Gibt es böse Menschen?

Das Böse aus psychologischer Sicht. Und eine Hilfe des Christentums
Lovis Corinth (1858–1925): „Kain“, 1917. Öl auf Leinwand, Museum Kunstpalast, Düsseldorf.
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Lovis Corinth (1858–1925): „Kain“, 1917. Öl auf Leinwand, Museum Kunstpalast, Düsseldorf.

Die Psychologie hat in der Regel ein recht positives Bild vom Menschen. Sie schaut auf seine Potenziale und Wachstumsmöglichkeiten. Von Natur aus wird der Mensch als gut betrachtet und dazu ausgestattet, sein Leben zu bewältigen. Doch diese Ansätze einer positiven Psychologie bedürfen der Korrektur und  Ergänzungen – auch der theologischen. Worin sie liegen  könnten, beschreibt der Psychologe, Psychotherapeut und Religionspsychologe Michael Utsch.
 

Immer wieder gab es Versuche, das Verstörende menschlicher Aggression und Destruktivität psychologisch zu verstehen und zu erklären. Könnte unser Miteinander nicht friedlicher und wohlwollender verlaufen? Woher kommen Neid, Eifersucht, Missgunst und Streitsucht? Ist es naiv zu erwarten, auf einen wohlwollenden Blick ein freundliches Lächeln zurückzubekommen und keine feindselig-verschlossene Grimasse? Was weiß die Psychologie über die Wurzeln des Bösen, und wie begegnet man destruktiven Anteilen?

Wir Menschen fühlen uns wohler, wenn wir von einer gerechten Welt ausgehen, obwohl das unserer Erfahrung und unserem Wissen widerspricht. Ein tief verwurzelter „Gerechte-Welt-Glaube“ lässt sich kulturübergreifend feststellen und gründet auf der generalisierten Erwartung, dass Menschen im Leben dasjenige bekommen, was sie verdienen. Als natürliches Grundbedürfnis wird davon ausgegangen, dass Menschen ihre Welt als geordnet und vorhersagbar erleben wollen. Dieses Streben ist Bestandteil eines übergeordneten Bedürfnisses nach Kontrolle. Ungerecht erscheinendes Leiden anderer bedroht den Gerechte-Welt-Glauben. Dadurch werden Versuche unternommen, den Gerechte-Welt-Glauben wiederherzustellen. Diese Wiederherstellung kann auf zwei unterschiedlichen Wegen geschehen: Einerseits besteht die Möglichkeit, das Leiden des Opfers zu verringern – hauptsächlich durch prosoziales Verhalten. Die andere Möglichkeit besteht darin, das Opfer abzuwerten, zum Beispiel durch Zuschreibung von Schuld.

Der Gerechte-Welt-Glaube beruht auf frühen Erfahrungen in der Sozialisation. Das Kind lernt, dass „gutes“ Verhalten belohnt und „böses“ Verhalten bestraft wird. Das hat zur Folge, dass das Kind vom Lustprinzip zum Realitätsprinzip übergeht. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, um Belohnungsaufschübe zur Erreichung eines Ziels einzuplanen. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs stellte Sigmund Freud Eros und Thanatos, den Lebens- und den Todestrieb, als verbindende beziehungsweise aggressiv-zerstörerische Urtriebe einander gegenüber. Der für jede Gemeinschaftsbildung erforderliche Triebverzicht führe zu einem Aggressionsstau, der sich schließlich in selbst- oder fremd-zerstörerischen Aktionen entlade. Besonders der Krieg lasse „den Urmenschen in uns“ wieder zum Vorschein kommen. Aus evolutionsbiologischer Sicht vertrat Konrad Lorenz die ähnliche Auffassung, dass die negativen Auswirkungen der menschlichen Aggressionstriebe darauf beruhen, dass durch die Selektion dem Menschen in grauer Vorzeit ein hohes Maß an Aggressivität zugefallen sei, das in der heutigen Gesellschaftsordnung nicht mehr angemessen abgebaut werden könne.

Biologische Erklärungen

Biologische Erklärungen des Bösen liefert die gegenwärtige Neurobiologie. Aus ihrer Sicht liegen destruktiven Handlungsbereitschaften bei Gewalttätern angeborene oder erworbene neurobiologische Defekte zugrunde, wie etwa niedrige Serotonin-Spiegel in Arealen des Frontalhirns oder die mangelnde Hemmung aggressiver Impulse aus dem limbischen System. Der These einer angeborenen Destruktivität widerspricht jedoch die aktuelle Emotionsforschung. Studien aus diesem Bereich haben beim Menschen ein biologisch gesteuertes, hochdifferenziertes System sozialen Verstehens festgestellt. Es umfasst zunächst die von Geburt an ausgeprägte Tendenz der Nachahmung von Artgenossen sowie die feinfühlige Affektabstimmung in der Mutter-Kind-Beziehung. Auf dieser Basis entwickelt sich wie bei keiner anderen Gattung die Fähigkeit des Mit- und Einfühlens. Ein eigens dafür zuständiges neuronales System wird unter dem Namen der „Spiegelneuronen“ intensiv diskutiert. Dieses junge Konzept unterstützt Hypothesen des sozialen Lernens, wonach Umwelteinflüsse verantwortlich für aggressives und de­struktives Verhalten sind. Auch aus sozialpsychologischer Perspektive hat Philip Zimbardo die Macht der Umstände und Sozialisationsbedingungen als Ursache destruktiven Verhaltens beschrieben. In dem berühmt gewordenen Stanford-Gefängnis-Experiment wurden Studenten in die Rolle des Wärters beziehungsweise der Gefängnisinsassen eingewiesen. Durch autoritäre Anordnungen des Versuchsleiters wurden die „Wärter“ zunehmend brutaler und aggressiver, so dass das Experiment abgebrochen werden musste.

Verletztes Selbstwertgefühl

Warum brechen Menschen allgemein verbindliche Normen? Die meisten Verbrechen lassen sich nach Meinung des amerikanischen Psychologen Roy Baumeister mit vier Gründen erklären. Wenn wie bei einem Diebstahl Böses als Mittel zum Zweck dient, wenn man sich im Besitz der Wahrheit wähnt und einer Ideologie oder einem fundamentalistischen Glauben folgt, der jede andere Meinung als falsch und böse abwertet, oder wenn verletztes Selbstwertgefühl in Wut und Hass umschlägt. Bei wenigen Menschen kann solches Verhalten zu einer Gewohnheit des Sadismus führen.

Psychologische Gründe für das Böse gibt es also nach Baumeister mehr als genug. Wie kommt es dann, dass Menschen sich die meiste Zeit halbwegs moralisch verhalten? Baumeister geht davon aus, dass Menschen über die Fähigkeit zur Selbstkontrolle verfügen. Sie hindern sich selbst daran, unmoralischen Impulsen und Wünschen nachzugeben. Sie hören auf die Stimme ihres Gewissens und folgen dem guten Gefühl, sich besser moralisch zu verhalten. Schuldgefühle übernehmen hier eine wichtige Funktion. Sie können nach Baumeister der Gesellschaft nützen, auch wenn es nicht angenehm für den Einzelnen ist, sich schuldig zu fühlen. Menschen ohne Schuldgefühle begehen jedoch eher Gewalttaten. Ein anderer Schutz vor dem Bösen ist das Mitgefühl. Moralische Gefühle halten Menschen von Untaten ab, nicht jedoch moralische Überzeugungen.

Die Chance der Wahl

Aus Sicht anthropologischer Psychiatrie begründet Thomas Fuchs die Möglichkeit menschlicher Destruktivität mit der menschlichen Wahlfreiheit. Durch das Bewusstsein seiner selbst habe der Mensch die Instinktgebundenheit verloren, die die tierische Existenz kennzeichnet. Damit öffne sich der Raum der Phantasie mit ihren potenziell unbegrenzten, maßlosen Wünschen, verbunden mit einem Kampf um Anerkennung durch die anderen, eine grundlegende Labilität des Selbstwerts und das narzisstische Streben nach Erfolg, Ehre und Macht, um so den chronischen Selbstwertmangel und die empfundene eigene Nichtigkeit zu kompensieren.

Böses Verhalten ist auch geschlechtsspezifisch. Der stimulierende Einfluss von Testosteron auf die Gewaltbereitschaft bei Männern ist seit längerem bekannt. Gemütsarmes, rücksichtsloses und kaltblütiges Gewaltverhalten findet sich bei Männern dreimal häufiger als bei Frauen. Über vier Fünftel aller körperlichen Gewalttaten werden von Männern begangen, während Frauen indirekte, verdeckte Aggressionen in Form von Intrigen und Denunziationen bevorzugen.

Sünder oder Gestalter?

Gibt es böse Menschen? Der Streit über die Sündhaftigkeit des Menschen hat den Graben zwischen den beiden verfeindeten Geschwistern Theologie und Psychologie vertieft. Überspitzt formuliert: Ein zentraler Streitpunkt kreist um die Einschätzung und den Umgang mit dem Bösen, mit Fehlern und der Schuld. In der Theologie schwingt sofort die Erbsündenlehre mit. Dort wird der Mensch als von Grunde auf böse und erlösungsbedürftig angesehen. Wenn irgendetwas Schlechtes passiert, ist der Mensch selbst schuld. Moralisches Verhalten belohnt Gott, Unmoral wird bestraft. Dagegen vertritt die Psychologie in der Regel ein gänzlich anderes Bild vom Menschen. Sie schaut auf seine Potenziale und die Wachstumsmöglichkeiten, und es werden die Fähigkeiten zur Selbstentfaltung betont. Von Natur aus wird der Mensch als gut betrachtet und dazu ausgestattet, sein Leben zu bewältigen. Allerdings bedürfen die modischen Ansätze einer Positiven Psychologie wegen ihres einseitigen Fortschrittsoptimismus, der Ich-Zentriertheit und dem Verleugnen der menschlichen Destruktivität der Korrektur und Ergänzungen – auch der theologischen.

Anders als die Theologie hat die Psychologie keinen Begriff von „Sünde“ als ein Fehlverhalten, das in die Gottesferne führt. Obwohl die Gottesnähe als eine kindliche Wunschvorstellung abgelehnt wird, wird moralisches Verhalten psychologisch wertvoll eingeschätzt, weil dadurch der Gemeinsinn und Zusammenhalt gestärkt werden. Die Moralentwicklung zählt zu einem konstitutiven Bestandteil der Identitätsbildung. Dabei achtet die Psychologie penibel darauf, die Entwicklungsziele und Wertvorstellungen weltanschaulich möglichst neutral und offen zu halten, um ungelöste Streitigkeiten über das Menschenbild nicht wieder anzufachen.

An Fehlhaltungen arbeiten

Die Frage nach den Wurzeln des Bösen lässt sich psychologisch nicht beantworten. Allerdings gibt es etliche empirische Studien, die das theologische Grundwissen von den Todsünden psychologisch belegen. „Sünde“ wird in diesen Studien nicht moralisch bewertet, sondern kognitiv als Irrtum und falsches Denken beschrieben und entspricht damit einer Wurzelsünde. Das Konzept der Wurzelsünde entstammt der mittelalterlichen Tugendlehre und besagt, dass jeder Mensch durch eine bestimmte Fehlhaltung, seine „Wurzelsünde“, charakterisiert werden kann. Jeder von uns besitzt einen typischen „Fallstrick“, über den er oder sie immer wieder stolpert, wenn er sich nicht wappnet und vorbeugende Maßnahmen ergreift. Der Vorteil einer rein psychologischen Sicht besteht darin, dass man an Fehlhaltungen arbeiten kann. Tugenden sind in Zeiten existenzieller Unsicherheit stark nachgefragt. In den aktuellen Psychotherapieausbildungen sind Ausbildungseinheiten über „religiöse“ Tugenden wie Mitgefühl, Verzeihen oder Dankbarkeit stark nachgefragt. Pragmatisch umgesetzt und erfahrungsgesättigt, liefert die Charakterlehre des Enneagramms hilfreiche Anleitungen zur Umwandlung destruktiver Haltungen. Sie geht von dem Grundgedanken aus, dass als Gegenmittel für jede Wurzelsünde eine heilsame Tugend existiert: Stolz bekämpft man mit Demut, Neid mit Liebe, Zorn mit Sanftmut, Faulheit oder Traurigkeit mit Heiterkeit, Geiz mit Armut, Völlerei mit Mäßigung, Gier mit Enthaltsamkeit.

Gemeinsam ist den selbstschädigenden Wurzelsünden die Ichbezogenheit. Ihnen gegenüber steht bei den heilsamen Tugenden wie Liebe, Demut oder Besonnenheit der Gemeinschaftsbezug im Mittelpunkt. Nicht das Ego, sondern das Du meines Gegenübers interessiert.

Menschen hoffen darauf, ein langes, gesundes, erfolgreiches und glückliches Leben führen zu können. Das soll zugleich ein gutes, „richtiges“ Lebens sein, das sich an eigenen Wertvorstellungen orientiert. Destruktive Kräfte, die von außen und innen das Wohlbefinden beeinträchtigen, können durch das Erlernen positiver Haltungen eingedämmt werden. Hier kann die Psychologie noch einiges aus dem therapeutischen Erfahrungsschatz des Christentums lernen. 

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