Jenseits als Kraft des Diesseits

Philipp Otto Runges visionärer Zyklus „Die Zeiten“ und der Aufbruch in die Romantik
Der Künstler Philipp Otto Runge (1777–1810), Selbstbildnis um 1802.
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Der Künstler Philipp Otto Runge (1777–1810), Selbstbildnis um 1802.

Um 1800 formiert sich in allen Kunstgattungen eine neue Epoche: die Romantik. Durch das Jubiläums­jahr für Caspar David Friedrich ist sie zur Zeit im öffentlichen Fokus. Der Kulturbeauftragte der EKD, Johann Hinrich Claussen, wirft einen vertieften Blick auf Philipp Otto Runge, den früh verstorbenen Zeitgenossen Caspar David Friedrichs.

In Hamburg hatte sich das jungromantische Genie Philipp Otto Runge – nach Stationen in Kopenhagen und Dresden sowie einer Reise zu Goethe nach Weimar – 1804 niedergelassen. In dieser Kunst-Provinz sollten seine wenigen großen Gemälde entstehen, bevor er 1810 mit dreiunddreißig Jahren an Tuberkulose verstarb. Sein früher Tod verhinderte, dass er sein ambitioniertes Hauptwerk ausführte. Im Rückblick allerdings gewinnt das Unfertige hier einen geheimen Hintersinn und erweist sich ein weiteres Mal als Wesensmerkmal einer Kunst, die ihr Unendlichkeitsstreben in Skizzen und Fragmenten auslebte.

Man muss sich auch Runge als ästhetisch-religiösen Reformator vorstellen, der das Alte beenden wollte, um etwas Neues zu schaffen. Die konzeptionellen Instrumente hierfür hatte er sich unter dem Einfluss unterschiedlicher Personen geschaffen: sein theologischer Lehrer, der Begründer einer poetischen Schöpfungsfrömmigkeit Ludwig Gotthard Kosegarten, idealistische Philosophen wie Heinrich Steffens oder Friedrich Schelling, der Mystiker Jakob Böhme, Johann Wolfgang von Goethe und dessen Farbenlehre sowie natürlich romantische Weggefährten wie Novalis, Ludwig Tieck und Caspar David Friedrich.

In dieser Denkatmosphäre entwarf Runge seine eigene Vision einer ästhetischen Transformation des Christentums. Deren Ziel war es „1.) Unsere Ahnung von Gott; 2.) die Empfindung unsrer selbst im Zusammenhange mit dem Ganzen, und aus diesen beiden: 3.) die Religion und die Kunst, das ist, unsre höchsten Empfindungen durch Worte, Töne oder Bilder auszudrücken.“

Das Medium hierfür konnte für Runge nicht mehr die alte christliche Bilderwelt sein. Traditionelle Motive mochten zwar mit hineinspielen, vor allem aber sollte eine innovative Darstellung der natürlichen Welt eine radikal freie Entfaltung ermöglichen: „Wir stehen am Abgrund aller Religionen, die aus der Katholischen entsprungen, die Abstractionen gehen zugrunde, alles ist luftiger und leichter als das bisherige, es drängt sich alles zur Landschaft, sucht etwas Bestimmtes in dieser Unbestimmtheit und weiß nicht, wie anfangen? … Ist denn in dieser neuen Kunst – der Landschafterei, wenn man so will – nicht auch ein höchster Punct zu erreichen? Der vielleicht noch schöner wird wie die vorigen? … Wenn die Sonne sinkt und wenn der Mond die Wolken vergoldet, will ich die fliehenden Geister festhalten.“

Das Lebensprojekt, in dem Runge seine Idee einer neuen christlichen Kunst verwirklichen wollte, war der Zyklus der „Zeiten“. Beim ersten Blick fällt bei diesen Zeichnungen des Morgens, des Mittags, des Abends und der Nacht vor allem das Ornamentale auf – Arabesken, die zunächst lieblich und harmlos wirken. Doch bei näherem Hinsehen ist eines der komplexesten Bildvorhaben der Romantik zu erkennen, allerdings fast nur in – wenn auch fein ausgearbeiteten – Skizzen. Lediglich den Morgen konnte Runge in einer Version als Ölgemälde vollenden.

Seelengehalt in Bildern

Runge wollte mit seinem Zeiten-Zyklus „alles“ zur Anschauung bringen, wobei ihn zwei Hauptbegriffe des Christentums leiteten: Liebe und Glaube. Für Runge war der wahre Künstler derjenige, der „durch Bild, Ton oder Wort“ auszudrücken versteht, „was seine innigste Überzeugung von Gottes Liebe ist“. Da sich Gott, Glaube und Liebe aber nicht an sich darstellen lassen und die traditionellen Mittel untauglich erschienen, versuchte Runge, ihre seelischen Gehalte in Bildern des Natürlichen zu fassen. In diesen sollte das Jenseits als die Kraft des Diesseits anschaulich werden. Jetzt endlich wurde die Landschaft zum eigentlichen Thema der christlichen Kunst. Runge imaginierte eine kosmische Spiritualität, in der die Innerlichkeit des Glaubens mit der Körperlichkeit des Menschen und der Natürlichkeit der ihn umgebenden Welt verschmolz.

„Das Höchste, was die Kunst hervorbringt“, so glaubte er, „ist das Bild Gottes.“ Dieses lässt sich aber nur als Gleichnis gestalten, und es ist letztlich nur in der eigenen Innerlichkeit selbst zu finden: „Das in uns zu suchen und zu bilden, das ist das, was wir das Ideal dieser Kunst nennen müssen, diese Blüthe der Menschheit, dies Land, das wir das Paradies nennen, das inwendig in uns liegt.“ Was Runge mit seinen vier Zeiten-Bildern vorschwebte, hat er so zusammengefasst: „Der Morgen ist die gränzenlose Erleuchtung des Universums. Der Tag ist die gränzenlose Gestaltung der Creatur, die das Universum füllt. Der Abend ist die gränzenlose Vernichtung der Existenz in den Ursprung des Universums. Die Nacht ist die gränzenlose Tiefe der Erkenntniß von der unvertilgten Existenz in Gott. Diese sind die vier Dimensionen des geschaffenen Geistes.“

Im vierten Bild kann man erkennen, wie Runge sich die Nacht als kosmischen, existenziellen, künstlerischen und religiösen Raum vorstellte (siehe Seite 46). Diese Zeichnung ist ein Bild im Bild. Deshalb ist es sinnvoll, mit dem Rahmen zu beginnen. Sein Quellpunkt ist unten in der Mitte ein heiliges Feuer aus brennenden Ölzweigen. Links und rechts davon sitzen zwei Eulen, die aber nicht furchterregend wirken – nicht zuletzt, weil ihre Augen wie Blumen aussehen. Über ihnen ranken sich aus einer geflügelten Urne drei verflochtene Blütenstängel empor: Rose, Kornblume, Totenblume. Oben schweben jeweils links und rechts drei Kinder mit Schmetterlingsflügeln – ins ewige Leben verwandelte Seelen – und beten die Quelle des göttlichen Lichts an, den durch die Taube symbolisierten Heiligen Geist.

In der unteren Mitte des so gerahmten Bildes – so Runge in einer erklärenden Beschreibung – ist „eine aufgeschlossene Sonnenblume“ zu sehen. „Auf den Seiten beugen sich Feuerlilien heraus. Über der Sonnenblume gibt’s so kleine Sternblumen, die wie gelbe Funken davonfliegen; über diesen drey Feuerblumen; und zwei Büsche Nachtviolen beschließen als der Rauch zu beiden Seiten diese Flammen.“ In den unteren Ecken sind Lauben zu sehen, vor denen Kinder schlafen. Die Blumen hinter ihnen, teils seltsam geformt, sind ihre Träume. Aus der Mitte steigt eine Mohnpflanze empor, über der eine Personifikation der Nacht thront. Links und rechts von ihr sitzen über den Mohnblüten Kinder, die jeweils mit Händen und Armen geheimnisvolle Gesten ausführen. Jedes trägt über seinem Kopf einen Stern.

An diesem Bild verblüfft, dass es eine frei wuchernde Fantasie vorstellt, dies aber in einer überaus strengen Komposition und hochakkuraten Zeichenweise. Doch für Runge waren Imagination und Geometrie, das Visionäre und das Präzise keine Gegensätze. Um das absolute Empfinden einer All-Harmonie sichtbar zu machen, konnte es für ihn offensichtlich gar nicht genug Ordnung geben. Das verband ihn mit Caspar David Friedrich, der ebenfalls seine grenzüberschreitenden Sehnsuchtsbilder fast hyperrealistisch-penibel ausführte. Umso größer ist das Rätsel, was er mit diesem Bild sagen wollte. Die Vielzahl der tiefsymbolischen, aber nicht leicht zu entziffernden Details verwirrt. Was hat welche Pflanze zu bedeuten? Wer ist die „Frau Nacht“? Wie verhalten sich christliche und antik-pagane Anspielungen zueinander? Warum ist es ausgerechnet der Heilige Geist, der die Nacht regiert? Vor allem durchzieht eine unauflösliche Doppeldeutigkeit das Blatt: Ist die Nacht das Reich des Schlafes oder des Todes? Auf Letzteres deutet diese briefliche Äußerung hin: „Wie ich vorgestern an der Nacht arbeitete, trat mir’s wie das Jüngste Gericht so lebendig vor den Sinn, daß mir vor meinem eigenen Gefühl zu grauen anfing.“ Andererseits ist auch dieses Blatt von Imaginationen des Kindlichen bestimmt; fast könnte man sie als Süßlichkeiten missverstehen. Aber Kinder waren für Runge die eigentlichen Träger seiner Utopie: „Kinder müssen wir werden, wenn wir das Beste erreichen wollen.“ Nur wer eine zweite Naivität zu erreichen vermag, entkommt den Entfremdungen des erwachsenen Lebens in der beginnenden Moderne. Doch das kann nur im Glauben geschehen – und in der Kunst.

Mehr im Sinn

So anspruchsvoll Runges „Nacht“ in ihrer Komposition und so reichhaltig sie in ihren Bedeutungsmöglichkeiten ist, so bedauert man natürlich, dass Entscheidendes fehlt, vor allem die Farben. Dabei hatte er noch deutlich mehr im Sinn als vier große Ölgemälde, die nebeneinander an einer Wand hängen. Einen eigenen Raum wollte er für sie schaffen, in dem Musik zu hören sein sollte und Lyrik. Seinen Freund Tieck wollte er dafür gewinnen, Verse zu ihnen zu dichten. So hätte ein erstes Gesamtkunstwerk entstehen können. Es sollte nicht sein. Doch stellt sich nun auch eine Rückfrage. Denn die zugegebenermaßen mühsame Bildbeschreibung verweist ungewollt auf etwas, das sich als ein Grundproblem vieler avantgardistischer Kunstwerke erweisen sollte: die mangelnde Verständlichkeit beziehungsweise die Erklärungsbedürftigkeit. Indem Runge sich aus besten Gründen von tradierten, vertrauten Bildmustern löste und überraschende Erfindungen an ihre Stelle setzte, verloren seine Bilder in dem Maße an Gemeinschaftlichkeit, wie sie an Individualität gewannen. Tieck bemerkte: „So ist in diesen Blättern manches, was Runge wohl nur allein versteht.“ Eine Anhängergemeinde kann sich so nicht bilden – nicht nur für ein christliches Bild liegt darin ein Defizit. Zwar ist es Runge in anderen Werken – besonders seinen berühmten Kinderporträts – sehr wohl gelungen, so zu malen, dass sehr viele Menschen etwas mit ihnen anfangen können.

Doch mit seinem Zeiten-Zyklus hatte schon Goethe erhebliche Mühe. Er schrieb an Runge: „Wir glauben Ihre sinnvollen Bilder nicht eben ganz zu verstehen, aber wir verweilen gern dabey und vertiefen uns öfter in Ihre geheimnißvolle anmuthige Welt.“ Deutlicher wurde er in einem Gespräch ein Jahr nach Runges Tod: „Da sehen Sie einmal, was das für Zeug ist! Zum Rasendwerden! Schön und toll zugleich … “ Es sei wie mit der Musik von Beethoven. „Das will alles umfassen und verliert sich darüber immer in’s Elementarische, doch noch mit unendlichen Schönheiten im einzelnen. Was für Teufelszeug! Was hat da der Kerl für Anmuth und Herrlichkeit hervorgebracht! Aber der arme Teufel hat’s auch nicht ausgehalten; er ist schon hin. Es ist nicht anders möglich: wer so auf der Kippe steht, muß sterben, oder verrückt werden; da ist keine Gnade!“

Ist das ein zu strenges Urteil aus dem Munde eines Klassizisten, dem das Romantische grundsätzlich verdächtig war? Angemessener erscheinen die Verse, die Clemens Brentano 1810 für den toten Runge verfasste: „Die Zeit, sie ist die Nacht, in der wir weinen, / der Vorzeit Traum, er ist’s, den wir verloren. / Der Nachwelt, wird der Tag ihr einst erscheinen, / lebt unser Freund auf ewig. – Mir ist er geboren.“ 

 

Der Text ist (mit marginalen Änderungen des Autors) ein Vorabdruck aus dem Buch „Gottes Bilder – Eine Geschichte der christlichen Kunst“, das am 21. August im Verlag C. H. Beck, München erscheint. Es hat 318 Seiten mit 72 überwiegend farbigen Abbildungen und kostet 32 Euro.

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Foto: EKDKultur/Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.


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