Wir müssen über Demokratiekultur sprechen!

Antwort auf den offenen Brief des Leipziger Theologieprofessors Rochus Leonhardt
„Der Schrei“ von Edvard Munch auf Bechern im neuen Munch-Museum Oslo (2022). Das bekannte Gemälde des Malers ziert auch das Cover des umstrittenen Buches „Angst, Politik, Zivilcourage“ aus der Evangelischen Verlagsanstalt.
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„Der Schrei“ von Edvard Munch auf Bechern im neuen Munch-Museum Oslo (2022). Das bekannte Gemälde des Malers ziert auch das Cover des umstrittenen Buches „Angst, Politik, Zivilcourage“ aus der Evangelischen Verlagsanstalt.

Am 30. Oktober veröffentlichten die beiden Praktischen Theologen Kristin Merle (Hamburg) und Hans-Ulrich Probst (Tübingen) den Artikel „Nicht salonfähig!“, in dem sie sich sehr kritisch mit einem Sammelband aus der Evangelischen Verlagsanstalt auseinandersetzten. Daraufhin schrieb ihnen der Leipziger Systematische Theologe Rochus Leonhardt, einer der Autoren des Sammelbandes, einen „Offenen Brief“. Nun die Antwort der beiden, die wir dokumentieren:

Lieber Herr Leonhardt,

haben Sie vielen Dank für Ihren offenen Brief, der postwendend nach unserem Bericht zur Lektüre des Bandes Angst, Politik, Zivilcourage auf zeitzeichen.net zu lesen war. Mittlerweile ist viel passiert, unter anderem hat das Buch eine Depublikation erfahren[1]. Wie Sie als in der Wissenschaft tätiger Kollege wissen, ist unsere Aufgabe als Wissenschaftler:innen, Phänomene wahrzunehmen, sie zu analysieren und gegebenenfalls kritisch zu kommentieren – man könnte auch sagen: sie zu diskursivieren. Politische Entscheidungen zu treffen und sie auszuführen, das ist nicht unser Geschäft.

Die Entscheidung, den Band zu depublizieren, die das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) in Übereinstimmung mit der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und der Geschäftsführung der Evangelischen Verlagsanstalt (EVA) getroffen hat, ist also das eine. Ein anderes ist es, sich diskursiv über Problemlagen zu verständigen, für die Beiträge des Bandes ein Symptom sind. Soll heißen: Auch wenn Angst, Politik, Zivilcourage jetzt nicht mehr käuflich zu erwerben ist, ist es nicht weniger notwendig, sich mit den Fragen und Diskurszusammenhängen zu beschäftigen, die quasi hinter dem Band liegen, die in der Rezeption von Beiträgen thematisch werden, die sich auch artikulieren in nachgängigen Zustimmungen zu und Ablehnungen von Positionen.

Ihrer Replik, die ja noch einmal Ihre bereits im Band vertretene Ansicht wiederholt, entnehmen wir, dass das Thema der ‚Corona-Politik‘ für Sie ein wichtiges ist. Es dürfte mehr oder weniger überflüssig sein zu wiederholen, was auch wir bereits in unserem Beitrag notiert haben: Eine – natürlich auch kritische – retrospektive Auseinandersetzung mit Maßnahmen im Zusammenhang der ‚Corona-Politik‘ besitzt gesellschaftliche Relevanz.

Der Blick unseres Interesses aber geht weiter, das Diskursfeld ist größer, es muss das Kernthema im Mittelpunkt stehen. Denn letztlich geht es – und das war auch die Ausrichtung unseres Beitrags Nicht salonfähig! – um grundsätzliche Fragen der Demokratiekultur. Das Ziel des Beitrages war in erster Linie zu zeigen, welchen destruktiven und zersetzenden Praktiken sich die demokratische Kultur gegenwärtig ausgesetzt sieht.

Insofern können wir Ihre Einladung, für die wir Ihnen danken, nur halb annehmen. Wenn Sie mit Expert:innen über „die Frage einer Aufarbeitung des staatlichen und kirchlichen Umgangs mit der Corona-Krise“ sprechen wollen, sind wir sicherlich nicht die ersten Adressat:innen für eine solche Einladung. Anders aber sieht es aus, wenn wir über grundlegendere Fragen von Demokratiekultur ins Gespräch kommen wollten. Als Diskursort bietet sich die Evangelische Akademie zu Berlin an. Es wäre ja langweilig, wenn nur wir drei uns unterhielten. Insofern freuen wir uns auf eine Veranstaltung im Jahr 2024, bei der diverse Stimmen zum Thema artikuliert werden und miteinander ins Gespräch kommen.

Herzliche Grüße

Kristin Merle und Hans Probst

 

[1] Unter der Überschrift „Buch: ,Angst, Politik, Zivilcourage‘ wird aus dem Handel genommen“ hat das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik mit Datum vom 8. November 2023 die nachstehende Pressemitteilung verschickt:

Frankfurt am Main, den 8. November 2023 – Evangelische Publizistik ist ein evangelischer Beitrag zur Gestaltung einer demokratischen, gerechten, nachhaltigen und friedlichen Gesellschaft. Diesem Grundsatz fühlt sich das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) verpflichtet, das mit seinen Produkten und Dienstleistungen seit mehr als 50 Jahren einen wichtigen Beitrag zur Medienvielfalt in Deutschland leistet. Dazu gehört auch, zusammen mit den evangelischen Unternehmen, an denen das GEP beteiligt ist, für die grundrechtlich garantierte Presse- und Meinungsfreiheit nach innen und außen einzutreten. Die Pluralität von Meinungen, mutige Anstöße zu gesellschaftlichen und kirchlichen Debatten sowie eine wertschätzende Streitkultur sind für uns Ausdruck evangelischer Freiheit. 

Begrenzt wird dieser weite Raum der Freiheit da, wo die christlichen Gebote der Nächstenliebe grob verletzt werden. Zum Beispiel, indem Menschenfeindlichkeit, Demokratieverachtung und Antisemitismus offen propagiert werden. Eine solche Grenzziehung markiert Rote Linien, die nicht im Widerspruch zur Presse- und Meinungsfreiheit stehen, sondern im Gegenteil Voraussetzung für jeden gelingenden demokratischen Diskurs sind.

Mit Bedauern müssen wir feststellen, dass in einer Buch-Veröffentlichung der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig (EVA) (ein Tagungsband) diese Roten Linien in eklatanter Weise überschritten wurden.  Das GEP hält eine Mehrheitsbeteiligung an der EVA, zweiter Gesellschafter ist die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Die EKM teilt unser Bedauern.  

Prof. Kristin Merle und Hans-Ulrich Probst haben am 30. Oktober in der evangelischen Zeitschrift „Zeitzeichen" sorgfältig belegt, dass wesentliche Passagen des Buches „Angst, Politik, Zivilcourage" demokratiefeindliche, geschichtsrevisionistische, verschwörungsideologische und antisemitische Narrative bedienen. 

Tatsächlich gibt es Passagen in dem Buch, die keinen Zweifel lassen, dass sie weder mit den publizistischen Standards der evangelischen Publizistik vereinbar, noch durch die Meinungsfreiheit gedeckt sind. Das gilt ganz besonders für eine zutiefst antisemitische Aussage, in der die Angehörigen der Opfer der Terroranschläge bei den Olympischen Spielen 1972 auf menschenverachtende Weise diffamiert werden. Das GEP verurteilt diese ehrverletzenden persönlichen Angriffe auf das Schärfste, bittet die Angehörigen der Opfer für die Veröffentlichung dieser Aussagen um Verzeihung und steht in der Analyse im Konsens mit der EKM. 

Ebenfalls völlig unakzeptabel ist die offene Propagierung von mehreren als gesichert rechtsextremistisch eingestuften Medien sowie von antisemitischen Verschwörungsportalen als „Gegenöffentlichkeit" zu den im Text als angeblich korrupt und fremdgesteuerten Medien. Dabei werden Personen als Experten zitiert, ohne kenntlich zu machen, dass es sich dabei um aktive Politiker aus der rechtsextremen Szene handelt. 

Auch wenn mit der Einstufung einzelner Textpassagen als Überschreitung Roter Linien zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Bewertung der übrigen Texte im Buch verbunden ist, sehen wir uns zum Handeln gezwungen. 

Die Gesellschafter der EVA, GEP und EKM, halten es für notwendig, das Buch umgehend aus dem Verkauf zu nehmen. Wir sind froh, in diesem Punkt nach eingehenden Beratungen mit der Geschäftsführung der EVA übereinzustimmen. Dabei handelt es sich um einen einmaligen Schritt in der mehr als 50-jährigen Geschichte des GEP, aber um einen unverzichtbaren. Es wäre abwegig, diesen singulären Schritt als einen Eingriff in die Meinungsfreiheit zu interpretieren.

Selbstverständlich werden wir den Vorgang gründlich untersuchen. Das braucht Zeit und findet im Bewusstsein für die publizistischen Standards des GEP und der EVA, für die Ansprüche der evangelischen Publizistik, für das hohe Gut der Meinungsfreiheit, für die verlegerische Unabhängigkeit sowie die Fürsorgepflicht für Beteiligte statt. 

Wir sind überzeugt, dass sich die Qualität eines Unternehmens auch in ihrer Fehlerkultur erweist. Das Buch „Angst, Politik, Zivilcourage" war ein gravierender Fehler, den wir zutiefst bedauern. Wir werden daraus lernen.

(Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH (GEP gGmbH) | Emil-von-Behring-Straße 3 | 60439 Frankfurt am Main | Geschäftsführer: Direktor Jörg Bollmann, Einzelprokura: Bert Wegener | Aufsichtsratsvorsitzender: Kirchenpräsident Dr. Dr. h.c. Volker Jung | Amtsgericht Frankfurt am Main HRB 49081 | USt-ID-Nr. DE 114 235 916 | Tel. 069 58 098 - 0 | Fax 069 58 098 – 100 | 
www.gep.de)

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Kristin Merle

Dr. Kristin Merle ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Hamburg. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört das Thema Religion und Rechtspopulismus/-extremismus.

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Hans-Ulrich Probst

Hans-Ulrich Probst ist seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Praktische Theologie der Universität Tübingen und ist Mitglied der Evangelischen Landessynode in Württemberg. 


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