Recht auf Rausch

Über Alkohol als Kulturgut und Wirtschaftsfaktor
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Alkohol gehört dazu, zum guten Essen, zum geselligen Beisammensein, zum festlichen Empfang. Unsere Trink­kultur hat Tradition, auch eine kirchliche. Und die wird gepflegt, nicht zuletzt von den Getränkeherstellern. Denn sie setzen Milliarden um mit dem berauschenden Stoff.

Von Martin Luther sind viele Sprüche überliefert, bei denen man nicht wirklich weiß, ob sie von ihm stammen. Zum Beispiel: „Wer kein Bier hat, hat nichts zu trinken.“ Zumindest könnte dieser Satz gut vom Reformator stammen, der in vielen Predigten auf das Bier zu sprechen kam und als Freund des Gerstenssafts gilt, gleichzeitig aber auch vor übermäßigem Konsum warnte.

Belegt ist aber auch, dass im Hause Luther Bier gebraut wurde. 1532 wurde Luther das Augustinerkloster geschenkt. Damit war er Hausbesitzer und hatte Braurecht. Für das Brauen zuständig waren in der Regel Frauen, und so hat auch Katharina von Bora wohl dafür gesorgt, dass die Krüge am Tisch des Reformators gut gefüllt waren und nicht nur die Worte bei den berühmten Tischgesprächen flossen.

Doch das Bier damals war, darauf gilt es immer wieder hinzuweisen, in der Regel nicht zu vergleichen mit dem heutigen. Zwar wurde hin und wieder auch stärkeres Bier hergestellt. Aber in der Regel trank man Dünnbier mit wenig Alkohol, das man dem oft kontaminierten Brunnenwasser vorzog. Der Geschmack war wohl zweitrangig.

Sauer und sättigend

Und so ähnlich muss es auch beim ersten Bier der Welt gewesen sein, dem Ur-Bier, das im Sudan aus einer Hirseart gebraut wurde. Dieses ähnelte eher einer Art Brei mit zwei Prozent Alkohol – sauer und sättigend. Im Laufe der Zeit gelang es den Menschen dann aber, den alkoholhaltigen Teil von den Feststoffen zu trennen, Biere (und auch Weine) wurden flüssiger und berauschten mehr, weil man mehr von ihnen trinken konnte. Leisten konnte sich diese Getränke aber nur die Oberschicht. Etwa Könige, Priester und Beamte im alten Ägypten, die sich dem Rausch gerne bis zur Bewusstlosigkeit hingaben.

Auch zu Luthers Zeiten war zumindest der Weinrausch wohl eher ein Privileg der reicheren Menschen. Der Wein kam übrigens oft aus Klöstern. Die notwendige Versorgung der wachsenden Christenheit im frühen Mittelalter mit Abendmahlswein war einer der Gründe, warum dort, neben den schon erwähnten hygienischen Gründen, der Weinbau eine so wichtige Rolle spielte. Die „Bildungsträger“ in den Klöstern kannten dank ihrer Archive die lateinischen Zeugnisse römischer Weinkultur und lebten von den Einnahmen aus dem Weinbau (siehe dazu auch den Schwerpunkt Wein in zz 8/2013). Auf 300 000 Hektar Fläche soll im Mittelalter „deutscher Wein“ angebaut worden sein, heute sind es 100 000 Hektar, die in vielen Regionen in Deutschland das Landschaftsbild und die lokale Wirtschaft prägen. Und die jahrhundertealte Tradition der Produktion von alkoholischen Getränken (und ihres Konsums) ist gewiss mit ein Grund dafür, warum Wein, Bier und Schnaps in Deutschland als Kulturgut gelten. Der entspannende Genuss und die Lust am Rausch sind ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, davon zeugen nicht zuletzt unendlich viele Sauf- und Trink-Trink-Brüderlein-Trinklieder im deutschen Volksliederkanon, heute erweitert um gemütliche Schlager aus der kleinen Kneipe in unserer Straße über griechischen Wein bis hin zu Partyhits im Ballermann-Sound. „Trinken ist auch ein Sport.“

Ups, Ballerman? Das sollte man doch lieber nicht in einen Topf mit dem Genuss eines feinen Mosel-Rieslings oder eines wohlverdienten Weizenbieres zum Feierabend und beim guten Essen werfen. Und vielleicht auch zwei davon. Und danach noch einen Verdauungsschnaps. Dass Wein gut gegen Herzinfarkt sein soll, Bier die Nieren durchspült und Schnaps den Magen aufräumt, hält sich ja hartnäckig als Legitimation, auch wenn aktuelle Studien das so nicht bestätigen. Aber der gepflegte Alkoholkonsum gehört eben dazu, zum guten Leben, zur Vie en rose. Und der Ballermann-Suff? Der gehört auch dazu. Zumindest für den, der in seinem wohlverdienten Urlaub den Rausch und die Gemeinschaft sucht, die gemeinsames Saufen eben schafft.

Das gilt übrigens auch für den Rotwein am Sommerabend, gerne mit einem Herzensmenschen, oder einem, der es werden soll. Alkohol macht den Panzer des Alltages durchlässiger, macht Mut zum Reden über Dinge und Gefühle, die man sonst lieber verschweigt. In einer Gesellschaft, in der man sonst besser nicht so viel von sich preisgibt, liegt eben oft erst im Wein tatsächlich Wahrheit. So manche Freundschaft oder gar Liebe entstand mit dem Bordeaux-Glas in der Hand. Und auch so mancher One-Night-Stand, den man oder frau sich erst schönsaufen musste. Womit wir uns wieder dem Ballermann annähern und dem Recht auf Rausch, das wir in dieser Gesellschaft allen mündigen Menschen zugestehen, wenn es denn der Alkohol ist, der dafür sorgt. Und zunehmend auch Cannabis. Alle anderen Rauschmittel sind zumindest nicht als Kulturgut gelabelt.

Doch das Recht auf Rausch ist begrenzt, wer auf halb oder ganz offiziellen Empfängen zu tief ins Glas guckt und sich daneben benimmt, muss mit Konsequenzen rechnen. Da hat sich wohl jemand nicht im Griff, hat möglicherweise ein Problem mit Alkohol? Oder gar ohne? Schlecht, nicht nur auf Betriebsfeiern oder Synodenempfängen. Denn wer in den Verdacht gerät, alkoholkrank zu sein, gilt oft nicht als krank, sondern als charakterschwach. Die Stigmatisierung des Alkoholikers ist einer der Gründe, warum betroffene Menschen (und ihr Umfeld) über die Krankheit meist nicht sprechen, und die Gesellschaft zu wenig thematisiert, welche Gefahr von unserem geliebten Kulturgut ausgeht.

Camouflage im Bierzelt

Die andere Seite der Medaille: Wer auf Partys oder in geselliger Runde beim Essen ganz auf Alkohol verzichtet, muss sich rechtfertigen. Nur Orangensaft? Schwanger? Antibiotikum? Oder doch trockene Alkoholiker*in? Denn Trinkkultur will geteilt werden, sonst gehört man nicht recht dazu. Zum Beispiel im Bierzelt. Das gilt auch für die, die als Alphatiere auftreten, als politische Leader. Von so manchem bayerischen Spitzenpolitiker sagt man, dass im Bierkrug Kamillentee oder Wasser ist, wenn er redet. Das ist gewiss klug, denn wer weiß, was sonst im Bierzeltrausch so alles gesagt würde. Und eigentlich braucht es ja keine Rechtfertigung für das Nichttrinken. Aber warum dann die Camouflage? Ein Glas mit Wasser geht nicht? Oder gar eine Kanne Kamillentee am Rednerpult?

Nein, das geht wohl nicht. Bayern ist ein besonderer Ort, was das Bier angeht. Das gilt dort so manchem als flüssiges Brot, und wenn man von einer Biergartenkultur sprechen kann, dann gibt es die in Bayern. Und es gibt viele Brauereien, die diese Biergärten beliefern. Denn Kultur kann immer auch kommerzialisiert werden, und Kulturgüter sind oft auch Produkte.

Deshalb hier mal ein paar nüchterne Zahlen zur wirtschaftlichen Bedeutung von alkoholischen Getränken aus dem vergangenen Jahr, die der Deutsche Spirituosenverband kürzlich veröffentlicht hat. In Deutschland gibt es etwa 1 500 Brauereien mit knapp 30 000 Angestellten, die jährlich rund acht Milliarden Euro umsetzen, inklusive alkoholfreiem Bier. Wobei Letzteres eine geringe Rolle spielt. Rund 92 Liter Bier trinkt jeder Deutsche im Schnitt, 7,9 Liter davon sind alkoholfrei, also weniger als neun Prozent. In der Weinproduktion setzen 17 000 Beschäftigte in 11 000 Betrieben gut drei Milliarden Euro um. Knapp 3 000 Menschen leben von der Sektproduktion in 40 Betrieben mit insgesamt 1,73 Milliarden Euro Umsatz. Hochprozentiges wird in Deutschland in 52 Betrieben von gut 3 000 Mitarbeitern hergestellt, der Jahresumsatz liegt bei gut zwei Milliarden Euro.

Zusammengenommen sorgt die Produktion von alkoholischen Getränken bei gut 50 000 Menschen für den Lebensunterhalt, der Branchenumsatz liegt bei knapp 15 Milliarden Euro – nur in der Produktion. Wenn man den privaten Konsum jedes Deutschen und den in der Gastronomie hinzurechnet, kommt man laut dem Portal statista.com auf einen Umsatz von 46 Milliarden Euro, Tendenz steigend nach einem offensichtlich coronabedingten Minus in den Vorjahren. Ein gewichtiges Pfund also, wenn auch die volkswirtschaftlichen Kosten, die Alkohol in Deutschland anrichtet, nochmal rund zehn Milliarden Euro höher liegen. Damit sind die Behandlungskosten von durch Alkoholkonsum entstandenen Krankheiten, Schäden durch alkoholbedingte Unfälle am Arbeitsplatz oder im Straßenverkehr und andere negative Folgen des Massenprodukts Alkohol gemeint. 3,3 Milliarden Euro kommen zwar wieder durch die Alkoholsteuer in den Staatshaushalt. Aber es bleibt eine ordentliche Finanzlücke, die wir alle auf die eine oder andere Art bezahlen. Ohne Alkohol würden wir also eine Menge Geld sparen.

Aber wer will das? Die Hersteller gewiss nicht und deshalb lassen sie sich die Werbung für ihre Produkte einiges kosten. Knapp 600 Millionen Euro pro Jahr gehen in klassische Werbung im Print, TV und Radio. Kein Wunder also, dass die Werbebranche nicht an strengeren Regeln oder gar einem Verbot interessiert ist. Und an der Frage, wie Werbung wirkt, also ob sie Lust auf eine Marke oder Alkohol allgemein macht, daran scheiden sich die Geister. So oder so ist den Getränkeherstellern aber daran gelegen, ihre Produkte immer wieder in unser Bewusstsein (und auch ins Unterbewusstsein) zu bringen, möglichst verbunden mit Bildern von Spaß, Geselligkeit, Fitness und Erfolg.

Erfolgreicher Lobbyismus

Deshalb posieren selbst die Fußballstars von Bayern München artig im Trachtenlook mit einem Paulaner-Bier in der Hand. Auch andere Brauereien werben in Fußballstadien ebenso wie auf Trikots, selbst bei Jugendmannschaften, da natürlich nur für Malzbier. Sie geben großzügig Geld für Schützenfeste und Festivals, Sektkellereien wie Henkell suchen das kulturell vermeintlich edlere Event und sponsern zum Beispiel das Rheingau Musik Festival. Nochmal 600 Millionen Euro fließen ins Sponsoring dieser Art. Zudem leistet sich die Branche einen erfolgreichen Lobbyismus, der bislang verhinderte, dass sich an den recht laxen Gesetzen im Umgang mit Alkohol und den im europäischen Vergleich sehr niedrigen Steuersätzen auf alkoholische Getränke nichts ändert. Schließlich gilt es ja, ein Kulturgut zu schützen.

Diese Verquickung von Trinkkultur, Wirtschaft und Alkohol scheint kaum auflösbar. Allerdings gibt es Gegentrends. Der Bundesdrogenbeauftragte will einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Alkohol und kann sich dabei zumindest in Teilen auf den Koalitionsvertrag berufen. Bücher über das Leben ohne Alkohol von Nathalie Stüben, Daniel Schreiber und Mimi Fiedler  werden zu Bestsellern. Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen hierzulande gewinnt die „Sober“-Bewegung aus den USA immer mehr an Bedeutung, nüchtern zu leben gilt bei ihnen als attraktiv. In Berlin und Hamburg öffnen die ersten Getränkeläden, die keine alkoholischen Produkte anbieten, sondern nur alkoholfreie Alternativen zu Schnaps, Bier und Wein. Letztere schmecken zwar noch eher nach Fruchtsaft als nach Wein. Aber erinnern Sie sich noch an die ersten alkoholfreien Biere? Kein Vergleich zu dem Angebot heute. Muss man ja nicht immer trinken. Aber vielleicht immer öfter? 

 

Literatur:

Helmut K. Seitz/Ingrid Thoms-Hoffmann: Die berauschte Gesellschaft. Alkohol – geliebt, verharmlost, tödlich. Kösel-Verlag, München 2018, 180 Seiten, Euro 19,–.

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Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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