Gott und die Großstadt

Was uns der Filmklassiker Metropolis über den Glauben in einer Metropole erzählt
Ein Filmplakat für Fritz Langs Film Metropolis von Boris Bilinsky (1900–1948).
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Ein Filmplakat für Fritz Langs Film Metropolis von Boris Bilinsky (1900–1948).

Ist es leichter, auf dem Land, mitten in Gottes Schöpfung, zu glauben? Hindern die Ablenkungen einer großen Stadt daran, religiöse oder spirituelle Tiefe zu finden? Davon ist Thomas Brose nicht überzeugt. Vielmehr lade gerade eine Großstadt wie Berlin dazu ein, Neues zu entdecken, meint Brose, der Fundamentaltheologe und Religionsphilosoph in der deutschen Hauptstadt ist.

Die ganze Welt ist eine Stadt: Metropolis. Wie ein Magnet hat der Film die geistigen Energien einer ganzen Epoche an sich gezogen, miteinander reagieren lassen und dabei die Vision einer gigantischen Welt-Stadt hervorgebracht. Flugzeuge kreisen über der City, Autos durchfluten die Straßen, Hochbahnen schlängeln sich über gewagte Brückenkonstruktionen. Alles ist auf Effizienz ausgerichtet. Die Skyline der Wolkenkraterstadt wird längst nicht mehr – wie in traditionellen Metropolen – von Kirchen und Kathedralen geprägt (zum Beispiel der Kölner Dom, die Dresdner Frauenkirche oder der Hamburger Michel), sondern sie wird von einem gigantischen Monument überragt: dem futuristischen „Neuen Turm Babel“. Von dort oben lenkt der Potentat Joh Fredersen das Geschick der Fünfzig-Millionen-Stadt.

Mit der teuersten Produktion der Stummfilmära haben Fritz Lang und Thea von Harbou im Jahr 1927 Kinogeschichte geschrieben. Nie zuvor wurde „die Großstadt“ atemberaubender verfilmt. Visionär nimmt Metropolis damit etwas von dem vorweg, was erst in unserer Gegenwart Wirklichkeit geworden ist: die Urbanisierung des Globus mit riesigen Agglomerationen und Megalopolen. „Zur Jahresmitte 2023“, so erklärt das Statistische Bundesamt, „lebten weltweit geschätzt 4,6 der insgesamt etwas mehr als 8 Milliarden Menschen in Städten. Das entsprach 57 Prozent der Weltbevölkerung. Im Jahr 2030 wird dieser Anteil voraussichtlich bei 60 Prozent liegen.“

Ben Wilson hat vor zwei Jahren die Urbanisierung der Erde in seiner Weltgeschichte der Menschheit in den Städten so ins Bild gesetzt: „Anhand der Lichtspuren, die nachts die Erdoberfläche sprenkeln, lässt sich das Ausmaß unserer aktuellen Urbanisierung vom Weltraum aus erkennen.“ Der Historiker fährt fort, wir würden Zeugen „eines sechstausend Jahre währenden Prozesses, der uns bis zum Ende dieses Jahrhunderts zu einer urbanisierten Spezies gemacht haben wird“. Nüchterner beschrieben Hartmut Häußermann und Walter Siebel vor 20 Jahren diese Entwicklung in ihrer Stadtsoziologie. Sie gehen – in Anschluss an Georg Simmel, aber über Karl Marx und Max Weber hinaus – davon aus, dass die Großstadt den Homo sapiens in entscheidender Weise verändert. „Tatsächlich liegt der Gedanke nahe, dass die soziale Fabrik Großstadt die gesellschaftliche Entwicklung entscheidend prägt.“

Um vom ganzen Menschen zu sprechen, kann ein Kunstwerk wie Metropolis von Gott nicht schweigen. Fritz Lang lädt zu einem Großexperiment ein. Der Filmpionier schafft – ähnlich wie Alfred Döblin in „Berlin Alexanderplatz“ – ein Theatrum humanum, eine Versuchsanordnung, um dem Problem von Glauben und Großstadt auf den Grund zu gehen: Ist es Menschen, die in einer völlig urbanen Welt leben, überhaupt möglich, den anthropologisch-ethischen Herausforderungen einer Megacity gerecht zu werden? Mit der Signatur des Neuen Turms von Babel, Symbol einer bis zum Himmel reichenden technizistisch-ökonomistischen Selbstüberschätzung (vergleiche: Gen 11,5), stellt der Regisseur entscheidende Fragen und gibt Antworten: Menschenopfer, Ausbeutung und moderne Sklaverei bedrohen den gewaltigen zivilisatorischen Turmbau des Gemeinwesens von innen her. Wo Gegenkräfte fehlen – hier kommt solidarisch gelebter Glaube ins Spiel –, tendiert eine „babylonische Gesellschaft“ dazu, von ihren eigenen Abgründen verschlungen zu werden.

Im Film spielt die charismatische Maria (Brigitte Helm) eine tragende Rolle. Selbst aus der sozial deklassierten Unterstadt stammend, verkündet sie ein christlich-solidarisches Menschenbild. In einer Katakomben-Predigt tief unter Metropolis ruft diese gütige Prophetin die versklavten Arbeiter zu Umkehr und Versöhnung auf. Sie stärkt die Hoffnung auf ein gerechteres Gemeinwesen – eine Neue Stadt. Maria gewinnt dafür die Unterstützung von Fredersen, dem Sohn des Autokraten Joh. Freder distanziert sich gemäß der Typologie der alttestamentlichen Mose-Geschichte scharf von seinem Vater und will seine versklavten „Brüder“ in die Freiheit führen. Aber der alte „Pharao“ überwacht alles. 
Als der sonst so kühle Fredersen die entrückten Blicke der Arbeiter sieht, „die Maria blind zu folgen scheinen,“ bemerkt Kristina Jaspers 2010 in einem Aufsatz über den Film, „lässt er sich zu der Kraftgeste einer geballten Faust hinreißen und prophezeit: ‚Ich will Zwietracht säen zwischen ihnen und ihr.‘“

Das Beispiel Berlin

Großstadt = Gottlosigkeit? Sind die Metropolen mit ihren speziellen Lebens-Rhythmen überhaupt dafür geeignet, Glauben weiterzugeben? Brauchen Menschen vielleicht die Nähe zur Natur, die Erfahrung von Wachstum und Ernte, von Geburt und Tod, um sich selbst als transzendente, den Alltag übersteigende Wesen zu begreifen?

Wie kein anderer Ort, so meine These, bietet gerade auch die Großstadt Raum für die komplementäre Vermittlung von Trans­zendenz und Immanenz, von geistiger Idealität und erfahrbarer Realität. Was die urbane Entwicklung betrifft, konstatiert zum Beispiel die Theologin Gerdi Nützel: „Nach dem Ersten Weltkrieg blieb der christliche Glaube für die Mehrzahl der Menschen weiterhin ihre religiöse Überzeugung. Zugleich führten die revolutionären politischen Veränderungen … zu einer deutlichen inner- und interreligiösen Pluralisierung, wie sie sich an der Entwicklung der Raumsituation und der Bauaktivitäten der verschiedenen Religionsgemeinschaften im Berlin der Zwanziger Jahre zeigt“, nachzulesen in einem gerade erschienen Aufsatz in Evangelische Theologie 84 [2024].

Nach der Reichsgründung von 1871 erfasste die beschauliche Preußenresidenz ein atemberaubender Wachstumsschub: Im Jahr 1880 betrug die Zahl ihrer Einwohner schon über eine Million. Nachdem 1920 umliegende Ortschaften zur Gemeinde von Groß-Berlin zusammengefasst worden waren, lebten in der Reichshauptstadt über vier Millionen Menschen. Innerhalb weniger Jahrzehnte avancierte der Newcomer damit nach New York und London zur drittgrößten Metropole. Als die große Stadt noch dabei war, sich ihre Weltstadtsporen zu verdienen, veröffentlichte Georg Simmel 1903 seinen klassisch gewordenen Grundlagentext Die Großstädte und das Geistesleben, veröffentlicht im Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden, 1903. Mit dem Aufsatz eröffnete der phänomenologisch arbeitende Philosoph ein neues Forschungsfeld; er wurde zum Begründer der Stadtsoziologie. Auf ihn berufen sich heute Sozialwissenschaftlerinnen und Stadtentwickler. Weil die urbane Existenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts plötzlich einer ungeheuren Steigerung des „Nervenlebens“ ausgesetzt sei, diagnostiziert der Forscher die Herausbildung einer spezifisch großstädtischen Individualität, „die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“.

Wie kaum eine andere Metropole gilt Berlin als „Stadt ohne Gott“. Längst gibt es hier ein weltanschauliches Zusammenspiel von „östlichem“ Atheismus und „westlicher“ Christentums-Kritik, aber parallel läuft zugleich eine Pluralisierung der religiösen Szene: Neue Gebetshäuser, Tempel und Moscheen prägen die Silhouette der Stadt. Darum trifft es bloß bedingt zu, dass unter dem einstmals geteilten Himmel der Hauptstadt – bei einem hohen Anteil von Konfessionslosen – eine stetig steigende Gottlosigkeit auszumachen sei. Zwar bleibt Berlin ein Zentrum weltanschaulicher Auseinandersetzung, aber seine religionsproduktive Vitalität ist nicht zu unterschätzen: Hier leben unter 3,65 Millionen Einwohnern 541 000 evangelische sowie 318 000 katholische Christen, wie das Statistische Jahrbuch 2020 festgehalten hat.

In der Stadt gibt es etwa 10 Prozent Muslime sowie rund 10 000 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde. Zu beachten sind außerdem zahlreiche neue buddhistische und hinduistische Gemeinschaften, Bahá’í- und Sikh sowie freikirchliche und orthodoxe Gemeinden – bei etwa 60 Prozent Konfessionslosen.

In der Metropole Berlin ist seit dem Mauerfall vor 35 Jahren ein besonderer Topos entstanden, nämlich nicht an der Ewigkeit bestehender Verhältnisse zu verzweifeln, sondern auf die Möglichkeit von Veränderung zu vertrauen. Was das theologisch heißt? Gerade die Großstadt Berlin lädt, um mit dem Systematischen Theologen Alex Stock zu sprechen, dazu ein, Neues zu entdecken: „Fundorte, Plätze des Redens von Gott, an denen man noch keine Argumente findet, aber elementare Einblicke, Einsichten, Gesichtspunkte für den Prozeß der theo-logia“, wie Stock in seinem Buch Poetische Dogmatik. Gotteslehre 2004 notiert hat. 

Seele der Stadt

Wie der Film zeigt, ist die Zukunft von Metropolis von innen her extrem gefährdet. Durch den Einsatz einer falschen, roboterartigen Maria treibt Fredersen die Riesenstadt an den Rand der Apokalypse. Mit letzter Kraft gelingt es Freder und der echten Maria schließlich, in einer dramatischen Rettungsaktion alle in der Unterstadt eingeschlossenen Kinder zu befreien – die Zukunft der Zivilisation entgeht knapp der Vernichtung. Gegen die ihm viel zu versöhnlich erscheinende Schluss-
einstellung des Filmes hat der Publizist Siegfried Kracauer heftig polemisiert. Am Ende kommt es nämlich nicht zur Revolution, sondern Fredersen und der Vorarbeiter Grot (Heinrich George) reichen sich die Hände. Schlimmer noch, so Kracauer, gebe Maria „dieser symbolischen Allianz von Arbeit und Kapital ihren Segen.“ Das schrieb Kracauer 1947 in seinem Werk Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films.

In Zeiten, in denen der Begriff „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ Konjunktur erlebt und das „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ an elf Standorten nach interdisziplinären Problemlösungen sucht, ist es keineswegs naiv, nicht auf historische Notwendigkeit und Klassenkampf, sondern auf Dialog und Solidarität zu setzen. Dass Religion dabei eine zentrale Rolle spielen kann, darauf macht der Theologe Dietrich Werner im Anschluss an ein Interview von Heiner Koch aufmerksam. Der Berliner Erzbischof hatte darin formuliert: „Berlin braucht mehr Religion.“ Werner stimmt dieser These zu. Für ihn sind Religionen „Sachwalter des Humanen im Kontext der Stadt“, so Werner vor sechs Jahren im Materialdienst 12/2018 der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, EZW, über Religion in Berlin.

Den gleichen Sachverhalt drückt der im 2. Jahrhundert entstandene Diognetbrief aus, nachzulesen in einem Aufsatz zum Brief in: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, 2005. In dem heißt es: Die Christen lebten „als schwache Menschen, richten sich jedoch nicht nach menschlichem Willen“. Dann folgt das hoffnungsvolle, aber auch Verantwortung nach sich ziehende Fazit: „Um es kurz zu sagen: Was die Seele im Körper ist, das sind die Christen in der Welt.“

Ein Wort, das inzwischen – fast 2000 Jahre später – alle meint, denen ich im „Berliner Forum der Religionen“ begegne. 

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