Keine Urkunden nachträglich fälschen

Warum das geplante Selbstbestimmungsgesetz sich selbst im Weg steht
Selbstbestimmung
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Das geplante Selbstbestimmungs­gesetz soll die häufige Tragik im Leben transgeschlechtlicher, intergeschlechtlicher und nichtbinärer Menschen lindern. Gleichzeitig schafft es gesellschaftliche und soziale Probleme. Eine Lösung könnte darin liegen, die Funktion des standesamtlichen Eintrags so festzulegen, dass er das soziale Geschlecht dokumentiert. Das hieße im Fall der betroffenen Gruppen nicht ein Geschlecht, sondern die geschlechtliche Selbstzuordnung zu benennen. So lautet der Vorschlag von Johannes Fischer, eremitierter Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich.

Das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechts­eintrag spaltet die Geister. Die Beiträge zum Thema „Transsexualität“ in zeitzeichen 1/2024 vermitteln davon einen lebhaften Eindruck. Von seinen Befürworter:innen wird das Gesetz euphorisch begrüßt, von seinen Kritiker:innen ebenso entschieden abgelehnt. Medial wird die Debatte talkshowmäßig inszeniert, um das Publikum zu unterhalten. Nachdenkliche Zwischentöne sind kaum zu hören. Seit August letzten Jahres liegt das Gesetz im Entwurf vor. Es sieht vor, dass Menschen, deren Geschlechtsidentität von ihrem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister abweicht, den Geschlechts­eintrag im Sinne ihrer Geschlechts­identität ändern können. Geplant ist, dass das Gesetz zum 1. November 2024 in Kraft tritt. Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten.

Die Kritik richtet sich einerseits gegen die praktischen Implikationen des Gesetzes. So wenden sich Feministinnen dagegen, dass Männer mit Transidentität Frauen­toiletten und Frauenhäuser sollen aufsuchen können. Sie entzündet sich andererseits an der konkreten Ausgestaltung des Gesetzes. So sollen Personen, die beim Standesamt ihren Namen und Geschlechtseintrag ändern, verlangen können, dass amtliche Einträge mit dem früheren Namen und Geschlecht gelöscht und frühere Urkunden und Zeugnisse mit dem geänderten Namen und Geschlecht neu ausgestellt werden. Eine gegen ihren Willen erfolgende Offenbarung ihres früheren Geschlechts soll bei Strafandrohung verboten werden. Aus Sicht der Kritiker*innen gibt sich damit der Staat dazu her, in Bezug auf die Identität und Biografie von Menschen alternative Fakten zu schaffen, und zwar mittels gesetzlich angeordneter „nachträglicher Urkundenfälschung“, wie Christoph Türcke 2022 in der FAZ es ausgedrückt hat.

Die Befürworter:innen des geplanten Gesetzes berufen sich demgegenüber vor allem auf Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes, das heißt auf das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfasst dieses Recht auch die geschlechtliche Identität. Einem transgeschlechtlichen Menschen, der sich dem weiblichen Geschlecht zuordnet, ist es in der Tat nicht zuzumuten, sich beim Standesamt als Mann eintragen zu müssen. Begreift man es als die Intention des geplanten Gesetzes, transgeschlechtlichen, intergeschlechtlichen und nichtbinären Menschen die gesellschaftliche Anerkennung und Achtung ihrer geschlechtlichen Identität zu ermöglichen, dann verdient das Gesetz in der Tat jede Unterstützung. Gegner:innen und Befürworter:innen des geplanten Gesetzes haben also jeweils starke Gründe auf ihrer Seite. Wie lässt sich der Widerstreit der Argumente auflösen?

Der Schlüssel hierzu liegt beim Verständnis der Funktion des standesamtlichen Geschlechtseintrags. In früheren Zeiten, als es nur die binäre Geschlechtszuordnung männlich/weiblich gegeben hat, war im Blick auf den standesamtlichen Eintrag die Unterscheidung zwischen natürlichem und sozialem Geschlecht ohne Belang. Mit dem natürlichen Geschlecht wurden auch die sozialen Weichen gestellt, nämlich ob von einem Menschen als einem „er“ oder einer „sie“ zu sprechen war. Weil das soziale Geschlecht durch das natürliche vorgegeben war, trug man beim Standesamt Letzteres ein. Doch eigentlich ging es bei diesem Eintrag immer um das soziale Geschlecht, also um jenes, das ein Mensch im Verhältnis zu seinen Mitmenschen hat und für das diese ihm Anerkennung und Achtung schulden, sei es als Junge oder Mädchen, Mann oder Frau.

Mit der Erweiterung der Möglichkeiten der Geschlechtszugehörigkeit um Transgeschlechtlichkeit, Intergeschlechtlichkeit und Nichtbinarität ist diese Kongruenz von natürlichem und sozialem Geschlecht bei vielen Menschen nicht mehr gegeben. Das bedeutet im Blick auf den standesamtlichen Eintrag, dass dessen Funktion nun definitiv so festgelegt werden muss, dass er nicht das natürliche, sondern das soziale Geschlecht dokumentiert, also dasjenige Geschlecht, das ein Mensch im Verhältnis zu seinen Mitmenschen hat. Denn darauf kommt es gesellschaftlich an.

Im Falle eines transgeschlechtlichen Menschen, der sich dem weiblichen Geschlecht zuordnet, besteht das soziale Geschlecht in dieser seiner Selbstzuordnung, das heißt in seiner geschlechtlichen Identität. Denn von seinen Mitmenschen wird er nicht als Frau erlebt, sondern als jemand, der sich selbst als Frau erlebt beziehungsweise dem weiblichen Geschlecht zuordnet. Für diese Selbstzuordnung ist ihm die Anerkennung und Achtung seiner Mitmenschen geschuldet in dem Sinne, dass sie ihn nicht auf sein natürliches Geschlecht festgelegen, sondern ihm so begegnen, wie es seinem Selbstverständnis entspricht, und Dritten gegenüber in der weiblichen Form von ihm sprechen.

So begriffen, umfasst das soziale Geschlecht, für das Menschen die Anerkennung und Achtung ihrer Mitmenschen geschuldet ist, einerseits die Kategorien Mann und Frau und andererseits die Kategorien von Menschen mit transgeschlechtlicher, intergeschlechtlicher und nichtbinärer Geschlechtsidentität. Standesamtlich eingetragen werden muss nach dem Gesagten bei den drei letzten Gruppen nicht ein Geschlecht, sondern die geschlechtliche Selbstzuordnung. Denn in ihr besteht bei diesen Gruppen das soziale Geschlecht, also das Geschlecht, das sie für ihre Mitmenschen haben und für das ihnen Anerkennung und Achtung geschuldet ist. 

Alte Vorstellung

Wie gesagt sieht demgegenüber der vorliegende Gesetzentwurf vor, dass die genannten Gruppen sich beim Standesamt mit einem Geschlecht sollen eintragen können statt mit ihrer geschlechtlichen Selbstzuordnung. Damit erweist sich dieser Entwurf der alten, aus den Zeiten binärer Geschlechtszuordnung stammenden Vorstellung verhaftet, wonach der standesamtliche Eintrag das Geschlecht dokumentiert, das eine Person hat, und wonach mit diesem Eintrag dieses Geschlecht sozial in Kraft gesetzt wird. Er ist so gesehen nicht fortschrittlich, sondern rückwärts orientiert.

Es ist diese Auffassung des standesamtlichen Eintrags, aus der die Probleme resultieren, an denen sich die Kritik an dem Gesetzentwurf entzündet. Ist doch völlig unklar, von welcher Art das eingetragene Geschlecht ist. Bei einem transgeschlechtlich orientierten Mann, der sich als Frau einträgt, ist dies weder sein biologisches noch sein soziales Geschlecht. Denn sozial, das heißt im Erleben seiner Mitmenschen, ist er keine Frau, sondern jemand, der sich selbst dem weiblichen Geschlecht zuordnet. 

Erleben der Mitmenschen

Auch die Vorstellung, mit dem standesamtlichen Eintrag würde das eingetragene Geschlecht sozial in Kraft gesetzt, geht ersichtlich fehl. Denn mit dem Eintrag ändert sich nichts im Erleben der Mitmenschen. Die Vorstellung, man könne sein soziales Geschlecht nach Maßgabe der eigenen geschlechtlichen Selbstzuordnung verändern, verkennt die Eigenart der sozialen Welt. Sie ist eine mit anderen geteilte Welt, über die nicht einseitig verfügt werden kann. So ist vorauszusehen, dass es im Fall des Inkrafttretens des geplanten Gesetzes permanent zu Widersprüchen kommt zwischen dem eingetragenen Geschlecht und dem sozialen Geschlecht. Das wird in dem vorliegenden Gesetzentwurf antizipiert. Deshalb die vorgesehenen Verheimlichungsmaßnahmen sowie das strafbewehrte Offenbarungsverbot im Blick auf eine anders geartete frühere Geschlechtszugehörigkeit. Weil dies völlig zu Recht Kritik auf sich zieht, steht der Gesetzentwurf sich damit selbst im Weg, nämlich im Hinblick auf die richtige und wichtige Intention, transgeschlechtlichen, intergeschlechtlichen und nichtbinären Menschen die rechtsverbindliche Anerkennung und Achtung ihrer Geschlechtsidentität zu sichern.

Wird demgegenüber die Funktion des standesamtlichen Eintrags so begriffen und festgelegt, dass er das soziale Geschlecht dokumentiert, im Fall der genannten Gruppen also nicht ein Geschlecht, sondern die geschlechtliche Selbstzuordnung, dann sind alle Probleme vom Tisch, an denen sich die Kritik entzündet. Es muss keine Verheimlichung von irgendetwas geben und keine Fälschung von Urkunden. Gewiss wird es immer Menschen geben, die ihr eigentliches soziales Geschlecht zum Beispiel in Gestalt einer Transgeschlechtlichkeit zu verheimlichen suchen. Doch gibt es keinen Grund, warum der Staat sich an dieser Verheimlichung beteiligen sollte.

Die vordergründige Attraktivität des vorliegenden Gesetzentwurfs liegt in einem uneinlösbaren Versprechen, das mit ihm gegeben wird, nämlich die Tragik aus der Welt zu schaffen, die darin liegt, dass ein Mensch sich selbst in einem anderen Geschlecht erlebt als dem, in welchem ihn seine Mitmenschen erleben. Mit dem standesamtlichen Eintrag dieses Geschlechts scheint er nun auch sozial das zu sein, als was er sich erlebt, also dieses Geschlecht auch für seine Mitmenschen zu haben. Das ist die Erwartung, die mit dem geplanten Gesetz geweckt wird. Doch ist dies, wie gesagt, eine Illusion, da der standesamtliche Eintrag am Erleben der Mitmenschen nichts ändert. 

Unter Vorbehalt

Was aber die vorgesehenen Verheimlichungsmaßnahmen betrifft, so muss man bedenken, dass auch dann, wenn aufgrund einer perfekten Geschlechtsumwandlung eine transgeschlechtliche Person von ihren Mitmenschen als attraktive Frau erlebt wird, diese Verheimlichung zwischen ihr und ihren Mitmenschen steht. Dabei ist es gar nicht ausgemacht, dass sie für diese weniger attraktiv wäre, wenn sie von ihrer Trans-Existenz wüssten. Jedenfalls ist hier mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu rechnen, die heute noch gar nicht abzusehen sind.

Wie gesagt, berufen sich die Befürworter des Gesetzes auf das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz GG. Doch darf nicht übersehen werden, dass dieses Recht unter dem Vorbehalt steht, dass durch seine Inanspruchnahme nicht die Rechte anderer verletzt werden dürfen. Genau dies geschieht, wenn der vorliegende Gesetzentwurf verbindliches Recht wird. Eine Person, die dem weiblichen Geschlecht zugehört, hat ein Recht darauf, als Frau anerkannt und geachtet zu werden. Das gilt auch für eine transgeschlechtliche Person, die laut standesamtlichem Eintrag dem weiblichen Geschlecht zugehört. Doch in ihrem Fall kollidiert dieses Recht mit dem Recht ihrer Mitmenschen, Personen so zu begegnen und sich ihnen gegenüber so zu verhalten, wie es ihrem sozialen Geschlecht entspricht. Von niemandem kann verlangt werden, dass er eine Person, die für sein Erleben und gemäß geltenden sozialen Anerkennungsregeln keine Frau ist, als Frau anerkennt.

Dies betrifft die praktischen Konsequenzen des geplanten Gesetzes, an denen sich die Kritik von Feministinnen entzündet, nämlich die vorgesehene Möglichkeit, dass biologische Männer mit Transidentität Frauentoiletten und Frauenhäuser sollen aufsuchen können. Damit wird das Recht von Frauen verletzt, im Blick auf die ihnen vorbehaltenen Intimitäts- und Rückzugsräume Menschen so zu begegnen und sie so zu behandeln, wie es deren sozialer Geschlechtszugehörigkeit entspricht, das heißt, sie von diesen Räumen auszuschließen, wenn sie keine Frauen sind. Biologische Männer mit Transidentität sind keine Frauen. All diese Probleme sind, wie gesagt, vom Tisch, wenn der standesamtliche Eintrag nicht ein Geschlecht, sondern die geschlechtliche Selbstzuordnung dokumentiert. In diesem Fall ist klar, dass Männer mit Transidentität keine Frauen sind und deshalb kein Recht haben, die Räume von Frauen zu benutzen.

Die alte, aus den Zeiten binärer Geschlechtszuordnung stammende Vorstellung, dass der standesamtliche Eintrag das Geschlecht dokumentiert, das ein Mensch hat, hat zu absurden Debatten geführt. Ist doch Voraussetzung dafür, dass ein Mensch ein bestimmtes Geschlecht haben kann, dass es dieses Geschlecht gibt. So hat das Bundesverfassungsgericht im Fall einer Person mit nichtbinärer Geschlechtsidentität entschieden, dass beim Standesamt die Möglichkeit des Eintrags eines weder männlichen noch weiblichen „dritten Geschlechts“ geschaffen werden muss. Das hat zu einer Debatte darüber geführt, ob es ein solches „drittes Geschlecht“ überhaupt gibt.

Gegen Lagermentalitäten

Dieser Streit erübrigt sich, wenn der standesamtliche Eintrag für die hier in Rede stehenden Personengruppen die geschlechtliche Identität dokumentiert. Festgehalten wird dann die Selbstzuordnung einer Person zu einem „dritten Geschlecht“, jedoch nicht ihre Zugehörigkeit zu diesem Geschlecht. Ob es dieses Geschlecht gibt oder nicht gibt, kann daher offenbleiben. Es müssen dann keine Kontroversen mit Biolog:innen mehr ausgefochten werden, die im Sinne wissenschaftlicher Redlichkeit darauf insistieren, dass es nach den Erkenntnissen ihrer Disziplin nur zwei Geschlechter gibt, nämlich ein männliches und ein weibliches. Wer gegen die Zweigeschlechtlichkeit polemisiert, muss sagen, welche Geschlechtlichkeit er meint, ob die biologische oder die soziale. Im ersten Fall muss er biologisch argumentieren. Keinesfalls aber geht es an, aus der Tatsache, dass es bei der sozialen Geschlechtlichkeit mehr als zwei Kategorien gibt, zu folgern, dass es auch bei der biologischen mehr als zwei Kategorien geben muss. Denn bei der Transgeschlechtlichkeit, Intergeschlechtlichkeit und Nichtbinarität handelt es sich um keine Geschlechter, sondern um geschlechtliche Selbstzuordnungen.

Was schließlich die Frage nach theologischen Gründen und Argumenten betrifft, so muss man feststellen, dass es nicht die Theologie war, die die Debatte über Geschlechtsidentitäten angestoßen hat. Vielmehr ist es so, dass heute im Nachhinein eine gesellschaftliche Entwicklung mit theologischen Gründen und Argumenten religiös legitimiert wird, die von anderswoher angestoßen worden ist – siehe dazu etwa die theologischen Überlegungen von Ruth Heß in der Januar-Ausgabe von zeitzeichen. Auch die Kirche soll auf diese Weise mit ins Boot geholt werden. 

Im Blick auf diese gesellschaftliche Entwicklung muss man heute dankbar dafür sein, dass die alte Schöpfungsordnungstheologie, die noch zu den Studienzeiten des Verfassers an theologischen Fakultäten in Deutschland gelehrt wurde, mit ihren Verurteilungen von allem, was von der geschlechtlichen „Normalität“ abweicht, der Vergangenheit angehört. Die Theologie sollte allerdings aus dieser ihrer eigenen Geschichte gelernt haben, dass es gilt, sich in solchen Fragen einen freien und differenzierenden Blick auf die Dinge zu bewahren, der sich Lagermentalitäten verweigert. Sie sollte für die nachdenklichen Zwischentöne stehen, statt sich daran zu beteiligen, die Identitätspolitik gesellschaftlicher Gruppen zu unterstützen und auf diese Weise gesellschaftliche Polarisierungen noch zu befeuern. 

 

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Johannes Fischer

Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.


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