber Barth sei schließlich „noch nie gut“ für „seichte Vermittlungspositionen“ gewesen, doch sie verdiene Beachtung, weil sie „ein selbstkritisches Moment in den Definitionsprozess von Humanität einbaut.“ 

Ohne Frage ein interessanter Gedanke, der neue Perspektiven eröffnen kann. Es fragt sich nur welche. Wüthrich gibt zu, dass diese neue Spur in KD I,2 § 18 durch Barth keine große systematische Vertiefung erfährt, sondern eher nur entfaltet wird. Aber es gebe da in späteren Passagen der KD, zum Beispiel in KD IV,3 mehr zu holen. Oh ja! Das ist bei der Beschäftigung bei Barth für den nun oberflächlich Kundigen immer ein großer Trost: Wenn die Dinge zunächst barthseits nicht ganz logisch scheinen und nur so im Raum stehen, trösten einen die Experten der „Barthologie“ damit, dass andernorts in der fast 10.000 Seiten umfassenden Kirchlichen Dogmatik dafür reichhaltigeAngebote zu finden sind.

Rettung in finsteren Zeiten

Das von Wüthrich einleitend Angesprochene zu vertiefen und entfalten, war vor allem Aufgabe des ersten Vortrages des Osnabrücker Systematikers Gregor Etzelmüller unter dem Titel „Humanität als Werk des Heiligen. Die Rettung der Theologie in finsteren Zeiten“. Die „finsteren Zeiten“ beziehen sich auf die Entstehungszeit von KD I,2 im Jahre 1938, wo Barth immer deutlicher vor Augen stehe, was in Deutschland im Zuge der sich immer mehr befestigenden Herrschaft der Nazis. Insofern rechnete Barth wohl damals nicht mit einem schnellen Ende dieser Finsternis, sondern mit einer „weiteren Verfinsterung dieser Welt“. 

Etzelmüller zeichnete Barths Anliegen und Grundgedanken noch einmal gründlich nach. Barth treibe angesichts der weltpolitischen Lage die Frage um: „Was sollen wir tun“. Diese Frage stelle er aber nicht einer „universalen Diskursgemeinschaft“, sondern suche die „innerkirchliche Verständigung“. Das weiß jeder, der schon mal in Barths KD gelesen hat, denn seine Sprache ist für Menschen außerhalb christlich-kirchlicher Bezüge kaum zu verstehen – heute noch mehr als früher. Jenes kirchliche „Wir“ umschreibt der Referent so: „Wir, die wir damit rechnen, Gottes Wort gehört zu haben und zu glauben“. 

Wie Barth nun diese Frage an das Tun der Christen und Kirche beantworte, sei – so Etzelmüller weiter – für Barth „charakteristisch“, denn die Antwort auf die Frage nach unserem „notwendenden Tun geben weder Gesetz noch Gebot, weder Moral noch Sitte, sondern das Evangelium.“ Dies sei ja schon im Leitsatz angelegt. Er lautet für § 18 so: Gottes Offenbarung schafft, wo sie im Heiligen geglaubt und erkannt wird, solche Menschen, die ohne Gott in Jesus Christus zu suchen nicht mehr dasein und die es nicht lassen können, zu bezeugen, daß er sie gefunden hat.“[2]). Der Leitsatz sei laut Etzelmüller so zu verstehen: „Die Wirklichkeit, nach der wir fragen, das Leben der Kinder Gottes, die christliche Existenz, das christliche Leben ist nicht von uns hervorzubringen, sondern immer schon von Gott her verwirklicht. 

Gottes Heil nicht im Wege stehen

Den Glaubenden wandele sich deshalb das Gebot ,Du sollst lieben‘ in die frohe Botschaft: ,Du wirst lieben‘, so Etzelmüller: „Lieben wird ein selbstverständliches, ein notwendiges Tun der Geliebten des hörenden Israel sein[3].“ Insofern sei „Gottes Handeln im Heiligen Geist gleichsam die Antwort auf das Problem der theologischen Ethik“. Von der Kirche und den Glauben könne hingegen „nur dies“ gefordert werden, nämlich, dass sie dem „rettenden, heilschaffenden Handeln Gottes in diese Welt“ nicht im Wege stehen. Was das nun konkret bedeute, sollen sich die Kirche und die Glaubenden von der Schrift sagen lassen. Das sei nun, so Etzelmüller, „methodische Spezifikum der Barth’schen Theologie“. 

Soweit, so bekannt. Dann lieferte der Theologe eine sorgfältige Durchdringung des Textes, deren Einzelheiten hier jetzt leider keinen Platz haben können. Am Ende stand für Etzelmüller jedenfalls die grundlegende Erkenntnis, dass für Barth die Ethik in die Dogmatik gehöre, weil das Problem der Ethik „durch Gott und sein Wirken im heiligen Geist immer schon bearbeitet und beantwortet ist“. Was das nun konkret bedeutet, dazu gebe es in der Barthforschung „zwei grundverschiedene Perspektiven“. Die einen betonten mit Barths Gotteslehre, das „streng aktualistische Gebieten Gottes“, also: „Christinnen und Christen müssten sich dafür offenhalten, je neu zu hören, was Gott jetzt und hier von uns will.“ Das allerdings – so die Kritiker – würde Barths theologische Ethik einem „vernünftigen Diskurs“ entziehen und das christliche Leben liefe so letztlich auf eine „Praxis frommer Willkür“ hinaus. Deshalb betonten die Kritiker dieses aktualistischen Ansatzes, dass man nach Barth, betrachte man seine Schöpfungsethik, sehr wohl bestimmen könne, was Gott von uns wolle, denn Gott habe „bestimmte dynamische Ordnungen aufgerichtet, wie etwa die von Mann und Frau, Eltern und Kindern, den Nahen und den Fernen.“

Das klingt nicht nur diametral entgegengesetzt, sondern ist es auch. Da hilft es nur mit Barth gegen Barth zu argumentieren. Etzelmüller jedenfalls resümiert, dass zumindest in Hinblick auf KD I,2 § 18 gelte: „Wenn Barth betont, mein Nächster ist durchaus nicht jeder meiner Mitmenschen als solcher, sondern ein „in dieser Bestimmtheit von anderen unterschiedenen Menschen situatives Ereignis, dann leuchtet hier der Aktualismus der Barth’schen Ethik auf. Anders gesagt: „Dass einer/eine mir zum/zur Nächsten wird, ist ein konkretes Ereignis, das sich nicht vorhersehen lässt, mit dem ich aber stets neu zu rechnen habe.“ Man könne eben nie vorweg wissen, wer mir als meine/n Nächste/r begegnen wird, aber: „Ich habe mich dafür offenzuhalten, dass mir ein jeder Mitmensch zum Nächsten werden kann.“ 

Diese Haltung aber, so Etzelmüller abschließend, widerspreche jeder Ordnungstheologie, und Barth kritisiert in dieser Hinsicht auch Luthers Ordnungstheologie, die schon damals patriarchal und national ausgebeutet wurde. Eine Haltung, so dämmerte dem gebannten Zuhörer, die auch heute wieder in gewissen Kreisen fröhliche Urständ feiert …

Performativ ansprechend

Leider nicht vertieft werden können hier die beiden Vorträge von Lisanne Teuchert und Ralph Kunz. Nur dies: Teuchert, ab 1. Oktober Professorin für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Dogmatik in Erlangen, vertiefte das Tagungsthema „Spiegelungen von Humanität“ in Bezug auf den Begriff des Zeugen. Dafür bezog sie sich nicht nur auf den frühen beziehungsweise früheren Barth von KD I,2 § 18, sondern eingangs auch auf den noch früheren, einschlägigen Text von Karl Barth, der den Titel Der Christ als Zeuge trägt von 1934. Ralph Kunz, seit vielen Jahren Professor für Praktische Theologie in Zürich, und in vielen Themenfeldern unterwegs (zum Beispiel auch in Sachen Pilgern), sprach in der ihm eigenen, performativ-ansprechenden Art unter dem Titel „… und Gott die Ehre geben.“ über „Gottesdienst als Lebensform“. Ob und was das genau mit Barth oder gar KD I,2 zu tun hatte, war beim ersten Hören nicht zu erlauschen, war aber vielleicht auch gar nicht intendiert …

Es sei aber ausdrücklich betont, dass sich besonders bei den Vorträgen von Gregor Etzelmüller und auch bei Lisanne Teuchert selbst dem unbefangenen – oder sagen wir es ehrlich –, wenig kundigen – Barthrezipienten ein tiefer Eindruck davon vermittelte, wie das gigantische Werk der Kirchlichen Dogmatik auch heute noch auf interessante und instruktive Denkwege zu führen vermag, und dass so die KD immer noch als „ein thätig schefftig Ding“ zu wirken vermag. Wie schön!

Logischerweise nicht viel mit Barth zu tun hatte auch der Vortrag des Professors für theologische Ethik in Chicago, William Schweiker. Er widmete sich dem Thema „Die Zukunft des christlichen Humanismus in Zeitalter von KI“[4]. Diese technologische Entwicklung war zu Barths Lebzeiten noch nicht absehbar, jedenfalls nicht über das Stadium von Science-Fiction-Literatur hinaus. 

Lasten und Widerfahrnisse

Ohne auch auf diesen Vortrag wirklich eingehen zu können, soll doch hier zumindest Schweikers Beschreibung der Notwendigkeit des Humanitätsgedankens erwähnt werden: Schweiker führte einleitend aus, er habe erlebt, wie Menschen, nicht zuletzt auch er selbst, angesichts der Zwänge und Erfordernissen endlichen menschlichen Lebens schreckliche Verluste und Schmerzen ertragen hätten, und so stelle sich die Frage, wie der Mensch diesen Lasten und Widerfahrnisse ohne Verzweiflung oder nihilistischen Skeptizismus begegnen und sie aushalten könne. Dieses „Aushalten“, wenn es denn verteidigt werden solle, könne laut Schweiker nicht in eine Ansammlung von Attributen zerlegt werden, ohne eine lebendige Kohärenz zu behaupten, die die Erklärung des Eigenwerts der Person ist. Schweiker nennt es die „Integrität des Lebens“. 

Des Weiteren führte Schweiker aus, dass sein „Ringen“ mit diesem Grundfragen immer darin bestanden habe, wie man die Behauptung eines souveränen Gottes mit der Würde und Verderbtheit der menschlichen Existenz in produktiver Spannung halten könne. Diese Möglichkeit komme für ihn, so Schweiker, in der Idee eines „christlichen Humanismus“ am besten zum Ausdruck, einer „theologischen Selbstbeschreibung“, die er, William Schweiker, im Laufe der Jahre entwickelt habe[5].

Am Ende seiner spannenden Auseinandersetzung mit der Herausforderung durch die mannigfaltigen Erscheinungsformen der künstlichen Intelligenz zieht Schweiker die Bilanz, dass wir keinesfalls allein die Vernunft, sei sie theologisch oder philosophisch verstanden, als Kennzeichen der Menschenwürde ansehen sollten. Ebenso wenig aber dürfe man die menschliche Vernunft in Lebensfragen durch eine Form von Romantik, Mystik, Fundamentalismus oder Pietismus entwerten oder ablehnen. Die Bewahrung eines Willens zum Leben sei als Kern der menschlichen Würde notwendig, allerdings müsse sich ein echter christlicher Humanismus gleichzeitig gegen eine Vorstellung vom Wert des Menschen wenden, der sich als endlose Steigerung des Willens zur Macht geriere und der anderen Lebensformen schade .

Wege, die zum Leben führen

Zum Schluss zieht Schweiker theologisch eine Summe: Das neue Leben in Christus könne den Willen zum Leben vom Streben nach Macht und Kontrolle befreien und in eine realistische Bejahung des Lebens in sich selbst und in anderen führen, was sich in einem „Bündel von Ideen über Gerechtigkeit, Frieden, Liebe und Freiheit“ ausdrücke. In biblischer Sprache gesagt, heiße dies: auf den Wegen zu wandeln, die zum Leben führen. Letztendlich sei der christliche Humanismus in diesem Zeitalter der KI oder in jedem Zeitalter ein zutiefst wahrer Humanismus, weil er die Wahrheit bezeuge, dass die menschliche Existenz nicht selbsterklärend ist, sondern offen für einen religiösen Lebenshorizont, in dem wir leben, uns bewegen und unser Sein haben. Letztlich nur aus diesem Grunde, könne der menschliche Geist den Formen von Unfreiheit und Erniedrigung widerstehen, die dieses und jedes Zeitalter heimsuchten[6]. Eine eindrucksvolle Rede über Humanität, die gleichzeitig ein berührendes Zeugnis für und ein Appell an die Humanität aus christlichem Geist darstellte.

Vieles geschieht auf den Internationalen Karl-Barth-Tagungen im Verborgenen, nämlich inden Arbeitsgruppen. Die 54. Tagung, die zweite auf St. Chrischona, bot derer sieben, auf die sich die fast neunzig Teilnehmenden (davon fast ein Drittel Studierende) verteilten. Man verbrachte dort in den drei Tagen an die zehn Stunden. Ein wertvoller Denk- und Diskussionsraum! Wie genau es war, kann jede/r nur aus seiner Gruppe berichten, aber diese Arbeitsgruppen machen ohne Frage einen weiteren großen Reiz der Tagung aus – zumindest, wenn die Leitenden nicht zu akut der Logorrhoe verfallen sind und zudem ein Klima herrscht, in dem alles (wirklich alles) von allen gefragt werden. Dies schien aber auch dieses Jahr wieder weitgehend gewährleistet zu sein.

Der Autor dieser Zeilen nahm, als notorisch liberaler Randsiedler, an einer Gruppe teil, die der Basler Systematiker Georg Pfleiderer anbot. Sie trug den Titel: „Ich bin selber auch liberal!“ Neuprotestantismus – senkrecht von oben. Ein anderer Blick auf Barths Theologie.“ In gewagter Zusammenfassung sei gestattet, folgende Summe daraus zu ziehen, nämlich dass sich der Ertrag aus Karl Barths Theologie letztlich auch nicht groß von Adolf von Harnacks „Wesen des Christentums“ unterscheide, mit dem dieser im Jahr 1900 für Aufsehen sorgte. Jedenfalls wurde dieser Text samt anderen in der Gruppe in diesem Zusammenhang betrachtet. 

Nicht diskutiert wurde hingegen ein Text Pfleiderers, den er aber zur Vorbereitung vorab zugänglich gemacht hatte. Diesem konnte man eine treffliche Definition der theologische Denkweise Karl Barths entnehmen, deren eigentümliche „Dialektik“, dies wurde in der Gruppe überzeugend herausgearbeitet, bereits deutlich vor dem Ersten Weltkrieg begann. Die besagte Definition lautet: 

Ab 1915 verschiebt Barth (…) die erkenntnistheoretische Basis seiner performativ-ethischen Geschichtstheologie in das autopoetische Arkanum des Offenbarungsbegriffs. Damit wird die bewusstseinstheoretische Basis der Theologie zugunsten einer neuen Form spekulativ-dialektischer Theologie preisgegeben, in der „Gotteserkenntnis“ nicht mehr philosophisch-metatheoretisch abgesichert, sondern gänzlich aus der Selbstbewegung der Gottesgeschichte als Grund- und Gegengeschichte aller Geschichte in der Geschichte abgeleitet werden soll.[7]

Das sollte, ja muss jede/r Barthferne wissen, der sich auf eine Karl-Barth-Tagung einlässt. Nichtsdestotrotz machte es wieder viel Freude, jenes „autopoetische Arkanum“ des Kirchenvaters des 20.Jahrhunderts zu betrachten und sich davon und von vielen Beifängen auf dem Wege zum theologischen Denken und Arbeiten verleiten zu lassen. Also gilt: Bis nächstes Jahr in St. Chrischona! Dann ist es Brauchtum – auch dort. 

(Die 55. Internationale Karl-Barth-Tagung findet vom 14. bis 17. Juli 2025 im Tagungszentrum St.Chrischona-Bettingen bei Basel/Schweiz statt. Genauere Information bald hier)

 


 

[1] KD I,2 – Seiten 397-408; 415-432 und 475-482 des Paragrafen, der insgesamt die Seiten 397 bis 504 von KD I,2 umfasst.

[2] Auch nach mehrmaligem Lesen meine ich, dass dort eigentlich ein (Hilfs-)Verb fehlt, eigentlich müsste es doch so heißen: Gottes Offenbarung schafft, wo sie im Heiligen geglaubt und erkannt wird, solche Menschen, die ohne Gott in Jesus Christus zu suchen nicht mehr dasein (wollen oder können?, RM) und die es nicht lassen können, zu bezeugen, daß er sie gefunden hat.“ Ist es ein Auslassungsfehler oder hat es ein tieferen Sinn. Sicherlich gibt es dazu in der Barthforschung Diskussionen und/oder Lösungsvorschläge. Hinweise gerne an mawick@zeitzeichen.net (Die zwölf Bände von KD I,1 bis KD IV,3 enthalten 73 Paragraphen, im letzten, unvollendeten Teilband KD IV,4 verzichtet Barth auf die Paragrapheneinteilung oder hat sie nicht mehr gesetzt.

 

[3] „Israel“ scheint Karl Barth hier völlig unbefangen synonym mit „Kirche“ zu verwenden. Da wäre man heute sicherlich deutlich zurückhaltender …

[4] Im Original: „The Future of Christian Humanism in an Age of AI“

[5] Die entsprechende Passage aus Schweikers Originalmanuskript lautet so: Further, I have witnessed human beings withstand horrible loss and pain in the face of the necessities of finite human life. How does one face, withstand, those necessities without despair or nihilistic skepticism? This "withstanding," if it can be defended, cannot be analyzed away into a collection of attributes without a living coherence that is the declaration of the intrinsic worth of the person, of what I have called the integrity of life.The struggle for me, then, has always been how to hold in productive tension an affirmation of a sovereign God with the dignity and depravity of human existence. This possibility, I believe, is well expressed in the idea of a Christian humanism, a theological selfdescription that I have developed over some year. 

 

[6]Die entsprechende Passage aus Schweikers Originalmanuskript lautet so: The insight is that we do not need to take reason alone--theologically or philosophically--as the hallmark of human dignity. Likewise, one need not reject human reason in the orientation of life through some form of romanticism, mysticism, fundamentalism, or pietism. A shift to the will to life is needed as the core of human dignity, and, yet, I have argued that a genuine Christian humanism resists an account of human worth as the endless increase in the will to power or the quest to quell the will to life in concern for other forms of life. New life in Christ transforms the will to life as freedom from the drive of power and control into a realistic affirmation of life, in oneself and others, expressed in a cluster of ideas about justice, peace, love, and freedom. It is, to use biblical language, to walk in the ways that lead to life. In the end, Christian humanism in this age of AI or any age is a true humanism because it testifies to the truth that human existence is not self-explanatory but open to a horizon of life within which we live, move, and have our being. Precisely because that is the case, the human spirit withstands every form of bondage and degradation that stalks this and every age. 

 

[7] Georg Pfleiderer, Artikel „Liberale Phase“ in Barth-Handbuch, Tübingen 2016, S. 184-189.

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