Auf leichten Sohlen

Religion in der Spätmoderne

Wohin geht die Religion, wenn sie aus der Kirche auswandert? Auf diese Frage wird gegenwärtig so vielfältig wie kontrovers geantwortet. Die Religion verschwindet auf Nimmerwiedersehen aus der modernen Gesellschaft – so sagt es die traditionelle Säkularisierungsthese. Die Religion sucht sich eine neue Heimat in verbindlicher Tradition und Gemeinschaft – so sagen es diejenigen, die ein freikirchliches Modell für die Zukunft von Kirche propagieren. Die Religion verschwindet im Nebel privater Lebensgestaltung – so sagt es die Individualisierungsthese.

Religion wartet darauf, von uns an unerwarteten Orten entdeckt zu werden – so sagt es Kristian Fechtner, Professor für Praktische Theologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in seinem Buch Mild religiös. Er selbst verortet sich dabei in einer „in religiösen Dingen weitherzigen Praktischen Theologie“. Diese Weitherzigkeit versetzt den Autor in Bewegung. Er diktiert nicht, was Religion ist oder sein soll, sondern er begibt sich auf eine Spurensuche, ein Flanieren in einem erst zu entdeckenden Land des Religiösen.

Dabei leitet den Autor durchaus ein Kompass, dessen Koordinaten er so formuliert: „Die Biografie der Einzelnen bildet unter spätmodernen Bedingungen denjenigen Erfahrungs- und Deutungshorizont, innerhalb dessen sich Religion zeigt, artikuliert und auch plausibilisiert.“

Das klingt nun zunächst einmal sehr abstrakt und auch nicht neu. Und so lässt der Flaneur seinen Kompass, um den er gleichwohl immer weiß, in der Tasche und macht sich auf den Weg. In mehreren Touren durchstreift er sein Gelände. Er begibt sich auf „Spurensuche im Feld des unauffälligen Christentums“. Der Flaneur kommt dabei immer wieder ins nachdenkliche Stolpern. Ist es – um nur ein Beispiel zu nennen – ein Gebet, wenn jemand dem Freund, der soeben von einer Krebserkrankung erfahren hat, in einer WhatsApp-Nachricht nach einigem Zögern doch den Schlusssatz schreibt: „Der Himmel möge ein Auge auf Dich haben.“? Wir wissen, dass am Kinderbett dessen, der dies schreibt, die Oma immer den Satz sprach: „Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein.“ Ist die WhatsApp-Nachricht ein lebensgeschichtlicher Nachhall dieses Gebetes am Kinderbett?

Der Flaneur gibt darauf nicht sofort eine Antwort, sondern schreitet sinnend weiter. Sein Weg führt ihn dabei ins Reich der Begriffe: Wie verhält sich der traditionelle Begriff der Frömmigkeit zur heutigen Rede von Spiritualität? Und angesichts der Vielfalt des Betens – an dieser Frömmigkeitspraxis ist unser Flaneur besonders interessiert – merkt er, dass diese beiden Begriffe nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind, sondern ineinander überfließen.

Ab und zu stößt unser Flaneur mit seinen Beinen an. Er merkt, dass im Reich der postmodernen Religiosität nicht allein die innere Einstellung, das „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ (um es jetzt mal ganz traditionell schleiermacherisch zu sagen) am Werk ist, sondern dass Religion es immer mit Dingen, Orten und Zeiten zu tun hat: Engelfiguren, Kerzen, Unfallkreuze, Weihnachtsfrömmigkeit, und (österliches?) Naturerleben, Pilgern, Fasten, Yoga … All das nimmt unser Flaneur in Augenschein und denkt sich: Religion kommt nicht nur aus den Menschen selbst, sondern die Menschen ihrerseits werden von außen her religiös gestimmt.

Am Ende sinniert unser Flaneur, was das denn alles (noch) mit der verfassten Kirche zu tun haben möge. Und er stellt fest: sehr viel. Mögen die Menschen auch in Distanz zur Kirche leben: Traditionselemente, Ortserfahrungen, Zeitstrukturen – in all dem überschneidt sich verfasstes Kirchentum einschließlich der damit verbundenen Theologien mit der individuell gelebten postmodernen Frömmigkeit. Was dies für die Zukunft der Kirche und der Kirchenmitgliedschaft bedeutet – diese Frage überlässt der Flaneur uns, die wir ihn als Leserinnen und Leser auf seinem Weg begleitet haben.

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