Großer Gewinn

Theologie und Antisemitismus

Im Jahr 2021 verzeichneten die Sicherheitsbehörden in Deutschland die meisten antisemitischen Straftaten seit Beginn der Erfassung in der Polizeilichen Kriminalstatistik. Besonders sprunghaft stiegen die Straftaten während der Coronapandemie an, was wahrscheinlich auf die Verbreitung von antisemitischen Verschwörungserzählungen zurückzuführen ist. Vor diesem Hintergrund hat das American Jewish Comittee (AJC) das Institut für Demoskopie Allensbach (IFD) beauftragt, mögliche antisemitische Einstellungen der deutschen Bevölkerung zu ermitteln. Die Zahlen sind äußerst besorgniserregend: Beispielsweise sind 23 Prozent der Gesamtbevölkerung der Überzeugung, dass Juden und Jüdinnen zu viel Macht in Wirtschaft und Finanzwesen hätten. Und – vergleichbar mit dem Ergebnis einer Forsa-Umfrage von 1994 – ungefähr die Hälfte der deutschen Bevölkerung ist der Meinung, dass eine NS-Erinnerungskultur nicht notwendig sei und ein „Schlussstrich“ unter die NS-Vergangenheit gezogen werden müsse.

Die IFD-Umfrage stellt folglich heraus, dass Antisemitismus in Deutschland nicht allein ein Problem der politischen Ränder, sondern tief in der Mitte der Gesellschaft verwachsen ist. Demzufolge darf beispielsweise der Anschlag in Halle im Herbst 2019 nicht als antisemitische Einzeltat gewertet werden. Gerade in den Sozialen Medien kursieren immer wieder antisemitische Verschwörungserzählungen und verbreiten sich ungehindert weiter. Auch der analoge Kulturbetrieb ist nicht vor antisemitischen Entgleisungen gefeit. Der Skandal der Documenta 15 in Kassel rund um die antisemitische Bildsprache der Kuratoren von Ruangrupa im vergangenen Jahr ist dafür beispielgebend.

Dass die christliche Theologie nicht nur für eine antijüdische Haltung, sondern auch für die Hasskriminalität mitverantwortlich ist und somit ein Zusammenhang zwischen Theologie und Antisemitismus besteht, ist die Grundannahme der neuesten Monografie von Andreas Pangritz Die Schattenseite des Christentums. Theologie und Antisemitismus. Der emeritierte Professor für Systematische Theologie hat es sich dabei zum Ziel gemacht, den verschlungenen Pfaden nachzuspüren, die beispielsweise von Martin Luther zu Adolf Hitler geführt haben, und geht dabei dieser „Lehre der Verachtung“ (Jules Isaac) nach, die sich wie ein roter Faden auch durch die frühe Geschichte des Christentums spinnt.

Zunächst erfolgt eine terminologische Untersuchung zum Begriff Antisemitismus, in dem die Kontinuität vom christlichen Antijudaismus zum nationalen Antisemitismus betont wird. Demzufolge arbeitet Pangritz im weiteren Verlauf der Monografie mit dem Begriff Antisemitismus, da dieser weit verstanden insgesamt die „Feindschaft, [den] Hass und [die] Verachtung aller Art gegen Juden und das Judentum“ kennzeichnet. Dabei sei Pangritz zufolge der christliche Antisemitismus ein integraler Bestandteil der europäischen Kultur, der sich als Kon­stante innerhalb der christlichen Ideologie erweist.

Die folgenden Kapitel widmet Pangritz einer differenzierten Erörterung des Antisemitismus in der Alten Kirche, dem Antisemitismus Martin Luthers, dem Antijudaismus Friedrich Schleiermachers – an dieser Stelle scheint Pangritz doch wieder zu differenzieren – und dem Antisemitismus des Nationalprotestantismus, wie ihn beispielsweise Heinrich von Treitschke oder Adolf Stoecker vertraten. Der Höhepunkt der Lehre der Verachtung in der Geschichte des Christentums wird freilich in der Zeit des Nationalsozialismus mit Gründung der Deutschen Christen und ihrer völkischen Theologie erreicht.

Auch dieses Kapitel darf in der Monografie nicht fehlen. Die sich in der Chronologie des Buches daran anschließenden oftmals ambivalenten Einstellungen gegenüber dem Judentum seitens der Bekennenden Kirche beleuchtet der Autor leider nur äußerst kurz und oftmals fällt die Hinzunahme der Primärquellen knapp aus. Insgesamt aber sind die Darstellungen von Pangritz äußerst prägnant.

Die Übersichtlichkeit des Buches offenbart aber zugleich seine Schwächen. So fehlt leider eine Diskussion zum Antijudaismus im Neuen Testament oder in den frühchristlichen Schriften. Etwa der Barnabasbrief (um 100 n. Chr.) und der Diognetbrief (zwischen 120 n. Chr. und 210 n. Chr.) – unter anderen Grundlage des christlichen Supersessionismus – bleiben leider unerwähnt, ähnlich wie zum Beispiel die Kirchenväter Tertullian und Cyprian. Ferner könnte die Neue Paulusperspektive tiefergehende Erwähnung finden, die aus exegetischer Perspektive die luthersche Gegenüberstellung von Werkgerechtigkeit (AT) und Rechtfertigung allein aus Glauben (NT) seit den 1960er-Jahren aufbricht.

Dafür erhalten alle Lesenden einen Einblick in die Geschichte des deutschen Antisemitismus, wie beispielsweise in die mittelalterlichen Pogrome (wie sie etwa 1349 in Köln stattgefunden haben oder die Vertreibung aller Jüdinnen und Juden aus eben dieser Stadt im Jahr 1424). Des Weiteren werden einige Verschwörungsmythen (wie die Ritualmordlegende, die sich heutzutage in der Verschwörungserzählung von Q-Anon wiederfindet) oder das Gesetz zur so genannten Reinheit des Blutes aus dem Jahr 1449 im spanischen Toledo erläutert. Die christliche Mitverantwortung für den Antisemitismus als eine wesentliche Voraussetzung für den nationalsozialistischen Genozid sieht Pangritz aber vor allem in der Lehre Martin Luthers begründet. Dass allerdings gerade Martin Luther den vormodernen Antisemitismus nicht nur voraussetzte, sondern ihn aufnahm und somit auch zu seiner Verbreitung beitrug, hat bereits Thomas Kaufmann in Luthers Juden herausgestellt, aber ausgerechnet dieses Buch findet sich leider nicht im Literaturverzeichnis. Ebenfalls leider auch nicht die im vergangenen Jahr erschienene Monografie von Andreas Benk Christentum, Antisemitismus und Schoah. Warum der christliche Glaube sich ändern muss, die aus einer katholischen Perspektive zu einem ähnlichen Schluss kommt wie Pangritz: Die Theologie muss einen Beitrag zur notwendigen Selbstkritik leisten, indem sie vor allem ihren antisemitischen Wurzeln nachspürt, um sich zu erneuern und zu verändern.

„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“, so der Ausschwitzüberlebende Primo Levi (1919–1987) – das Buch von Andreas Pangritz ist ein großer Gewinn, um mit einem besseren Verständnis der Vergangenheit eine verständnisvollere Zukunft zu gestalten. Dass dies keine flüchtige Momentaufnahme bleibt, ist unser aller Aufgabe.

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Foto: privat

Annika Krahn

Dr. Annika Krahn ist Lektorin für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Köln.


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