„Können wir nicht gemeinsam traurig sein?“

Eine beißende Heimat: Meine Sonnenallee, der Beobachtungen zweiter Teil
Straßenschild an der Sonnenallee mit "Free-Palestine"-Aufkleber
Foto: picture alliance / SULUPRESS.DE

Immer noch ist die Sonnenallee und der Berliner Stadtteil Neukölln in den Schlagzeilen. Denn viele der Bewohner mit arabischen Wurzeln zeigten Anfang Oktober auf Demos deutlich ihren Hass auf Israel - und ihre Unterstützung der Hamas. Der taz-Redakteur Jan Feddersen wohnt seit langem in Neukölln. Er ergänzt in diesem Text seine Erfahrungen in der Straße und mit den Menschen, die in ihr wohnen.

Ich habe nie Ohrmuschelbroschen aufgesteckt. Auch nach all den Jahren bin ich begierig danach, dieses seltsame schöne Phänomen des Sprachbabylonischen wahrzunehmen. Sonnenallee, schon ein strammer Fußweg vom Hermannplatz zur S-Bahnstation mit dem Namen dieser Straße, ist begleitet von sprachlichen Schnipseln nichtdeutscher Art. Viele erkenne ich nicht, Ukrainisch und Russisch kann ich ehrlich gesagt nicht unterscheiden, das Polnisch der Wanderarbeiter, die hier in der Gegend meist teure und miese Zimmerchen haben, ist mir geläufig, wie auch das Rumänische oder Bulgarische der Rom und Sinti. Albanisch ist mir auch nicht mehr exotisch.

Schätzungsweise, wirklich nur gröber überschlagen, werden in dieser Gegend drei Dutzend Sprachen gesprochen - und es sind meist die Sprachen, die die Einwanderer aus den armen Ländern können. Nur eine Sprache fehlt, aber vielleicht sitze ich meiner Furcht auf, es könnte so sein, eventuell war es nur Zufall. Aber bis zum 7. Oktober war es doch gerade in den Seitenstraßen der Sonnenallee normal, auch Hebräisch zu hören. Die israelischem Ex-Pats, die hier in Neukölln rund um die Sonnenallee ihr ideales Zweit-Tel-Aviv gefunden zu haben glaubten, noch hipper, noch multikultihafter, noch netanjahuferner … Hier glaubten sie, ihre Freunde und Freundinnen zu finden, ihre Bros & Sis im Geiste der Hamas, den sie nicht wahrhaben wollten.

Ethnopluraler Kram

Die Ex-Pats - aus welchen Ländern auch immer -, gern wohlhabend im Hintergrund, neigten jedenfalls in Neukölln wie in einem Gesamtjerusalem der passageren Gelegenheiten dazu, Kultur, oder was sie dafür halten, der eingeborenen Bevölkerung nahezubringen. Ihr ethnopluraler Kram fällt ihnen jetzt auf die Füße, die palästinensischen Fellows meinen es in puncto Gazasolidarität wirklich ernst.

Gestern Abend, auf dem Weg zurück von der Buchmesse, habe ich mir aus Gründen übelster Erkältung eine Taxe gegönnt. Der Fahrer: Was, da wollen sie hin, muss das sein: Sonnenallee? Der, wie er sich vorstellte, gebürtige Türke und bekennende Tempelhofer („Ist grüner da, gut für die Kinder.“), hat ein neues Auto … Ich verstünde doch … Ja, lassen Sie mich gern an der Karl-Marx-Straße raus. Und so spazierte ich am mittleren Abend durch mein Quartier. In den Astrastuben war die Partie Mainz gegen Bayern gerade vorbei, im Nudelladen standen Erasmusrudel vor der Tür und rauchten, aus der Sonnenallee kamen arabisch aussehende Jungs gehetzt, sie gingen nicht, sie liefen nicht - sie hatten diese nervösen Moves im Körper, die ich von Hooligans am Rande von Fußballstadien kenne, die auch linksradikale Demos umweht, die sich von Polizeien und vom System überhaupt verfolgt wähnen.

Alleiner denn je

Kleinkriegspiele, diesmal von der Polizei rund um den Hermannplatz eingehegt, kein Raum für größere Battles. Es sind, scheint mir, Placebo-Aufregungen. Es soll was passieren, sich entscheiden - aber hier tut sich nichts. Die über 200 Geiseln in Händen der Hamas sind nicht frei. Faustpfänder in den Händen jener, die gerade eine halbe Weltordnung auszuhebeln gedenken. Ein Freund aus Israel sagt mir heute Morgen: Wir sind verzweifelt, wir sind alleiner denn je.

Herbstferien in Berlin, von der Straße sind keine Kinderstimmen zu hören. Ich zermartere mir beinahe vor jedem Satz den Kopf: Kann ich den so schreiben? Ist das nicht zu verallgemeinernd - oder allzu anekdotisch? Sind meine Beobachtungen in irgendeiner Weise aussagekräftig. Und wenn ja: für was und wen? Ich möchte, das muss ich mir gar nicht immer wieder klar machen, dass es den Menschen hier gut geht, dass ihr Mühen, so sie sich mühen, sich lohnt.

Anne Frank und Mathematik

Ich erinnere mich, aus den Neukölln-Arkaden musste neulich aus der Filiale der dort ansässigen Buchhandelskette ein Geburtstagsgeschenk abgeholt werden. Vor mir: zwei Mäner, väterübliches Alter, so zwischen 30 und 40, habituell eher nicht so die Buchhandelsstöberer. Der eine ganz sicher nicht, er trägt noch die Klamotten seines Baustellenjobs, nichts an ihm ist fein. Beide haben Abholschnipsel in der Hand, und nach wenigen Minuten ist klar, dass sie Bücher für ihre Kinder besorgen. Das erste ist ein Mathematikbuch, Nachhilfe steht drauf, aber so genau konnte ich es nicht diskret mitlesen. Der andere schließlich, schon bei der Ansprache zur Buchhändlerin hörbar nicht so versiert im Deutschen, hat offenbar zwei Bücher bestellt, für zwei Kinder. Bei einem Buch handelt es sich um einen Schüleratlas, beim anderen um „Das Tagebuch der Anne Frank“. Ich wusste nicht mal, dass es in Schule noch gelesen wird, dass sich das Lehrer und Lehrerinnen noch trauen, dieses Buch im Unterricht zu behandeln.

Was ich damit sagen will: Ich kann die Geschichte der beiden Väter nicht auflösen, ich habe sie nicht abgefangen an der Rolltreppe zum Parkhaus, um sie zu interviewen. Mein Eindruck reicht, um meine Phantasie zu sättigen: Die Idee, dass Männer in körperlich hart beanspruchenden Berufen blöd sind und keine Vorstellung vom schulischen Erfolg ihrer Kinder haben, ist falsch. Mag es geben, gibt es aber natürlich auch in wohlständigen Gegenden. Bloß, von diesen Plackereien, trotz geringer Löhne und schwierigen Wohnverhältnissen nicht nur über die Runden zu kommen, sondern für sich und die eigene Familie das Beste zu machen, davon ist nie im öffentlichen Sprechen die Rede.

Automobiles Blingbling

Die Wahrheit ist, sage ich mir, wie immer kompliziert. Es gibt auf der Sonnenallee das von pubertierenden Jungs begrölte Autocruising in teuren Karren, viel automobiles Blingbling ist immer im Spiel, vor allem abends, wenn auf den Beifahrersitzen chicst aufgebrezelte junge Frauen sitzen, trophäengleich, beiderseits. Ich begucke mir solche Szenen wie ein Ornithologe ein bekanntes Muster im Vogelwald - alles schon mal dagewesen, nichts Besonderes: Angeberkulturen armer Würstchen, die in jungerwachsenen Jahren noch nicht so viel Geld haben können, um sich dieses Hin- und Herkreuzen leisten zu können. Väterliches Drogengeld? Schutzgeldeintreiber in den kleinen Geschäften der Sonnenallee, die gibt es ja auch, auch wenn so gut wie niemand, also so gut wie nur irgend niemand möglich, es offiziell sagen würde. Nie war die Sonnenallee nervöser, lebendiger, beißender als heute. Gelobt seien jene, die ihre neuen Heimaten als Möglichkeit nehmen, fleißig und oft erschöpft. Im Café Süss am Hermannplatz brummt die Welt, ein gutes Zeichen, jeden Tag.

Neulich Rückkehr von einer kurzen Reise nach Schweden, Sachen abholen, unter anderem eine schwere Truhe, das Auto war also größer. Freunde halfen in meiner Straße beim Hochhüsern, sie wussten vermutlich nicht, dass sie nicht für alle Zeiten Kraft haben für alle Lebenszeiten. Und dann das Auto, wohin? Nichts in meiner Gegend ist so antiautomobil wie diese Straße namens „Sonnenallee“, eigentlich angelegt als Avenue mit Baumbestand in der Mitte, früher genutzt von einer Straßenbahnlinie außerdem. Aber Radfahrer und Radfahrerinnen sollten die Straße meiden - es sei denn, sie möchten die Heldenrolle einnehmen für den Fall des tödlichen Unfalls.

Freundliche Menschen

Eine Seitenstraße weiter fand sich überraschend ein halbwegs okayer Parkplatz für diese eine Nacht, ehe das Geschoss wieder zum Autoverleih zurückgebracht werden musste. Doch dann fand sich eine noch bessere Lücke mit ausreichend Raum - exakt vor dem italienisch anmutenden Lokal „La Foccaceria“: Lieferando-Food italienischer Art, freundliches Licht im Laden, darin ein paar Männer. Fragte ich einen, ob er auf den Parkplatz aufpassen könnte, was er mit nettem Nicken bejahte, um direkt rauszukommen, sich auf den leeren Platz zu stellen, wobei es in Strömen regnete, und mir zugleich zu signalisieren, ich möge das Auto jetzt holen.

Am Ende fragte er mich, ob er nochmal einparken dürfe - das Resultat meiner Hin- und Herlenkerei sah wirklich schlimm aus. Klar. Machte er also. Ich fragte ihn, um die Option zu prüfen, ob dies ein Lokal zum Ausgehen sein könnte, ob es in seinem Restaurant Rotwein gebe. Er verneinte. Er habe keine Lizenz. Viele gastronomische Läden schenken keine alkoholischen Getränke aus - und man weiß nicht, ob aus religiösen Gründen oder eben aus solchen, für die es ein behördliches Okay bräuchte, dies aber nicht vorliegt.

Ich kenne in der Sonnenallee keine arabisch geführten Restaurants, die Bier oder Wein im Repertoire haben. In einem Fischlokal zwischen Weichsel- und Pannierstraße sah ich die Kunden und Kundinnen zu ihren Gerichten Cola und Limonade trinken. Sei’s drum: Muss ja kein Chablis zur Dorade sein - aber es erschließt sich nicht, ob Alkoholika halal, also gut, oder haram, unrein und unbotmäßig für einen muslimischen Menschen sind. Aber italienisch anmutende Speisen schmecken mit Rotwein eher besser, beziehungweise: Fanta und Pizza Napolitano kommen mir seltsam vor. Will sagen: Der Mann der „La Foccaceria“ war so freundlich, von solch unkomplizierter Hilfsbereitschaft, dass ich unbedingt mir innerlich schwor, dort mal essen zu gehen.

Straßenname wird zur Chiffre

Überhaupt sind fast alle auf der Sonnenallee, besonders die arabischen Bürger und Bürgerinnen, zuvorkommend und hilfsbereit. Ich erwähnte es in einem früheren Eintrag zu meinen Notizen. Wichtiger scheint mir: Will ich essen und trinken und zum Frisör gehen und Gemüse und Obst einkaufen oder Parfums-to-go kaufen oder Nüsse besorgen oder Torten oder oder oder – ich landete bei Leuten, die einen „Jehudi“, einen Juden, so sie ihn, etwa mit einer Kippa, erkennen, nicht aushalten. Menschen, die auf schärfstens Israel auszulöschen wünschenden Demos mitlaufen. Oder ihr vom Rande applaudieren oder wenigstens beifällig zugucken?

Ich fürchte, mehr übel als wohl: Das muss ich in Kauf nehmen. Nehme mir also vor, meine Alltagsgeschäfte zu verrichten und politisch-kulturell im Allgemeinen zu bleiben, vage und nicht Tischtücher zerreißend. Wobei ich ja sowieso finde, dass man die Demos, die man in meiner Gegend gern veranstaltet, aushalten muss, so ist Meinungsbekundung in Demokratien nun einmal.

Alle Welt guckt jetzt auf die Sonnenallee, der Widerwillen gegen diese Straße - „Oh, die ungebärdigen Palästinenser/Araber!“ - hat den Namen zur Chiffre gemacht: „Sonnenallee - antisemitisch, mithin abscheulich.“ Kann alles sein, ja, finde ich. Nur scheint mir die politische Kultur in meiner Gegend zwar horribel, aber keineswegs unzivilisierbar. Es sind eben viele neidisch und missgünstig in puncto Israel. Und die Bürger und Bürgerinnen dort, die können was, die bauen aus der Wüste blühendes Leben auf.

Postcolonial? Ein Schimpfwort

Ekelhafter, deutlich gesprochen, sind mir nicht meine Alltagsumstände, sondern die deutsche und auch globale Kulturszene, die Israel über sehr viele Jahren nur als Paria wahrzunehmen bereit war. Im körperlichen Sinne bei mir abstoßend wirken alle Figuren, die ich mal als Global-Art-&-Discourse-Business-Judithbutler&Co. nennen möchte. Kaltes Pack, nichts als das. Sie scheinen intellektuell nicht zivilisierbar. Sie gehören nur von den Fördertöpfen weggeschleift. Ihr Leiserwerden ergibt dann ganz von allein. „postcolonial“? Das ist mir ein Schimpfwort geworden, versumpfte „Wissenschaft“ von geringem Belang. Frage man mal die Araber und Araberinnen, jene, die wirklich im Leben vorankommen wollen, was sie davon halten: Das wäre für diese Postcolonials enttäuschend, vermute ich.

Und dann diese Begegnung: Darf ich das aufschreiben?, frage ich ihn. Wenn Du meinen Namen änderst, erwidert er. Also: Mahmoud. In Coronazeiten, als das Viertel brach lag und manchmal das albanische Café Tetovo immerhin noch geöffnet hatte, saßen wir, nie direkt verabredet, dort und redeten. Über: dies und das. Also: nachbarschaftlich allgemein. Gesundheit, Kinder, die gegenüberliegende Schule.

Betroffen von der "Nakba"

Er ist bald 50 und lebt seit vielen Jahren in Deutschland, Deutscher ist er auch - und gelernt hat er den Beruf des Apothekers. Vorsichtig näherten wir uns neulich einem zarten, zugleich brutalen Thema an: Israel. Ich wusste aus früheren Begegnungen, dass seine Vorfahren aus Akko stammen, die Großeltern, aber vertrieben wurden Ende der Vierziger Jahre. Mahmoud ist also einer, der buchstäblich familiär betroffen ist vom palästinensischen Trauma namens „Nakba“, der großen Katastrophe, der Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus der Landschaft, die Osmanisches Reich gerade nicht mehr war und Israel werden sollte.

Ich war dort vor einigen Jahren, noch vor den diskriminierenden Sprachgesetzen in Israel, die das Arabische herabwürdigen. Die Altstadt von Akko ist eine touristische Legende, sehr historisch, sehr antik, sehr so, wie unsereins, die Touristen, sich das wünschen. Dieser Teil ist wie eh und je arabisch(-israelisch), der neue Teil Akkos jüdisch. Den will aber niemand besichtigen, Neues in dieser Weise, eine unspektakuläre Ansiedlung, zweckmäßig alles, mögen Touristen ja nicht so.

Es soll aufhören

War er mal wieder dort, in der einstigen Heimat seiner Vorfahren? Nein, sagt Mahmoud, und fragt: Wie ist es dort, wie ist Israel? Und etwas leiser: Müssen Araber Angst haben? Ich kann die letzte Frage nicht beantworten, aber, klar, arabische Israelis genießen nicht die gleiche Wertschätzung wie jüdische, aber ein Fünftel der israelischen Bevölkerung ist nichtjüdisch. Wie Israel ist? Ich frage mich: Darf ich ihm sagen, dass es hinreißend ist? Schon dass in Tel Aviv am Strand bei abendlichen Spaziergängen viele aus dem nahen Jaffo kommen, viele Familien als arabisch lesbar, weil die Frauen stark verschleiert sind, ist irritierend. So fraglos, offenbar undiskriminiert, wird das ja in Deutschland mit den Schleierfragen nicht erörtert, vorsichtig formuliert.

Und Akko? Schlimm die Ausschreitungen von jüdischen Bürgern gegen ihre arabischen Nachbarn vor einigen Jahren. Aber es soll sich beruhigt haben. Mahmoud hört zu. Er sagt später, dass die Riots Anfang Oktober, die sich als solidarisch mit den Hamas-Massakern zeigten, schrecklich seien. Er leide mit den Familien, die ihre Kinder, Mütter, Großmütter verloren haben, „ermordet“, fügt er an. Ich frage ihn, ob er gern mal Israel sich angucken würde - womöglich auch Akko, das Haus seiner Vorfahren suchend. Er guckt mich an und sagt: Vielleicht. Er wisse es nicht, doch bisher sei das ausgeschlossen gewesen, weil er nicht wisse, ob er das aushalten könne. Möchte er das: Die Juden –„Free Palestine from the River the Sea“? Auch bei Akko? Nein, sagt er, fast nicht mehr hörbar. Ich möchte, dass es aufhört. Es aufhört - was? Ich weiß es nicht, höre ich, dieser Hass. Können wir nicht gemeinsam traurig sein?

Wir werden uns wiedersehen. Wir sind Nachbarn in diesem kuriosen Viertel, wir gehen uns weiter nicht aus dem Weg. Warum auch?

Den ersten Teil der Erfahrungen Jan Feddersens in der Sonnenallee finden Sie hier.

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