Freie Liebe

Jaimie Branchs letztes Album

Jaimie Branch ist am 22. August 2022 zu Hause in Brooklyn gestorben. Sie war 39 Jahre alt. Die Todesursache blieb ungenannt. Und auch die, die sie schätzten, schwiegen. Das zeugt von ihrem Respekt für diese wunderbare Trompeterin und Komponistin zwischen Hardcore-Verve und Jazz, deren Musik weiter begeistert.

Wegen der Neigung, hinterher stets schlauer zu sein, verleitet ihr letztes Album indes zu assoziativer Irritation. Denn feierliche Kirchenorgel, fette Kesselpauken und melancholischer Trompetenruf rücken den Opener „aurora rising“ arg dicht an Uhlands „guten Kameraden“. Da ist man auch von sich selbst überrascht, bis die Orgel nach dronigem Verzögern einen sambanahen Tanzbeat andeutet. Bass, Drums und Cello nehmen ihn in „borealis dancing“ kräftig auf, und flugs ist die Erinnerung an sie und das herrlich eingespielte Quartett „Fly or Die“ mit Lester St. Louis (Cello), Jason Ajemian (Bass) und Chad Taylor (Drums) unverstellt wieder da (vergleiche zz 8/2021 zu ihrem Live-Doppelalbum). Mit „burning grey“ folgt das erste Schwergewicht der grandiosen Suite. Treibend, tanzbar, engagée – diese Kameradin war fröhliche Anarchistin und singt: „The future lives inside us / don’t forget to fight“, befeuert von wildem Chorgeheule.

„The mountain“ ist ein erster Break: Ajemian streicht und tupft den Bass und singt Lead, Jaimie die Harmonien zum Meat-Puppets-Countrysong „Comin‘ Down“, den jene ungleich holpriger auf „Too High To Die“ etwa zu jener Zeit herausbrachten, als die MP-Kirkwood-Brüder auf ihren Gitarren Kurt Cobain bei dem Nirvana-Unplugged-Album unterstützten. Danach wieder fetzige Trompete und Tanzwucht in „baba louie“, das zu Marimba, Percussionmagie, Posaune und Dixie-March-Second-Lining in eine experimentelle Psychedelic-Reise kippt, die Jaimie im Atemholen mit Taylors Drums voodoo artig durchsingt – oder immer wieder zur Trompete springt. Auch Blues darf man assoziieren. Es hallt, wabert, wird experience.

Ein weiterer Break: Ultra-groovy folgt „bolinko brass“. Branch und ihre Mannen, die den finalen Mix der Aufnahmen besorgten, servieren vitalste Überwältigung als Trostkontrast zum anthropozänen Klimatod. Und das Bild der „guten Kameradin“ lässt einen kaum mehr los, nicht zuletzt in ernster Kippfigur: „Zu dir als einem Kameraden hätte ich mein Leben lang zurückkehren können“, sagt in Marieluise Fleißers Roman Eine Zierde für den Verein (1931/1972) deren Heldin Frieda zu Gustl und meint damit die Trennung. Frieda will freie Liebe, Gustl setzt aufs Ehekorsett: „So wie jeder von uns es haben muß, taugen wir nicht für einander“, folgert Frieda. Von Jaimie Branch hingegen trennen wir uns nie. Wagemutig, sinnenfreudig und unerschrocken überlebt die Spiritualität ihrer herzenswarmen Heiterkeit mutmaßlich auch uns. Letzte Töne und Worte, die tief berühren. Und bleiben.

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