„Meine Sonnenallee, sie brennt schon lange“

Ein persönlicher Blick auf die Straße und ihre Bewohner von Jan Feddersen
Feuerwerkskörper bei einer Pro-Palästina-Demonstration am 18.10. 2023 in der Nähe der Sonnenallee
Foto: picture-alliance
Feuerwerkskörper bei einer Pro-Palästina-Demonstration am 18.10. 2023 in der Nähe der Sonnenallee.

Die Sonnenallee und der Berliner Stadtteil Neukölln ist seit Tagen in den Schlagzeilen. Denn viele der Bewohner mit arabischen Wurzeln zeigen auf Demos deutlich ihren Hass auf Israel und ihre Unterstützung der Hamas. Jan Feddersen, taz-Redakteur, wohnt seit langem in Neukölln und beschreibt im folgenden Text seinen ganz persönlichen Blick auf die Straße und die Menschen, die in ihr wohnen. 

Die Berichterstattung zu den letzten Nächten in Neukölln und zur Berliner Sonnenallee folgt den Gesetzen der Medienaufmerksamkeit. Wo Unruhe droht oder schon am Lodern ist, sind Medien, TV wie auch Zeitungen, präsent. Tatsächlich ist die Sonnenallee, diese Achse durch Neukölln, einst durchfahren von einer Straßenbahnlinie, seit dem Fall der Mauer nicht mehr Quartier ruhigeren Lebens, sondern eine der autolastigsten Ecken der Hauptstadt. Seit zehn Jahren etwa ist aus der türkisch-chinesisch-koreanisch-albanischen Ramschkonsumkultur eine hippe Straße geworden. Die arabischen Einwanderer können sagen: Das ist unser Boulevard, das ist Klein-Aleppo in Jetztzeit.

Einige der arabischen Restaurants gehören zu den besten der arabischen Küche jenseits der Levante. Das Leben hier ist auch in arabischer Hand. Nach Einbruch der Dunkelheit sind arabische Frauen kaum zu sehen. In den Cafés – nur Männer. Jetzt, in diesen Tagen nach den Massakern der Hamas in Israel: keine Anteilnahme. Sondern unverhohlene Freude.

Das haben die Medien auch alle fein abgebildet, und doch sind ihre Berichte auf gewisse Weise falsch. Das heißt nicht: handwerklich schlecht. Aber ohne Zusammenhang verfasst. Gewalt hat eben ein Faszinierendes, journalistischem Personal muss man das nicht sagen. Doch weshalb erwägt niemand meiner Kollegen und Kolleginnen, dass die Demonstrierenden, die in den vergangenen Nächten für viel Krawallgefühl zwischen Hermannplatz und Hertzbergplatz sorgten, durchweg Verlierer sind, Lifestyle-Loser auf ihre Art.

Israel als Hassthema 

Sie sind eingewandert, viele nicht im Sinne des klassischen Asylrechts, demzufolge man Schutz genießt bei politischer Verfolgung, sondern weil sie ein besseres Leben wollen, Jobs und Geld, wie meine Gewährsleute beim Tee sagen, ohne dass ich sie zitieren dürfte. Viele hier verfolgen nur ausnahmsweise Berufsausbildungen, Schulbesuche gelten als uncool, Jobs in nichtprekären Berufen sind kaum möglich. Anders gesagt: Viele der Demonstrierenden sind Tage- und Stundenlöhner, die durch ihre kulturellen Verhältnisse nicht ermutigt werden, es mal auf die zähe Art in der neuen Heimat mit einem bürgerlichen Weg zu probieren.

Israel als Hassthema eint sie – leider! – so gut wie alle, und jene, die das nicht teilen – und einige wenige kenne ich -, bleiben lieber stumm, man ist den Gesetzen des Schweigens unterworfen. Israel ist aber noch in anderer Hinsicht ein „Elefant-im-Raum-bloß-nicht-zum-Thema-machen-Ding“: Anders als die arabischen Nachbarländer, aus denen die meisten in Neukölln lebenden Araber und Araberinnen fortgingen, weil sie dort keine Perspektiven hatten, ist Israel erfolgreich. Und weil es viele der Demonstrierenden schafften, in den perspektivreicheren Teil Europa auszuwandern, leiden sie an dem, was ich mal hilfsweise „schlechtes Gewissen“ nennen will.

Sie haben ein okayes Leben, Bürgergeld und prekäre Jobs, immerhin. Sie können es schaffen, sind aber nicht mehr direkt unter den Knuten der Hisbollah, der Hamas oder der Abbas’schen Autonomiebehörde. Sie stiften Unruhe, weil sie glauben, es zu müssen. Sie können nicht sagen: Was immer Ihr in unserer alten Heimat mit Israel für ein Problem habt, müssen wir nicht mehr haben. Nein, sie identifizieren mit ihrer alten Heimat, können von ihr nicht lassen, innerlich, und kommen so nie so ganz in ihrer neuen Heimat an.

Schmuddelkinder des Politproletariats

Außerdem ahnen sie, dass die Chiffre vom epidemischen „antimuslimischen Rassismus“, die Gewogenheitsformel linker Sozialwissenschaften, irgendwie eine Behütungsformel ist, denn es gibt Diskriminierungen gegen arabische Menschen. Aber vom Rassismus bleibt vor allem als Erklärmodus übrig, dass sie die Skepsis vieler Deutscher gegen sie durch die Unruhen in Neukölln nur bestärken. Sie sind keine Goodwill-Angel, und sie wissen das genau.

Dass sie von Linken unterstützt werden, freut sie, obwohl die doch gerade nicht für das stehen, wonach sie sich sehnen: Fette Autos, prunkige Wohnungen, Geld ohne Ende … Aber, klar, die Schmuddelkinder des deutschen Politproletariats nehmen diese Menschen in meiner Nachbarschaft hin wie einen Rettungsring, der allerdings nicht beim Schwimmen im neuen deutschen Leben hilft, sondern sie weiter absaufen lässt. Schade, sehr schade.

Dieser Tage bat mich ein Freund  per Sprachnachricht, ich möge doch darauf hinweisen, dass man Polizei und Feuerwehr nicht angreifen solle. Na, das ist doch selbst-ver-ständ-lich! Mein Punkt war ein anderer: eine gewisse Trauer um all die neuen Deutschen, die partout alles daranzusetzen scheinen, die Kämpfe ihrer alten Heimat hier fortzuführen. Ich bin traurig, dass sie hier nie ein Leben in Ruhe führen können, wenn sie rumkrawallen. (Wobei ich eben auch noch dachte: Wer nach Mitternacht noch Guerilla spielt, muss am nächsten Morgen nicht zur Arbeit.)

Kämpfe, die zu nichts führen

Wäre ich Einwanderer irgendwo, wüsste also, das alte Leben ist nicht mehr, das neue soll in Angriff genommen werden, tät ich alles dafür, genau das zu bewirken. Aber sie, die nun in Neukölln so tun, als wäre hier der Gazastreifen oder die Westbank, führen Kämpfe, die zu nichts führen. Sie sind also Verlierer durch und durch, durch keine sozialtherapeutischen Programme erreichbar.

Dass Missliche ist nur, dass es viel zu viele Deutsche gibt, die die eingewanderten Araber vor allem palästinensischer Identität nun darin bestärken. Dabei müsste man ihnen sagen: Wir als Deutsche kennen Debatten, wie ihr sie führen solltet. Wir mussten auch mal sagen: Leute, ihr versteht euch als Vertriebene - aber: Schlesien ist nicht mehr. Ist polnisch, kommt nicht zurück, Schluss, aus, basta.

Wenn es unverhohlene Freude über die Massaker der Hamas gibt, muss man womöglich über Bleiberechtstitel sprechen. Vor allem wäre es hilfreich, zu sagen: Nein, das ist nicht euer Land, das ist Israel, schminkt euch den Rest ab. Trostlos, aber wahr: Jene, die Krawall stifteten, sind womöglich zu bürgerlichen Lebenswegen (morgens aufstehen, arbeiten, für Kinder Sorge tragen, sich um seine Nächsten kümmern, abends halbwegs pünktlich ins Bett gehen, all that bürgerlicher Lifestyle, nix aufregend, aber wichtig) nicht in der Lage. Schade!

Gewisse Robustheit zugelegt

Um es für mich persönlicher noch zu erklären: Die Reaktionen so vieler sogenannter Linker auf die Ermordungen eben jenseits des Gazastreifens machen mich, natürlich, wütend und trauernd, aber wie soll ich sagen: Dann ohne diese „Linken“, die Welt wird auch ohne sie – hoffentlich besser.

Will sagen: Ich habe mir über die vielen Jahre so eine gewisse Robustheit zugelegt. Vor 13 Jahren war meine Tante G plötzlich Witwe. Ihr Mann, mein Onkel K-H, war Anfang Siebzig plötzlich umgefallen und brach sich unheilbar an der Heizung den Kopf. Monate später sagte ich ihr, sie war wohl nicht mehr unmittelbar trauernd: Na, jetzt könne sie ja ne Putzfrau anheuern. Ihr Mann hatte ihr diese Haushaltshilfe alle Jahre verboten, er sagte, das bisschen Haushalt könne sie doch schaffen, wenigstens das.

Meine Tante sagte dann: „Ne Polin kommt mir aber nicht ins Haus.“ Ich war verblüfft: So eine kleine fiese rassistische Bemerkung, die sich andererseits funktional gegen sie selbst, meine Tante, richtete – da wäre ich früher schwerst ins Agitpropkostüm gegangen und hätte angefangen, sie vom GutenWahrenSchönen zu überzeugen. Ich verzichtete. Soll sie doch selbst zusehen, wie sie in ihrem Witwendumpf vor sich hinwest … mir egal.

Ihr Land? Seit wann?

Ich hätte ihr noch sagen können, dass mir ein Leben in einer weißhäutigen Hölle, in der die Welt nur als Medienkonsum in ihr Leben tritt, nicht attraktiv vorkommt. Und dabei komme ich also endlich auf mein Neukölln: Gewöhnlich ist meine Privatanthropologie so gehalten, dass ich prinzipiell davon ausgehe, dass alle Leute irgendwie ein ziemlich gleiches Leben wollen. Schlafen in Ruhe, frühstücken, zur Arbeit gehen, sich um Kinder oder sonstwie Liebste sorgen und kümmern, Abendessen, Füße hochlegen und „Tatort“ gucken. Oder sonst was im Fernsehen, was Unterhaltung ist, nicht Diskurs oder Ähnliches.

So auch in Neukölln. Da schiebt ein arabischer Mann die Kinderkarre, füttert zwischendurch sein muckelndes Gör, guckt zwischendurch ins Handy, in einem Fall waren es Fußballergebnisse aus der Türkei, isch’schwör. Oder giggelnde junge Frauen, zwei von ihnen mit Kopftuch, sie sind so geschminkt, dass die angeblich antierotisierende Wirkung des verhüllenden Textils ins Absurde geht – aufmerksamkeitsheischender ginge es echt nicht.

Aber ich rechnete nicht mit solchen Aufwühlungen wie jetzt, in dieser Woche in so vielen Nächten in meinem Viertel. Ich gucke eher auf Menschen, die als Start-up ein kleines Parfümbüro aufmachen, Düfte aus der Lamäng, wahnsinnig gutgelaunt offerierend. Überhaupt sind viele so extrem freundlich. Was für einen Hau haben die alle mit Israel? Warum behaupten sie so smart, als würde ich beim Millionenquiz auf die Frage nach der Summe von 2 plus 2 mit der Zahl 4 antworten, dass Palästina frei sein müsse, es sei ja ihr Land. Ihr Land? Seit wann? Und mit welchen Folgen für die, die seit den späten 1940-er Jahren dort leben? Keine Antwort.

Talibanisch anmutende Atmosphäre

Warum herrscht in Neukölln faktisch eine talibanisch anmutende Atmosphäre, in der nichts gefährlicher wäre, als mit einer Kippa sich als jüdisch zu erkennen zu geben? Weshalb gebricht es an aller Coolness, jener vor allem, die es doch in den sie nährenden Teil Europas geschafft haben? Aus welchen Gründen jammern sie wirklich? Weil sie auf Manna hofften und doch viele Wünsche nicht realisiert bekommen?

Diese Tage in Neukölln nehmen mir etliche meiner Illusionen, zugegeben. Ich kann Opfergespreize von Menschen, die als sich als muslimisch verstehen, nicht mehr ausstehen! Dieses blöde, herzlose Geheule, das mich an die Figur der verfolgenden Unschuld erinnert! Woher rührt diese lahmarschig machende Belanglosigkeit, die sie ausstrahlen, dieses Kraftarme und nur Halbstarke? Jene, die die Unruhen billigten oder sie beförderten – sie haben ihre Zukunft bereits hinter sich.

Ich erinnere mich an die Zeiten, als der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ schrieb - und einen Bestseller landete. Das war surreal genug, denn ein blut-und-boden-reines Deutschland gab es selbst unter den Nazis nicht. Und mein Argument war immer gegen den Autor: Die deutschen Kinder von heute sehen oft nicht mehr aus wie Hänsel & Gretel, aber wo wäre da ein Problem?

Sarrazin vs. Buschkowsky

Am ärgerlichsten, um nicht zu sagen: am giftigsten, war für mich in dem Buch eine Passage, in der Sarrazin über Berliner Gemüsehändler räsonierte, dass sie keine Bildung hätten und ihre Töchter Kopftücher trügen Denn ich kenne solche Bilder nicht, ich sah damals wie heute in den Läden, auch in den seit 2014 etablierten arabischen Supermärkten, die die Sonnenallee wirklich zu einer quirligen Meile machen, der vielen Kunden und Kundinnen wegen, nur Leute, die buchstäblich schuften, körperlich hart arbeiten, sehr oft freundlich sind und nichts weiter als dies.

Sarrazin ließ also seine apokalyptisch anmutenden Visionen vom abgeschafften Deutschland, ganz ranzigbürgerlich wie einst, auf die Schultern jener nieder, die jene Arbeit leisten, die viele Urdeutsche zu leisten weder in der Lage noch willens sind: no jobs from 9 to 5! Als der inzwischen ehemalige Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky einige Jahre später sein „Neukölln ist überall“ verfasste, war das von anderem Kaliber. Buschkowsky, der rechte Sozialdemokrat, war kein Stiff-Upper-Lips-Bürger, sondern ein aufgestiegener Kleinbürger, der auch an die türkischen oder albanischen oder arabischen Communities nur diese Botschaft parat hatte: Schickt eure Kinder auf die Schule, seid mit ihnen fleißig, macht mit eurer Kultur, was ihr wollt, aber separiert euch nicht.

Er wurde dafür auch von Communitykrisenmanagerinnen und heutigen Integrationsbeauftragten Güner Balci geliebt: Da sprach einer im Ton der Straße, da wusste einer um die Bedürfnisse nach Autorität, väterlicher. Hilfe - von links kriegte er natürlich keine. Als er - wie Seyran Ates, Necla Kelek oder eben Güner Balci - auf Missstände nicht des Multikulturellen mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern, genausowie diese Frauen, auf schlimme Zustände hinter den Haustüren verwies, wurde er auch als Rassist tituliert. Der sogenannte Mord an Hatun Sürücü? Eine Beziehungstat, die der öffentlichen Würdigung nicht wert ist. Sie wollte westlich leben, nontraditionell -  und das war den bürgersöhnlichen Linken wohl zuviel der Emanzipation.

Antikoloniale Perfomance

In der Sonnenallee, in die sich inzwischen kaum Polizei- und Feuerwehrkolleginnen* trauen, wenn es an Sicherheit gebricht oder ein Feuer ausgebrochen ist, herrscht ein Prinzip der antikolonialen Performance: Einmischung von traditionsdeutschen Institutionen unerwünscht, im Zweifelsfall rassistisch.

Ich mag meine Sonnenallee immer noch, ich weiß um viele, die dort leben, ob arabischer, türkischer oder sonstwie nichtdeutschtraditioneller Prägung, die gern die Ruhe und Ordnung hätte, die alle immer so spießig und doof finden. Sie hätten gern eine Stimme gegen die arabischen Clans, aber sie halten besser die Klappe, verständlicherweise. Aber sie wissen auch, dass auf Linke kein Verlass ist: Sagen sie etwas, heiße es gleich, nein, nicht so laut, bitte, das nützt sonst nur den Rechten. In Wahrheit kann ihnen das das gleichgültig bleiben, denn ihnen nützt das schon mal gar nichts.

Was sich dieser Tage auf den Mienen israelischer Ex-Pats, die besonders gern etwas auf „Kreuzkölln“, auf ihre Spielweise des planetarischen Anything-Goes halten, abspielt, ist schwer deutbar: Ringen sie damit, schnell einen Rückflug nach Tel Aviv oder Eilat zu bekommen? Wissen Sie, dass ihr Safe House, Israel nämlich, postcolonial-mäßig ganz nazihaft für überflüssig auch von links erklärt wurde und wird - so wie die Parole lautet: „Free Palestine - from German guilt"?

Es ist so deprimierend, dass wieder nur Optimismus bleibt. So denn!

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"