2024 ist für den geistlichen Gesang ein besonderes Jubiläum, denn vor genau 500 Jahren erschien der „Achtliederdruck“, ein Heft mit acht Liedern der frühen Wittenberger Reformationsbewegung, darunter vier von Martin Luther. Dieser Druck gilt als Prototyp des Evangelischen Gesangbuchs. Die Theologin Brinja Bauer hat zu diesem Thema geforscht und skizziert, was auf diesem Feld bislang geschah.
Ich habe den Plan, nach dem Beispiel der Propheten und der alten Väter der Kirche deutsche Psalmen für das Volk zu schaffen, das heißt, geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibt.“ So schrieb Martin Luther in einem Brief zum Jahreswechsel 1523/24 an Georg Spalatin, den Sekretär des Kurfürsten Friedrich der Weise. Ausführlich erläuterte Luther, welche Psalmen er für geeignet erachtet und welche sprachlichen Anforderungen er an die deutschen Lieder stellt: keine höfischen Ausdrücke, sondern einfache und gebräuchliche, reine und passende Worte.
Dieser Brief kann als Geburtsstunde des evangelischen Gesangbuchs bezeichnet werden, denn auch wenn weder Spalatin noch andere Personen, die Luther in seinem Brief für geeignete Lieddichter hielt, Texte an ihn schickten, so erschienen 1524 bereits die ersten Drucke mit deutschen evangelischen Liedern. Zunächst waren es Einblattdrucke, doch ein Nürnberger Drucker begann noch im selben Jahr, die neuen Lieder zu sammeln und sie im so genannten „Achtliederbuch“ zu veröffentlichen. Dieser Druck gilt als das erste evangelische Gesangbuch. An vorderster Stelle findet sich Luthers Lied „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“, das seither in nahezu jedem evangelischen Gesangbuch zu finden ist: gegenwärtig Nr. 341 im „Evangelischen Gesangbuch“.
In christlichen Gemeinden wurde von Anfang an gesungen. Sie sangen die Psalmen ihrer Heiligen Schrift, des Alten Testaments und bald auch neue Gesänge, zu deren Vortrag im Neuen Testament aufgefordert wird. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden zahlreiche liturgische Gesänge, Hymnen und Lieder für den gottesdienstlichen Gebrauch, von Bischöfen und Priestern, Mönchen und Nonnen und auch von so genannten Laien. Doch erst im Zuge der Reformation im 16. Jahrhundert wurde der Gesang zu einem unverzichtbaren Teil der Verkündigung im Gottesdienst und des christlichen Lebens. Bereits 1501 publizierten die Böhmischen Brüder, die sich auf den Vorreformator Johannes Hus († 1415) berufen, einen Gesangbuchdruck in tschechischer Sprache, der als das älteste „evangelische“ Gesangbuch in Europa bezeichnet werden kann. Eine erste deutschsprachige Ausgabe des Gesangbuchs der Böhmischen Brüder erschien 1531 und entfaltete bald eine breite Wirkung in der frühen Liederkultur der Reformation.
Generell wuchs die Gesangbuchproduktion erstaunlich rasch; vor allem in den großen Städten der Reformation, wie Leipzig, Nürnberg, Wittenberg und Straßburg, entstand seit der Mitte der 1520er-Jahre eine Fülle an evangelischen Gesangbüchern. Parallel dazu entwickelte sich mit dem Genfer Psalter seit 1562 eine eigene Liedtradition des reformierten Protestantismus.
Meist auswendig gesungen
Diese ersten Gesangbücher waren Unternehmen von Buchdruckern und -händlern und stark an einzelne Städte und Territorien gebunden. Erst im Laufe der Jahrhunderte übernahmen Obrigkeiten und geistliche Größen die Verantwortung für Gesangbücher und seit dem 19. Jahrhundert eigens für diesen Zweck gebildete Kommissionen. Die Mehrzahl der frühen Gesangbücher enthielt nur die Texte, doch es gab von Anfang an auch mit ein- oder mehrstimmigen Notensätzen gestaltete Ausgaben. Diese wurden vornehmlich in den Schulen zur musikalischen (und theologischen) Bildung eingesetzt. Durch die schulische Bildung und kirchliche Sozialisation und nicht zuletzt die geringe Anzahl derer, die des Lesens mächtig waren, konnten die Gläubigen damals die Lieder im Gottesdienst auswendig mitsingen. Gesangbücher besaßen lange Zeit nur die wohlhabenden Familien; erst für das ausgehende 18. Jahrhundert kann davon ausgegangen werden, dass auch gemeine Gläubige Gesangbücher erwarben.
Während des 17. Jahrhunderts wuchs die Gesangbuchlandschaft zu einem wilden Garten heran. Es entstanden unüberschaubare Mengen neuer Lieder und Gesangbücher mit teilweise floralen Titeln wie „Geistlicher Lieder Blumenstraus“ (Nürnberg 1685), „Himmlisches Lust-Gärtlein“ (Grimma/Greifswald 1661) oder „Wohlriechende Lebensfrüchte“ (Königsberg 1648). Krieg, Pest und Hungersnöte bestimmten das Leben der meisten Menschen – aus diesen Leiden heraus entstanden zum einen Lieder, die von einer trotzigen Fröhlichkeit zeugen (das wohl bekannteste: „Geh’ aus, mein Herz, und suche Freud“ von Paul Gerhardt), und zum anderen Gesänge, die die permanente Gegenwart des Todes besangen (zum Beispiel „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ von Michael Franck). In den Gesangbüchern spiegelten sich die Lebensumstände in neuen Rubriken wie „In theurer Zeit und Hungersnoth“ oder „Von Pestilentz und Sterbens-Läufften“ wider. Statt allgemeiner Glaubensinhalte fanden vermehrt individuelle Empfindungen und Fragen nach dem eigenen Leben und Sterben Einzug in die Lieder. Gesangbücher dienten zunehmend dazu, sich von anderen Konfessionen und Obrigkeiten abzugrenzen und Einheit unter den hiesigen Gläubigen zu stiften. Zudem wurden immer mehr private Gesangbücher für besondere Zielgruppen publiziert, wie das „Geistliche[s] Weiber-Aqua-Vit“, in dem Gräfin Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt Lieder für die Sorgen und Nöte von Christinnen in ihrer Zeit publizierte.
Im 18. Jahrhundert dominierten zwei gegensätzliche Geistesströmungen die Theologie und somit auch die Gesangbuchlandschaft: der Pietismus und die Aufklärung. Bereits im 17. Jahrhundert entstanden zahlreiche Gesangbücher aus pietistischen Gemeinden heraus, die ihrer Frömmigkeit in bunten Sprachbildern und kunstvollen Melodien Ausdruck verliehen. Im folgenden Jahrhundert etablierten sich ihre Gesangbücher zu festen überregionalen Größen. Das wohl bekannteste Beispiel ist die „Praxis Pietatis Melica“, die unter diesem Titel erstmals 1647 erschien und bis 1736 insgesamt 45 mal neu aufgelegt wurde. Vor allem durch die erstmalige Veröffentlichung der Lieder Paul Gerhardts – teilweise mit den bis heute gebräuchlichen Melodien – nahm dieses Gesangbuch in besonderem Maße Einfluss auf die Gesangbuchproduktion im gesamten deutschsprachigen Raum. Auch andere Gesangbücher aus dem pietistischen Umfeld wie das „Freylinghausen’sche“ (Halle 1704) und das „Porst’sche“ (Berlin 1709), beide vom Volksmund nach ihren Herausgebern benannt, erwiesen sich als besonders langlebig und einflussreich.
Als veraltet wahrgenommen
Auf der anderen Seite gab es im 18. Jahrhundert die Tendenz, Gesangbücher im Sinne der aufgeklärten Theologie zu konzipieren. Statt wie bisher wurden die Lieder nicht mehr nach dem Kirchenjahr oder dem Aufbau des Katechismus angeordnet, sondern in Glaubens- und Sittenlieder unterteilt. Die Sprache der altbekannten Lieder wurde als veraltet wahrgenommen und die verwendeten Metaphern als zu kompliziert. Die theologischen Inhalte sollten leicht verständlich und die Melodien eingängig sein, um nicht von den Glaubensaussagen abzulenken. Zu diesem Zweck wurden altbekannte Lieder rigoros umgedichtet; so wurde aus Gerhardts Passionslied „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ kurzerhand „Ein Lamm geht hin und trägt die Schuld“. Die Theologie sollte ernst genommen und seriös gelehrt werden – Verniedlichungen und naive Glaubensvorstellungen mussten weichen. Bekannte Dichter wie Christian Fürchtegott Gellert und Friedrich Gottlieb Klopstock schufen Lieder, die den christlichen Glauben gemessen am Maßstab der Vernunft in schlichter und dennoch ästhetischer Form vermittelten und bis heute im Gesangbuch zu finden sind (zum Beispiel Gellerts Weihnachtslied „Dies ist der Tag, den Gott gemacht“).
Im Laufe des 19. Jahrhunderts kehrten die Lieder und Gesangbücher wieder zu ihren Wurzeln zurück. Die ausufernde Gesangbuchlandschaft wurde zur „Gesangbuchsnoth“, erklärt, in der die Lieder bis zur Unkenntlichkeit verändert und Gesangbücher immer umfangreicher wurden. Der Wunsch nach Einfachheit und Einheitlichkeit wuchs. Vermehrt kehrte man zu den ursprünglichen Texten Luthers und Gerhardts zurück und entfernte einen Großteil der im vorigen Jahrhundert so beliebten „Lehrlieder“. Stattdessen hielten Lieder von Matthias Claudius und Erweckungstheologen wie Philipp Spitta Einzug, die bewusst an alte Sprachmotive und Formen anknüpften. 1852 tagte in Eisenach die erste „Deutsche Evangelische Kirchenkonferenz“, die zwei Jahre später ein „Deutsches Evangelisches Kirchengesangbuch in 150 Kernliedern“ herausgab, das fortan überregional einen gemeinsam Liedbestand sichern sollte. Doch bis zur tatsächlichen Einführung eines evangelischen Einheitsgesangbuch sollte es noch etliche Jahrzehnte dauern.
Erst das 20. Jahrhundert förderte – auf Umwegen – ein gemeinsames Gesangbuch und schließlich das Evangelische Gesangbuch (EG) in seiner gegenwärtigen Form zutage. 1915 erschien nach langen Vorbereitungen ein „Deutsches Evangelisches Gesangbuch für die Schutzgebiete und das Ausland“ (DEG) mit insgesamt 342 Liedern, dessen Einführung sich aufgrund des Krieges in einzelnen Landeskirchen stark verzögerte. In den Jahren des Nationalsozialismus entstanden neue vermeintlich evangelische Gesangbücher, die jedoch nicht christliche Werte, sondern vornehmlich perverse völkische Ideale vermittelten. Kurz nach Kriegsende wurden erste Stimmen laut, die ein völlig neues Gesangbuch forderten, das die Irrungen und Fehlentscheidungen der vergangenen Jahre vergessen machen sollte.
Konsequente Streichung
Aus diesem Bestreben heraus erschien 1950 das Evangelische Kirchengesangbuch (EKG), das sich an dem Liedbestand des DEG orientierte und 394 Lieder, vor allem aus dem 16. und 17. Jahrhundert, enthielt. Durch die konsequente Streichung „geistlicher Volkslieder“ fehlten den Gläubigen jedoch zunehmend liebgewonnene Lieder wie „Tochter Zion“, „So nimm denn meine Hände“ oder „Wir pflügen und wir streuen“. So wurde 1979 mit den Arbeiten am neuen „Evangelischen Gesangbuch“ (EG) begonnen, das am 1. Advent 1993 eingeführt wurde. Neben den 535 Liedern im Stammteil wurden zahlreiche Gebete, Gottesdienstordnungen, Katechismen, Bekenntnisse, Psalmen sowie liederkundliche Erläuterungen aufgenommen. Daneben erschien in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe an (regionalen) Beiheften, durch die neue Lieder mit frischen Melodien und zeitgemäßer Sprache in den Gemeinden Verbreitung finden. Besondere Beliebtheit erfahren die Liederbücher für die Kirchentage sowie die 2017 ins Leben gerufenen „Monatslieder“ des Fachbereichs Popularmusik der Nordkirche.
Seit der Reformation sind schätzungsweise 100 000 geistliche Lieder in deutscher Sprache entstanden, von denen etwa 30 000 Einzug in die Gesangbücher der vergangenen Jahrhunderte hielten. Im Gesangbucharchiv in Mainz befinden sich derzeit circa 7 800 vornehmlich deutschsprachige Gesangbücher vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart – und dies sind gewiss nicht alle. Durch die vielen privaten Sammlungen und verschiedenen Auflagen einzelner Gesangbücher ist die genaue Erfassung aller (deutschsprachigen) Gesangbücher schier unmöglich.
Wenn in den nächsten Jahren ein neues Gesangbuch erscheint (siehe auch Seite 40), wird der fünfhundertjährigen Gesangbuchgeschichte ein weiteres Kapitel hinzugefügt werden. Dabei scheint der Balanceakt zwischen Tradition und Innovation schwieriger denn je. Erstmals wird das Digitale eine elementare Rolle spielen; einige sehen darin die große Chance, Fülle und Vielfalt geistlicher Lieder weiter zu vergrößern, andere fürchten um ihre vertrauten Melodien und das haptische Erlebnis des Blätterns in bekannten Texten.
Eine weitere Schwierigkeit besteht in der zunehmenden kirchlichen Entfremdung. Mit der Säkularisierung, gesellschaftlichem Pluralismus und dem Wunsch nach Individualität geht ein Schwund von kollektivem Musikgut und bekannter Melodien einher. Pastorinnen und Kantoren stehen heute vor der immer größer werdenden Herausforderung, die Gemeinden zum gemeinschaftlichen fröhlichen Singen zu bringen.
Durch Irrungen und Wirrungen getragen
Keine leichte Aufgabe also. Doch das neue Gesangbuch kann sich den Herausforderungen mutig stellen und muss sie nicht fürchten! Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass das evangelische Gesangbuch seit jeher beständig im Wandel ist. Unter der Sonne nichts Neues und zugleich viel Neuartiges. Die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Altbewährtem und Neuschöpfungen stand schon immer im Raum und musste stets aufs Neue beantwortet werden. Durch alle Irrungen und Wirrungen der Jahrhunderte haben die Texte und Melodien das evangelische Gesangbuch getragen – darauf kann auch weiterhin vertraut werden. Denn was von Anbeginn an einte, trennte und doch wieder zusammenführte, war der eigentliche Zweck und Gewinn des Gesangbuches: Gott mit Herz und Mund zu singen.
Die Autorin hat zusammen mit Johannes Schilling das Buch „Singet dem Herrn ein neues Lied – 500 Jahre Evangelisches Gesangbuch“ geschrieben, das bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erschienen ist. Siehe auch https://zeitzeichen.net/node/10952